Meuchelmord und Fingeryoga

Eine kurze Geschichte der legendären Ninja-Krieger. von jesse-björn buckler

Eigentlich wollte ich immer Astronaut werden. Mein Opa riet mir jedoch zu etwas Bodenstän­digerem – Soldat oder Polizist würde doch gut zu mir passen. Opa war ein ehemaliger Fremdenlegionär, der vor seinem ersten Kampf­einsatz in Indochina vernünftig wurde und mit den Worten »Irgendwo hört der Spaß auch auf« desertierte. Deshalb besaß er wenig Glaubwürdigkeit als Rekrutierungshelfer – und Polizisten waren mir schon damals unsympathisch. Also beschloss ich im Alter von acht Jahren, Geheim­agent zu werden. Das fand auch Opa knorke, folgerichtig schaute ich auch mit ihm meinen ersten James-Bond-Film an. »Man lebt nur zweimal« begeisterte mich, denn neben Agenten und Astronauten sprangen in dem Film auch noch geheime, japanische Ninja-Superkämpfer herum, die ich unheimlich cool fand. Ninja waren unter uns Kindern, oder besser gesagt: unter uns Jungs extrem beliebt. Dass eigentlich niemand so genau wusste, wer oder was Ninja sind oder waren, störte dabei weder uns noch die Produ­zenten der damals populär werdenden trashigen Ninja-Filme.

Zu deren Verteidigung muss man allerdings auch sagen, dass sich die Ursprünge der geheimnisvollen Ninja-Schattenkrieger aus dem alten Japan tatsächlich nur sehr schwer rekonstruieren lassen: Lang, lang ist es her, da hockten in Japan Mönche auf irgendwelchen heiligen Bergen herum. Eine militante Sekte mit besonders exklusivem Glaubenssystem nutzte die Abgeschiedenheit der unzugänglichen Gebirgswälder und verband dort den traditionellen japanischen Shinto-Glauben mit dem aus Tibet kom­menden tantrischen Buddhismus zu einer okkulten Geheimlehre.

Diese »Yamabushi« – Bergkrieger – genannten Mönche lebten in strenger Askese, liefen in meditativer Versenkung über glühende Kohlen, meditierten stundenlang unter eiskalten Wasserfällen und veranstalteten ganz und gar unbuddhistisch finstere Dämonenbeschwörungen. Eines ihrer Markenzeichen war die Beherrschung der Mudras, einer besonderen Meditationstechnik mit insgesamt 81 Fingergesten. Mit Hilfe dieses geheimen Fingeryoga sollen Angst, Hunger, Kälte- und Schmerzempfinden kontrolliert werden können. Einige Mönche gaben dieses Wissen an Familien weiter, die auf den Partisanenkrieg gegen örtliche Herrscher spezialisiert waren.

Aus der Verbindung der spirituellen Praktiken der Yamabushi-Mönche mit dem kriegerischen Handwerk dieser Clans entstanden schließlich die mysteriösen Schattenkrieger – die »Shinobi« (auf Deutsch: die Heimlichen, Verborgenen).

Organisiert als Familienunternehmen, entwickelten sich die Shinobi oder »Ninja«, wie sie später genannt wurden, zu meisterhaften Meuchlern, Attentätern und Spionen. Ihre Spezialitäten waren die unbemerkte Infiltration feindlicher Festungen und das lautlose Töten. Die Familien bildeten ihre Krieger hervorragend aus. Sie konnten zumeist lesen und schreiben, besaßen ein überdurchschnittliches Allgemeinwissen und durchliefen eine komplexe Schau­spiel- und Nahkampfausbildung. Darüber hinaus wurden sie in bestimmten Taschenspielertricks ausgebildet. So hantierten sie nicht nur mit einem beachtlichen Arsenal an exotischen Trickwaffen, sondern nutzten auch eine mittelalterliche Version der heutigen Rauch- und Blendgranaten für ihre Zwecke.

Die beste Waffe der Shinobi war jedoch ihre eigene Propaganda. Sie knüpften zwar an den Mythos der Yamabushi an, schufen aber mit der Zeit bewusst ihre eigene Legende und inszenier­ten sich als geisterhafte Schattenkrieger mit magischen Fähigkeiten. So behaup­ten zum Beispiel bestimmte Shinobi-Familien, dass sie von den »Ten­gû«, hundeähn­lichen fliegenden Fabelwesen aus den Bergwäldern, abstammen würden. Folgerichtig trugen sie bei Opera­tionen Tengû–Masken und hinterließen Eierschalen. Tengû, so glaubte man, würden aus Eiern schlüpfen.

Militärgeschichtlich waren die Ninja lediglich eine frühe Variante der verdeckt arbeitenden, hochspe­zia­li­sierten Komman­dosoldaten – ihre geschickte Selbstmystifizierung machte sie zu etwas Besonderem. Neben den Samurai wurden die Ninja so zu den schillerndsten Kriegergestalten der japanischen Geschichte. Beide Kämpfertypen stehen dabei für ein gänzlich unterschiedliches Konzept der Kriegführung. Während der Samurai nach dem Ehrenkodex Bushido lebte, war der Ninja ohne Ehre. Begegneten sich zwei Samurai auf dem Schlachtfeld, so stellten sie sich zuerst rituell vor und brüllten sich dann vor dem Kampf ihre Namen, Abstammungslinien und Heldentaten ins Gesicht. Während die Samurai auf die offene Feldschlacht und den Kampf »Mann gegen Mann« spezialisiert waren, versuchten die Shinobi genau das zu vermeiden. Sie meuchelten stattdessen bevorzugt mit Gift und aus dem Hinterhalt.

Als im 16. Jahrhundert diverse lokale Herrscher miteinander um die Macht stritten, brachen goldene Zeiten für die Ninja-Familien an. Wann immer ein Fürst eine geheime Kommando-Operation durchführen wollte, musste er sich an die Schattenkrieger wenden. In dieser Zeit existierten 70 verschiedene »Shinobi-Ryu« genannte Ninja-Familien, die zum Teil auch gegeneinander arbeiteten. Mehr als 100 Jahre lang schlichen sich die Ninja in feindliche Fes­tungen, sabotierten und verübten Mordanschläge. Doch als sich Japan unter einem Kaiser vereinte, wurden die Shinobi – ähnlich wie die Samurai – arbeitslos. Weil sie als potenzielle Bedrohung für die innere Sicherheit wahrgemnommen wurden, wurden die Clans fast vollständig zerschlagen.

Mit dem Aussterben der Familien gerieten auch ihre Techniken und ihre Geschichte in Vergessenheit. Da auch in Japan die Geschichte von den Siegern geschrieben wird, wurden die ehrlosen Ninja im Zuge der späteren Glorifizierung der Samurai und im Zeichen eines neuen Nationalismus einfach aus der offiziellen Geschichte gestrichen. Übrig blieb nur ihr Mythos.

Dank einer Reihe katastrophal schlechter Holly­wood-Filme erlebte der Ninja-Mythos in den frühen achtziger Jahren eine Renaissance. Schwarz­vermummte Kämpfer tauchen seitdem in zahlreichen Filmen, Comics und insbesondere Videospielen auf. Im Schatten des Ninja-Booms drängten diverse Ninja-Kampfkunst-Schulen auf dem Markt, noch heute sind diese so genannten Ninjutsu-Vereine eine feste Größe in der Kampfkunstszene. Und sobald sich mal wieder eine Horde japanischer Schattenkrieger durch die Kino- oder Video­spielwelt meuchelt, füllen sich diese Schulen mit Interessierten.

Die angesehenste und bekannteste dieser Schulen ist das Bujinkan Dojo, ein weltweiter Verband unter der Leitung von Dr. Masaaki Hatsumi. Der mittlerweile 76jährige prägte das moderne Ninjutsu wie kein anderer. Er vermischt neun verschiedene alte japanische Kampfstile zu einem. Von diesen neun Kampf- und Bewegungsschulen sind jedoch lediglich drei auf authentische Shinobi-Ryu zurückzuführen.

Beim näheren Hinsehen entpuppt sich das Ganze als ein mit esoterischem Schickschnack und etwas Akrobatik angereichertes, recht anti­quiert und sehr japanisch wirkendes Nah­kampf­system. Ergänzt wird es durch das spora­dische, etwas befremdlich wirkende Training im schwar­zen Kostüm im Wald. Abgesehen von diesen gelegentlichen Versteckspielen im Unterholz gibt es im Ninjutsu oder Bujinkan keine Wettkämpfe, und auch aufs Sparring wird nur wenig Wert gelegt.

Dass ein System stagnieren muss, das hauptsächlich auf Jahrhunderte alte Techniken zurückgreift, sich dogmatisch weigert, Neues zu adaptieren oder seinen Schülern die Möglichkeit zu bieten, sich in Vergleichskämpfen auszutesten, ist offensichtlich. Daher ist es auch nur konsequent, dass die Ninjutsu-Schulen nicht müde werden zu betonen, Ninjutsu sei kein Kampfsport, sondern eine Kampfkunst. Das Bujinkan Dojo ist definitiv keine Superkämpfer-Kaderschmiede, lebt aber vom Ninja-Mythos. Deshalb sind die Vereine auch nach wie vor Tummelplätze für picklige Formal-Erwachsene mit Schattenkrieger-Omnipotenz-Phantasien, die sich bestenfalls noch auf der Suche nach der spirituellen Erleuchtung befinden.

Mir war das Ganze schon im Alter von acht Jahren genauso suspekt wie heute – daher habe ich weder eine Laufbahn als Ninja noch als Geheimagent eingeschlagen. Aber Astronaut wäre ich gerne geworden.