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Jonathan Littells Roman über einen homosexuellen, kulturbeflissenen Nazi psychologisiert den Massenmord. von bernhard schmid

Die »Apokalypse des Jonathan« nannte Le Figaro in Anspielung auf das letzte Kapitel der Bibel den Roman von Jonathan Littell, dem die Zeitung im Sommer eine freundliche Besprechung widmete. Damals deutete sich bereits an, dass das 900 Seiten dicke Buch das Zeug zum literarischen Ereignis haben würde.

Was dann passierte, konnte man sich freilich noch nicht ausmalen. Der Ziegelstein wurde den Buchhändlern förmlich aus den Händen gerissen. Die Buchkritik schien wochenlang nur noch einen Roman zu kennen. »Les Bienveillantes«, so lautet der Titel des Werks, das der 39jährige Autor innerhalb von fünf Jahren niedergeschrieben hat, erhielt im November den Prix Goncourt, den wichtigsten französischen Literaturpreis. Daneben erhielt es auch den Preis, den die Academié française einmal jährlich für einen Roman verleiht. Über 300 000 Exemplare waren binnen eines Vierteljahres verkauft.

Viele Käufer sollen das Buch allerdings auch Monate später noch ungelesen im Regal stehen gelassen haben. Der Psychoanalytiker und Schriftsteller Philippe Grimbert äußerte sich dazu im Wochenmagazin Le Point: »Indem man dieses Buch ›besitzt‹, löst man eine Spannung auf, kauft man sich von etwas frei. Man entrichtet seinen Obulus an das Leiden der Menschheit.« Fakt ist jedenfalls, dass viele Käufer und Leser sich vom Erwerb dieses Opus vor allem eines versprachen, nämlich die mehr oder minder ultimative Antwort auf die Frage nach der Motivation »des Bösen«. Durchgespielt wird das am denkbar schwärzesten Objekt: dem, angeblich autobiografischen, Bericht eines SS-Mörders.

»Les Bienveillantes« bedeutet wörtlich »Die Gutmütigen«. Im Französischen bezeichnet der Begriff aber auch die Erinnyen, die Rachegöttinnen des alt­griechischen Erzählers Äschylos.

Tatsächlich geht es um den mehr als unwahrscheinlichen Fall eines SS-Manns. Nicht, dass es keine Intellektuellen und Akademiker in den oberen Rängen der SS gegeben hätte. Aber die fiktive Figur Maximilian Aue ist nicht von deutsch-völkischer Ideologie durchdrungen, sondern von französischer Kultur, von Latein und Altgriechisch angetan. Er spricht auf Griechisch zu seinen Opfern an der russischen Front, hat »L’Education sentimentale« von Flaubert in seiner Tasche. Zwischen zwei Massakern geht er in den Louvre, um ein Bild von Philippe de Champaigne aus dem 17. Jahrhundert zu betrachten. Dies sei absolut unrealistisch, moniert der auf die Shoah spezialisierte Historiker Georges Bensoussan im Dezemberheft der jüdischen Monats­zeitschrift Tribune juive, der Anteil der deutsch-völkischen Ideologie verschwinde völlig.

Jonathan Littell lässt seinen negativen Romanhelden in Frankreich – im Elsass – aufwachsen. Der Vater verlässt seine Familie 1921, und die Mutter heiratet bald zum zweiten Mal, und zwar den Franzosen Moreau. Der Junge träumt von den Elite­hochschulen der Pariser Rue d’Ulm und bewundert die Pariser Intellektuellenszene, liest Stendhal und Maurice Blanchot. Zum Studieren geht er dann aber nach Deutschland, legt seinen Doktor in Jura ab, später wird er Hauptscharführer bei der SS.

Aue ist überall dabei, an allen denk­baren Schauplätzen. Er nimmt an Massakern hinter der Front in der Ukraine ebenso wie an der Schlacht von Stalingrad – die er wie durch ein Wunder überlebt, nachdem eine Kugel seinen Schädel durchschlagen hat – teil, an der Planung der »Endlösung der Judenfrage« und einem technischen Besuch in Auschwitz, und er ist im Führerbunker anwesend. Während seiner Rekonvalesenz infolge der in Stalingrad erlittenen Verletzung durchquert er ganz Frankreich, tritt persönlich mit führenden Ideologen der Kollaboration wie dem Dichter Robert Brasillach und dem Schriftsteller Lucien Rebatet zusammen.

Und gleichzeitig ist Aue eine von psychischen Problemen getriebene Persönlichkeit. Er hasst seine Mutter, und man erfährt über ihn, dass er bereits im Kindesalter gegen ihre stillende Brust allergisch gewesen sei. Er hat eine inzestuöse Beziehung mit seiner Schwester Una, inzwischen verheiratet mit dem Junker Berndt von Üxküll, und man erahnt, mehr als dass man es ausdrücklich erfährt, dass zwei Kinder, die Zwillinge Tristan und Orlando, aus diesem Inzest hervorgegangen sind.

Im Laufe des Romans ermordet Aue seine Mutter und seinen Stiefvater, am 28. April 1943 in Antibes an der Côte d’Azur. Deshalb wird er von den beiden Kommissaren Weser und Clemens gesucht, die ihn quer durch das in Schutt und Asche liegende Europa jagen. In den Trümmern von Berlin in den letzten Kriegstagen gelingt es ihnen beinahe, Aue mit vorgehaltener Waffe zu verhaften. Aber er entkommt, nachdem er kurz zuvor seinen besten Freund ermordet hat: Thomas, der ihm mehrfach das Leben gerettet hat. Am Ende beschließt Aue sein Leben als Fabrikant von Spitzenunterwäsche in Nordfrankreich, wo er 60 Jahre nach Kriegsende seine Geschichte zu erzählen be­ginnt. Alles in allem kein sehr realistischer Ablauf.

Maximilian Aue ist homosexuell, was er lange Zeit verdrängt hat. Er hat zwar mehrfach schwule Beziehungen, »aber ich habe keinen von den Typen geliebt«. Seinem besten Freund Thomas aber hat er nichts von seinen homosexuellen Neigungen erzählt. Deshalb ist er eine, im übertragenen wie im wörtlichen Sinne, getriebene Figur. Mutter­bindung, Komplexe, Inzest, Homosexualität: Alles kommt vor. Der SS-Mann ist also ein individueller psychischer Schicksalsfall – und entspricht damit weitaus eher der Ausnahme als der Regel, was die wichtigsten Nazitäter betrifft.

Die Massaker, an denen Aue beteiligt ist, werden detailliert geschildert. Der Erzähler wirkt dabei kalt und distanziert. Aber eine gewisse Ästhetik des Grauens schleicht sich ein, wenn platzende Schädel geschildert wer­den. Aue selbst ist freilich eher angewidert, er watet durch Blut, Schlamm und Gehirnmasse – und das über Seiten hinweg. Ferner wird er von Erbrechen, Durchfall und Bauch­krämpfen geplagt.

Was aber brachte Jonathan Littell dazu, sich über das Innenleben eines NS-Massenmörders zu beugen? Es war der Wille, die Mörder zu begreifen. Denn »die Henker reden kaum, und wenn, dann sprechen sie die Sprache des Staates«, wie er im Interview mit Le Monde Georges Bataille zitiert. Littells Familie ist polnisch-jüdischer Herkunft, seine unmittelbaren Vorfahren haben sich aber bereits im 19. Jahrhundert in den USA niedergelassen. Littell wurde in New York geboren und kam im Alter von drei Jahren nach Frankreich, weshalb er auch so perfekt Französisch spricht, dass er seinen Roman in dieser Spra­che verfasst hat – eine Tatsache, die übrigens die besondere Bewunderung der Kritik hervorruft.

Stärker noch als die Shoah, so Littell in Interviews, habe ihn aber als Kind der Vietnam-Krieg geprägt – und die Angst, später einberufen und als Soldat dorthin geschickt zu werden. Als Erwachsener hat der Autor, der mittlerweile in Barce­lona lebt, sich als Mitarbeiter humanitärer Hilfswerke in Bosnien und Tschetschenien engagiert. Irgendwann will er, so äußerte er sich gegen­über Le Monde, auch den Wunsch verspürt haben, »in die Haut eines Nazitäters zu schlüpfen«, schließ­lich habe er »auf der serbischen Seite in Bosnien, bei den russischen Milizen in Tschetschenien« sowie in Afghanistan und in Ruanda »mit den Henkern in Kontakt« gestanden.

Manche Kommentatoren, darunter Claude Lanzmann, der Regisseur des Dokumentarfilms »Shoah«, melden Bedenken an. Lanzmann erklärt im Nouvel Observateur, er fürchte, nachfolgende Generationen könnten die historische Realität des Holocaust möglicherweise eher in einem Roman wie »Les Bienveillantes« als in rea­litätsnahen Dokumentationen zu finden versuchen. Littell sei »fasziniert vom Horror und vom Dekor des Todes« und schaffe in Wirklichkeit »eine Entrealisierung« des historischen Geschehens.

Jonathan Littell: Les Bienveillantes. Hachette, Paris 2006, 903 S., 25 Euro