Spätaussiedler ohne Wahl

Das französische Parlament streitet über eine Verfassungsänderung, ohne die eine Unabhängigkeit des letzten französischen berseegebietes Neukaledonien unmöglich erscheint. von bernhard schmid, paris

Die Versprechungen verpflichten nur jene, die an sie geglaubt haben«: Diese Politikerweisheit, die dereinst der frühere französische Innenminister Charles Pasqua hervorgebracht hat, scheint einen neuen Anhänger gefunden zu haben. Pierre Frogier, Abgeordneter der konservativen Regierungspartei UMP für das französische »Überseegebiet« Neukaledonien, hegt die Ansicht: »Dass die Anhänger der Unabhängigkeit bestimmten Versprechungen Glauben schenkten, die man ihnen damals gegeben hat, mag ja sein.« Und dann setzte er zum großen »aber« an und hätte damit beinahe den politischen Kompromiss über die Zukunft einer der letzten französischen Kolonien, der sich in den vergangenen Wochen abzuzeichnen begann, verhindert.

Das »Damals«, von dem Pasqua sprach, bezog sich auf das Jahr 1998, in dem das so genannte Abkommen von Nouméa ausgehandelt und am 21. April in der Hauptstadt der Inselgruppe im Westpazifik offiziell geschlossen wurde. Der französische Zentralstaat, die Unabhängigkeitsbewegung FLNKS (Kanakische sozialistische Front der nationalen Befreiung) und die pro-französische Loyalistenpartei RPCR hatten sich damals auf einen Etappenprozess geeinigt. Frühestens im Jahr 2013, eventuell aber auch erst 2018, soll über die Frage einer Unabhängigkeit von Frankreich abgestimmt werden. Zu welchem Zeitpunkt dies geschieht, wird von den Mehrheitsverhältnissen in dem Inselparlament abhängen, das im Jahr 2009 sowie 2014 neu gewählt wird. Und hier beginnt einer der entscheidenden Streitpunkte. Denn wer darüber bestimmt, wer bis dahin die politischen Vertreter im Inselparlament von Nouméa mitwählen darf, wird auch entscheidenden Einfluss darauf nehmen, wie dieses dann zusammengesetzt sein wird – und damit maßgeblich darüber bestimmen, wie das Resultat der Abstimmung aussehen wird.

Dass die französische Staatsgewalt bis dahin Fakten schafft und damit jegliche Aussicht auf eine Unabhängigkeit des derzeitigen Territoire d’outre-mer verbaut – darin besteht die größte Sorge der FLNKS, die die besonders benachteiligte melanesischstämmige Bevölkerung des Archipels vertritt. Letztgenannte bezeichnet sich selbst als »Kanaken«, das Wort bedeutet ursprünglich schlicht »Menschen«. Rund 200 000 Einwohner lebten bei der Unterzeichnung des Abkommens von Nouméa auf dem Archipel, mittlerweile sind es rund 230 000. Das Klima ist warm, der Nickelbergbau ist ein wichtiger Wirtschafts­zweig, und die Ansiedlung französischer Staatsbürger wird nach wie vor von Frankreich finanziell gefördert. Zwischen 1988 und 2004, der vorerst letzten Bevölkerungszählung, wanderten 22 000 Menschen aus Frankreich dorthin aus.

Die Kanaken stellten zur Zeit der Unterzeichnung des Abkommens rund 45 Prozent der Inselbevölkerung. Inzwischen dürfte ihr prozentualer Anteil leicht zugenommen haben, da ihre Kinderzahl höher ist als die der europäischen Siedler. Dennoch befürchten sie, nicht selbst über ihre Zukunft entscheiden zu können. Sie meinen, dass die Zuwanderung aus Frankreich dafür sorge, dass sie zu einer Minderheit werden. Eine der Hauptforderungen der FLNKS lautet deshalb, das Wahlrecht auf jene Europäer zu begrenzen, die schon länger auf der Insel leben, und allen anderen das Recht auf politische Beteiligung zu verwehren.

Bei einer Reise von Präsident Jacques Chirac im Juli 2003 wurde in dieser Frage ein Kompromiss geschlossen. Die FLNKS akzeptierte es, dass 8 000 Europäer, die zwischen 1988 und 1998 nach Neukaledonien gekommen waren und dort ihr Wahlrecht beantragt hatten, auch noch ins Wählerverzeichnis aufgenommen werden. Aber, so die Vereinbarung, an der neben Chirac auch die Loyalistenpartei RPCR beteiligt wurde, nach November 1998 solle es keine Neuaufnahme von zugewanderten Europäern mehr ins Register der Wahlberechtigten geben. Die lokalen Konservativen haben sich an dieser Frage jedoch gespalten. Ihre von ­Pierre Frogier angeführte Mehrheitsfraktion möchte von der früheren Vereinbarung nun nichts mehr wissen. Sie wettert, es sei eine Diskriminierung, wenn neu zugezogene Weiße in Neukaledonien arbeiten und Steuern zahlen, aber nicht dort wählen könnten.

Nunmehr hat sie damit Unterstützung auch in Frankreich gefunden. Dort spitzte sich der Streit Anfang Dezember zu. Der französische Premierminister Dominique de Villepin wollte Chiracs früherem Versprechen Taten Folgen lassen. Noch in der laufenden Legislaturperiode, die in rund vier Monaten zu Ende geht, sollte das französische Parlament eine Verfassungsänderung beschließen. Das ist nötig, um die »Eingrenzung des Wahlkörpers« rechtskräftig werden zu lassen, da diese sonst als verfassungswidrig gilt.

Dagegen wandte sich der Innenminister und konservative Präsidentschaftskandidat, Nicolas Sarkozy. Die politische Rechte habe mit dieser Reform »nichts zu gewinnen«, meint de Villepins großer Rivale, und treibe damit nur dem rechtsextremen Front National (FN) unnötig neue Anhänger zu. Die Rechtsextremen ihrerseits taten alles, um das Klima aufzuheizen. Marine Le Pen, die Tochter des FN-Vorsitzenden Jean-Marie Le Pen, hielt sich Anfang Dezember in Neukaledonien auf. Sechs Tage lang agitierte sie dort die Weißen, warnte vor der Gefahr eines »Marschs in die Unabhängigkeit« – und forderte jene unter den Europäern, die »vom Wahlrecht ausgeschlossen« blieben, zum Steuerboykott auf.

Zehn Tage vor Weihnachten mussten die französischen Konservativen nun Farbe bekennen. Denn die Regierungsspitze hatte trotz anhaltender Widerstände in den eigenen Reihen das Vorhaben einer Verfassungsänderung auf die Tagesordnung des Parlaments gesetzt. Begründet wurde dies mit dem Versprechen, das Chirac 2003 gegeben habe. Der französische »Überseeminister« Francois Baroin warnte zudem davor, dass im Falle einer Ablehnung oder Hinauszögerung eines Beschlusses »Unruhen« auf Neukaledonien drohen könnten. Die Spitze der konservativen UMP-Fraktion hob zu dieser Abstimmung extra den Fraktionszwang auf, und einige Mitglieder der Regierungspartei verweigerten schließlich auch ihre Zustimmung. Die Verfassungsänderung wurde dann mit Hilfe der Stimmen der demokratischen UDF sowie der Parteien der Links­opposition angenommen.

Im Januar soll das Vorhaben nun auch im Senat, dem parlamentarischen Oberhaus, zur Abstimmung kommen. Beide Kammern des Parlaments müssten einer Verfassungsänderung zustimmen, und zwar mit 60prozentiger Mehrheit. Aber den Senat dominieren seit vielen Jahren die Konservativen, und eine Umgehung ihrer festen Stellung im Oberhaus durch die Zustimmung der Linksfraktionen ist ausgeschlossen.