»Einfach raus da!«

7 000 Straßenkinder gibt es nach Angaben des Familienministeriums in Deutschland, Hilfsorganisationen sprechen von 20 000. Ihre Lage verschlechtert sich auch wegen Hartz IV. von guido sprügel

Ich hab’ es einfach nicht mehr ausgehalten und nur noch gedacht: raus da.« So beschreibt die 16jährige Nadine ihren Entschluss, von zu Hause auszuziehen. Zuvor besuchte sie regelmäßig die Förderschule und galt dort als »taffes Mädchen«, wie einer ihrer ehemaligen Lehrer sagt. Zu Hause waren ein Vater, der gewalttätig und sexuell übergriffig wurde, und eine Mut­ter, die nichts dagegen ausrichten konnte.

Der mutige Schritt der Ju­gend­­lichen, sich um einen Platz in einer Wohngruppe zu bemühen, brachte auch den sozialen Abstieg mit sich. »Ich lernte halt andere Leute kennen, die auf dem Kiez abhängen, und da bin ich dann mit«, erzählt Nadine knapp. Die Nächte, die sie in der Unterkunft verbrachte, wurden weniger, ebenso wie die Tage, an denen sie zur Schule ging. Nadine begann, auf der Straße herumzuhängen, schlief bei verschiedenen Kumpels und machte erste Erfahrungen mit Drogen.

In der Hamburger Anlaufstelle für Stra­ßenkinder, »Kids«, kennt man Lebensläufe wie den von Nadine zur Genüge. Übers Jahr kümmert sich die Organisa­tion in ihren Räumen am Hauptbahnhof um knapp 350 Jugendliche. Weitere 100 werden von Sozialarbeitern auf dem Ham­burger Dom, der großen Kirmes, betreut. »Die Jugendlichen verbringen die Zeit von früh bis spät auf dem Dom und ziehen dann weiter auf den Kiez«, erzählt Meent Adden, der Leiter von »Kids«. Im klassischen Sinn obdachlos seien die Jugendlichen in der Regel nicht. Sie wohnen zu Hause, zum Teil in desolaten Zuständen, übernachten bei Freunden oder leben in Wohngruppen. Dennoch zählen sie zu den 7 000 Straßenkindern, die es nach Angaben des Familienministeriums von voriger Woche in Deutschland gibt.

»Die Zahl ist zum einen viel zu niedrig und zum anderen viel zu alt«, sagt Uwe Britten, der seit Jahren die entspre­chen­den Statistiken für die Organisation Terre des Hommes erstellt, Umfragen macht und Erfahrungs­berichte sammelt. »Die Zahl 7 000 wurde noch unter Familienministerin Nolte Ende der Neunziger ge­schätzt.« Nach seiner eigenen Umfrage unter Hilfsprojek­ten in Deutschland neh­men rund 9 000 Jugendliche Hilfsmaßnahmen in Anspruch.

»Die Dunkelziffer liegt allerdings bei 20 000«, fügt Britten hinzu. Die meisten Straßenkinder leben in den Großstädten, und die wenigsten von ihnen sind Kinder. Die Jugendlichen, die zu »Kids« kommen, sind 14 bis 18 Jahre alt. Auch die Berliner Initiative »Karuna« betreut vor allem Jugendliche dieses Alters, von denen nur ein kleiner Teil dauerhaft auf der Straße lebt.

Meent Adden von »Kids« weist auf eine Dunkelziffer von Jugendlichen hin, die sich jeglicher Hilfe entziehen. »In den einzelnen Stadtteilen gibt es Szenen, zu denen wir keinen Kontakt haben«, sagt der Diplompädagoge. Was aber auf fast alle betreuten Jugendlichen zutrifft, ist die Tatsache, dass sie aus sehr armen und sozial benachteiligten Verhältnissen stammen. Nach Brittens Erfahrung der vergangenen Jahre steige auch die Zahl der »Straßenkinder«, die aus gut situierten Familien stammten. »Die halten die soziale Kälte und die Karrierefixierung der Eltern nicht aus«, beschreibt er das Phänomen. Die Eltern machten ihren beruflichen Weg, arbeiteten gern und lange, und in der Familie müssten »alle funktio­nieren«.

Nadine stammt aus keiner gut situierten Familie. Das Geld war immer knapp und wurde in den letzten Jahren des Zusammenlebens mit der Familie immer knapper. »Durch die sozialen Kürzungen, durch Hartz IV und ähnliche Maßnahmen steigt der Druck in den Familien«, kritisiert Britten. Und nur noch bis zum 31. März dieses Jahres haben jugendliche Empfänger des Arbeitslosengeldes II im Alter bis 25 Jahre das Recht auf eine eigene Wohnung.

»Die Jugendlichen spüren deutlich den Druck, der durch die Arge oder Hartz IV ab dem Alter von 16, 17 Jahren auf ihnen lastet«, sagt Adden. Damit könnten viele von ihnen, die sich in schwierigen Lebenslagen befänden oder unter traumatischen Erlebnissen litten, nicht umgehen. Einige beugen sich den Anfragen und Kontrollen und nehmen An­gebote an, andere empfinden den Druck als so groß, dass sie aufgeben. »Diese Jugendlichen denken sich dann einfach: Okay, die Wohnung und die Kranken­versicherung werden ja weiter gestellt, auf den Rest verzichte ich lieber«, sagt Adden. Das heißt, die Jugendlichen bekommen keinen müden Euro mehr; oder im Beamtendeutsch: Es droht eine »hundertprozentige Leistungskürzung«.

Das nötige Geld zum Leben besorgen sich viele dann mit Prostitution oder Drogenhandel. Auch Nadine hat Freundinnen, die anschaffen gehen. Ob sie selbst auch als Prostituierte arbeitet, will sie nicht sagen. Und meint stattdessen, dass es auch mit einem Förderschulabschluss zum Leben nicht reichen würde. »Wer braucht schon Förderschüler?« fragt sie resigniert.

Meent Adden und seine Kollegen arbeiten gegen dieses Denken an. Das sei oftmals eine Sisyphusarbeit, denn die Jugendlichen merkten ganz genau, dass in dieser Gesellschaft kein Platz mehr ist für Förder- oder Hauptschüler. Hilfsarbeiter werden immer weniger gebraucht. Da fällt es schwer, die Jugendlichen zu animieren, die Schule abzuschließen.

Zumal die Sparmaßnahmen der Regierung nicht nur die Jugendlichen direkt betreffen, sondern auch die sozialen Hilfsprojekte. »Die Entwicklung ist fatal, denn die Arbeit mit von Obdachlosigkeit bedrohten Jugendlichen ist extrem betreuungsintensiv«, sagt Britten. Allein die Anlaufstelle »Kids« musste im Jahr 2002 ihren Etat um zehn Prozent kürzen und im Jahr 2004 weitere 25 000 Euro einsparen.

Das bedeutet kürzere Öffnungszeiten und zweieinhalb Stellen weniger für Sozialarbeiter. Ein Ende der Sparmaßnahmen ist noch nicht absehbar, obwohl Terre des Hommes darauf hinweist, dass gerade die Gruppe der 18- bis 25jährigen unter den Obdachlosen größer zu werden drohe. »Das ist die einzige wachsende Gruppe«, sagte Werena Rosenke, die stellvertretende Geschäftsführerin der Wohnungs­losenhilfe Berlin der taz.

Für den Hamburger Senat scheinen Straßen­kinder kein drängendes Problem zu sein. Rico Schmidt, der Sprecher der Sozialbehörde, ist davon überzeugt, dass Hamburg bei der Betreuung von Jugendlichen in Not »gut aufgestellt« sei. Kein Jugendlicher müsse draußen schlafen. Doch wie man den Kids den Druck zu Hause und die Perspektivlosigkeit nehmen könnte, verrät er nicht.