Kohle und Kies, Knete und Kröten

Wo gibt es Geld zu holen? Die Experten der Jungle World wissen Rat

Gelernt ist gelernt

Früh aufstehen. Mein Job erinnert mich an früher, an die unendlich langen Bündnistreffen, in denen es unserer autonomen Antifagruppe nicht nur darum ging, die Welt zu verbessern, sondern auch darum, die anderen über den Tisch zu ziehen.

Okay, politisch erreicht haben wir nichts. Zufrieden waren wir trotzdem. Wenn wir den anderen, die wir als »bürgerliche Linke« bezeichneten, Zugeständnisse entlockten. Was wir dafür alles versprachen: bei Demonstrationen auf Vermummung und Gewalt zu verzichten. Natürlich hielten wir uns nie daran. Warum auch? Was immer passierte, wir waren niemals schuld. Entweder wurden wir provoziert oder wir machten andere Gruppen verantwortlich. Unsere Bündnispartner schluckten das. Die Grünen oder die PDS gaben uns weiterhin Geld. Und wenn mal ein Konflikt drohte, arbeiteten wir mit klaren Rollen, einer war der Böse, einer der Gute. Bald galten wir in der Szene als Gruppe mit großem Einfluss. Manchmal kamen deshalb andere Autonome zu uns. Solche, die das Taktieren verabscheuten und die wir »Dogmatiker« nannten. Geholfen haben wir denen nie. Außer, es nutzte uns.

Heute arbeite ich in der Public-Relations-Branche. Gut bezahlt, aber mit zweifelhaftem Image. Diesen schlechten Ruf muss man sich hart erarbeiten. Und zwar mit Methoden, die ich von früher kenne. Was ich Geschäftspartnern verspreche, hat mit der Realität kaum was zu tun. Hauptsache, die Versprechen werden münd­lich gemacht, wie dereinst auf Bündnistreffen. Dienstleistern wird immer mehr Leistung für den ausgehandelten Preis abgepresst, Ideen werden auch mal ohne Bezahlung übernommen. Wenn etwas schief geht, hat irgendwer etwas falsch verstanden. Ich bin niemals schuld. Und ohne einen guten und einen bösen Part kommt keine Verhandlung aus.

Manchmal treffe ich einen jener Dogmatiker. Viele sind ihren Ideen treu geblieben. Und noch immer wollen sie etwas von mir. Auf die Frage, was ich so mache, folgt meist: »Haste einen Job für mich?« Mir fällt bestimmt was ein, sage ich. Und verspreche, dass ich mich melde. Mache ich aber nie.

frank lorentz

Gelobt sei mein Alter!

Nichtstun. Schnorren ist eine altehrwürdige Tätigkeit, deren hohe Kunst man nur durch langjährige Praxis erlernt. Der Schnorrer wandert als historisch verbürgte Gestalt durch alle Epochen. Ob als Hofschranze an der Tafel der Herrschaft, der sich als geschmeidiger Schmeichler und Schwätzer auf Lobpreisungen versteht, oder als Diener des Kultus im Schatten der Altäre, der sich von Opfergaben nährt – das kunstvolle Nichtstun ist mindestens so alt wie der Mehrwert.

Dagegen nimmt sich das hauptberufliche »Haste mal ’ne Mark?« der Nischenspezis bescheiden aus. In den achtziger Jahren begann ihre Karriere in den Fußgängerzonen. Mit dem Fortschreiten der sozialen Krise wurde aus der Mark »’n bisschen Kleingeld«. Heute trifft man diesen Typus als devotes Opfer in der U-Bahn, wo er seine traurige Story herunterleiert, in der Hoffnung auf ein mildes Herz, das ihn von seinen feilgebotenen Elendsmagazinen befreit. Arme Schweine helfen armen Schluckern.

Gelobt sei dagegen mein Alter! Seine persönliche Bestleistung waren 200 Mark, die er als Zirkusclown verkleidet an einem Weihnachtstag vor einem Friedhof in einem Münch­ner Nobelvorort erschnorrte. Sein fiktiver Zirkus bestand allein aus einer bunten Kostümierung, die er sich aus der Altkleidertonne besorgt hatte. Das erschnorrte Geld versoff er in der nächsten Wirtschaft und lud dazu Saufbrüder und -schwestern ein, die er auf der Straße aufgegabelt hatte. Sein Zirkus, also seine Fantasie, ist die Lehre aus dieser Geschichte. Wer Mittel bedarf, braucht eine brauchbare Geschichte. Der Schnorrer ist der geheime Bote des Prinzips der Kostenlosigkeit.

In einer hoffentlich nicht allzu fernen Zukunft werden einer Idee der Situationistischen Internationalen folgend alle Reiterdenkmäler der Erde zu einer riesigen Schlachtformation in der Wüste Gobi aufgestellt. An ihre Stelle treten die Monumente stadtbekannter Suffköpfe, die lebenslang dem Nichtstun gefrönt haben. Das ist der wahre Kommunismus. Oder, wie mein Alter gesagt hätte: Hoch die Tassen!

tom agree

Zwischen den Anträgen

Staatsknete kassieren. Früher war es einfacher. Nach dem Abitur konnte man erst mal fünf Jahre lang vom Bafög leben. Anschließend bekam man Arbeitslosengeld in Höhe von sechzig Prozent des »zu erwartenden Einkommens« im erlernten Beruf. Und selbst die lebenslange Arbeitslosenhilfe lag nur um zehn Prozent niedriger. Ab Mitte vierzig konnte man beginnen, sich um eine Frührente Gedanken zu machen, die ebenfalls am fiktiven Verdienst bemessen wurde.

Staatsknete gibt es immer noch, doch an die Armen wird davon immer weniger verteilt. Wer genug Geld hat, um sich einen Sonnenkollektor aufs Dach zu stellen, bekommt für 15 Jahre eine Maschine in den Keller gestellt, die Tag für Tag Euro­münzen ausspuckt. Ganz zu schwei­gen von der ­Informations- und Kommunikations­technologie. Diese Branche wird von der Bundesregierung in den kommenden drei Jahren mit 1,2 Milliarden Euro gefördert. Emanzipatorische Projekte konnten in den vergangenen Jahren immerhin noch bei staatlichen Programmen wie »Civitas« Geld für den Kampf gegen den Rechtsextremismus beantragen. Doch seit diesem Jahr gibt es nur Zuschüsse in Höhe von bis zu 50 Prozent, der Rest muss »eigenfinanziert« werden.

Da bleibt nur der Weg, den viele Kultureinrichtungen schon seit langem gehen: Man bewirbt sich bei Stiftungen um »Drittmittel«. Da werden einem städtischen Museum fast alle öffentlichen Mittel für den Regelbetrieb gestrichen, doch wenn der Volks­wagenstiftung die Idee für eine Sonderausstellung gefällt, fließt das Geld. Mit etwas Glück und guten Beziehungen werden die eingereichten Projekt­anträge bewilligt. So gewinnt man etwas Zeit, die man am besten dafür nutzt, den Folgeantrag auszutüfteln.

christoph villinger

Party auf dem Friedhof

Mama & Papa vertrauen. »Ein gut erlernter Beruf ist mehr wert als ein großes Erbe«, sagt ein französisches Sprichwort. Aber was ist, wenn es mit dem Beruf nicht geklappt hat? Etwa, weil man die Jahre nach dem Abitur mit einer marxistischen Ausbildung verbracht hat, die zur Beruhigung der Eltern als geisteswissenschaftliches Studium getarnt wurde? Oder man sich allein um die kreative Selbstverwirklichung gekümmert hat? Irgendwann hat man so viel Zeit mit dem Guten, Wahren und Schönen verbracht, dass ein Brotjob nicht mehr in Frage kommt. Die Welt wird mein kreatives Poten­zial noch erkennen! Bis dahin gibt es gottlob die Eltern. Die »Generation Praktikum« wäre ohne das Vermögen im Hintergrund nicht möglich. Der familiäre Kombilohn sichert die Existenz zwischen Praktika und Projekten. Und als digitaler Bohemien lebt es sich entspannter, wenn man weiß, dass zu gegebener Zeit ein ansehnliches Erbe ins Haus steht.

Ein solches haben mehr Leute zu erwarten als je zuvor. Die Aufbaugeneration hat ein beachtliches Vermögen angehäuft. Nun tritt sie ab und hinterlässt ihren Nachkommen jährlich knapp 50 Milliarden Euro, Ten­denz steigend. Die statistische Chance zu erben, steigt mit dem Bildungsgrad und der Höhe des bereits vorhandenen Vermögens. Durch Erbschaften und Schenkungen kommt jährlich knapp eine Million Haushalte in den Genuss größerer Vermögenswerte, pro Erbfall sind es im Schnitt 50 000 Euro.

Wie ein Wechsel zwischen Gläubiger und Schuldner garantiert das Testament der Eltern, dass der Nachwuchs doch noch auf seine Kosten kommt. Aber der Wechsel will eingelöst werden, besser früher als später. Da wird es zum Ärgernis, wenn sich Papa und Mama noch mit 90 Jahren bester Gesund­heit erfreuen. Beerdigungen geraten so zu Jubelfeiern. Doch Eltern können dem frivolen Treiben der nichtsnutzigen Brut vorbeugen: »Alles verzehren bis zum End, das ist das beste Testament«, empfahl Goethe.

steffen küßner

Ein Leben im Kräutergarten

Krumme Dinger drehen. Ich bewohne eine 80-Quadratmeter-Kathedrale mit über vier Metern Raumhöhe und einem sehr langen Flur. Dort wächst hinter einer Rigipsdecke duftdicht isoliert und computergesteuert beleuchtet das Zeug, das ich und andere zum Leben brauchen. Den Strom mache ich seit kurzem auch selbst, mit einem Kleinstblockheizkraftwerk.

Die Anfangsinvestitionen – die Lampen, die Lüftung usw. – habe ich mir von meinem Lohn zusammengespart. Das waren zuletzt 4,10 Euro brutto die Stunde für einen krummen Rücken als Zierpflanzengärtner. Das habe ich mal gelernt. Zurzeit nehme ich durchschnittlich vier Euro das Gramm, steuer- und abgabenfrei. Der cashflow auf meinem Girokonto für Fixkosten wie Miete und Gas kommt von meinem vermeintlichen Chef, einem meiner Hauptkunden. Seine Ausgaben bekommt er in Naturalien erstattet. Sage keiner, Handwerk sei nichts mehr wert.

sven ziehmüller

Nie ohne meine Gewerkschaft

Zeilen abliefern. Ich gehöre zu den Leuten, die vom Schreiben leben. Das geht. Sogar für jemanden, der keine Kontakte hat, aus einer bildungsfernen Schicht kommt oder behindert ist. Aber die Nebenkosten sind oft unerwartet hoch: Alkohol, manisch-sexuelle Deformationen, Gemütskrankheiten, Armut. 70 Prozent der amerikanischen Literatur besteht nur aus einer einzigen Geschichte: Das Buch, dass der Autor gerade schreibt, muss verkauft werden. Lumpenintelligenzia.

Etwas aber zahle ich gern: meinen Gewerkschaftsbeitrag. Das hat mir schon viel Geld eingebracht. Früher zahlte die IG Medien freien Journalisten Arbeitsausfallpauschalen, wenn sie an Seminaren teilnahmen. Tagsüber Politik, nachts Party. Viermal am Tag gab’s zu essen. Dann fuhr ich mit 1 000 Mark in der Tasche nach Hause. Verdi hat für solche Sperenzchen kein Geld mehr. Aber wenn ich Zoff mit Auftraggebern habe, hilft mir die Gewerkschaft: »Nehmen Sie die Klage zurück, dann zahlen wir«, hatte der Aufkäufer der bankrott gegangenen Internetfirma gesagt. Ich erwiderte: »Zahlen Sie, dann nehme ich die Klage zurück.« Freude ist: Erfolg haben.

Ich kenne eine Menge Journalisten, die sich über Gewerkschaften das Maul zerreißen. Wenn sie gefeuert werden, rufen sie mich an: »Kennst du einen Arbeitsrechtler?« Von mir aus können die abkratzen.

Ein kluger Staat würde dafür sorgen, dass das Geld in schnellem Umlauf bleibt – viel verdienen, viel ausgeben. Unser Staat ist aber nicht klug. Vielleicht übernimmt die Oskar-Linke die Macht. Dann gibt’s Staatswirtschaft. Bis es so weit ist, können wir lernen: Man soll ernst nehmen, was man tut. Und: Studentinnen, Schuhhändler, DJanes oder Arbeits­lose: Organisiert euch!

karl kuschel

Ein Stück vom Kuchen

Kleine geile Firmen gründen. Internetblasen mögen platzen, Agenturen den Bach runtergehen – der Marktplatz Internet bleibt. Doch die Art und Weise, wie man dort zu Geld kommt, ändert sich mit dem Internet und seinen Nutzern. In den ersten Jahren waren es die Tüftler, die mit ihren Programmierkenntnissen, die sie sich an gelangweilten Abenden in der Provinz erworben hatten, den alten Männern in den finanz­kräftigen Konzernen zwei Schritte voraus waren und mit solider Software Geld machen konnten. Dann folgten die Marktplätze und Schaufenster im Netz; man verkaufte verunsicherten Mittelständlern eine Homepage mit allerlei Schnickschnack oder schuf digitale Flohmärkte, Verbraucherforen und dergleichen mehr.

Die neuesten Gewinner im Internet verschachern nicht nur Software oder Online-Auftritte, sondern Menschen oder deren Anschrift. Dabei handelt es sich um ein digital gewordenes Nebenprodukt des Direktmarketing, das es auf leichtfüßige wie dreiste Weise geschafft hat, dass Menschen, die ihre Telefonnummer nicht im Telefonbuch sehen wollen, an virtuellen Treffpunkten wie StudiVZ oder MySpace nicht nur ihre Aufmerksamkeit verscherbeln, sondern auch allerlei Informationen über sich und ihre Seele. Für beides zahlen große Unternehmen viel Geld.

Doch man sollte sich von den Meldungen über ominöse Millionendeals nicht täuschen lassen. Neben den Gewinnern stehen viele Verlierer. Die Ban­dagen sind hart. Wer auf die schnelle Million hofft, muss eiserne Ellbogen und windhündische Schnelligkeit beweisen. Möglicherweise braucht er ferner eine an Widerlichkeit grenzende Unverschämtheit und darf keine Scheu vorm Ideenklau haben.

Doch jenseits der großen Claims kann man vom Internet leben. Mit Schnellig­keit, Service und guter Unterhaltung kann man ein Auskommen haben: Als Verkäufer auf Ebay, als Korrekturservice, der seine Arbeit per Mail abwickelt, oder als Reiseexperte für Zentral­afrika. Und vielleicht eines Tages als Autor eines vorzüglichen Weblogs.

daniel erk

Ganz oben auf der F-Skala

Fresse hinhalten. Vielleicht kennen Sie das: Man wird plötzlich dreißig, schlittert in die Midlife Crisis, und der Dispo ist bis zum Anschlag überzogen. Freunde nerven mit guten Ratschlägen und die Agentur für Arbeit mit sanften Drohungen. Wenn man nichts hat und nichts kann, gibt es immer noch den eigenen Körper, den man auf den Markt tragen kann. Man muss nicht gleich auf den Straßen- oder Medikamentenstrich. Wer über halbwegs gute Menschenkenntnisse verfügt und auch mal zupacken kann, findet leicht einen Job an der Tür einer Diskothek oder eines Clubs.

Der am besten bezahlte Türjob ist der des »Selektors«. Das ist der Arsch, der Ihnen mit einem vorgetäuschten mitleidigen Blick sagt: »Sie nicht!« In man­chen Läden hat er die Aufgabe, durch eine willkürliche Türpolitik die Exklusivität des Etablissements zu erhöhen. Das ist zwar lustig, versaut aber die Persönlichkeit. Von Abend zu Abend steigt man auf Adornos F-Skala in Richtung autoritärer Charakter.

Eigentlich lohnt sich das Ganze nicht, zumindest nicht für die in Berlin üblichen zehn bis 15 Euro. Das wird einem spätestens klar, wenn man es in den frühen Morgenstunden mit einem Dutzend betrunkener Hells-Angels-Rocker zu tun bekommt. Oder wenn man einem barfüßigen Freak im OP-Hemd und mit rostigem Taschenmesser in der Hand erklären muss, dass er unpassend gekleidet ist. Aber durchboxen muss man sich überall.

jesse-björn buckler

Kalifornien, wir kommen!

Sich fördern lassen. Als 15jährige wollte ich Schriftstellerin werden, weil ich mir einbildete, in Ruhe am Schreibtisch sitzen zu können. Nie hätte ich gedacht, dass Autoren, wenn sie das Schreiben zu ihrer Haupteinkommensquelle gemacht haben, öffentliche Personen sind oder sein müssen. Immer mehr Schriftsteller in Deutschland bestreiten ihren Unterhalt mit Stipendien. Stiftungen, Vereine, Institutionen und auch Privatiers laden sie dazu ein, fern vom eigenen Schreib­tisch zu arbeiten.

Manche Stipendien sind jedoch nur für Schriftsteller aus bestimmten Bundesländern vorgesehen, weshalb schlaue Autoren einen Zweitwohnsitz in Bayern, Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen haben. Es gibt nur wenige Stipendien, bei denen man einfach Geld überwiesen bekommt (z.B. beim Deutschen Kulturfonds Darmstadt) und nicht bis zu zwölf Monaten in Groß-WG-artigen Verhältnissen in der Pampa wohnen muss. Man kann auch Glück haben. Der Verein Villa Aurora vergibt ein Stipendium nach Pacific Palisades / Kalifornien, wo man mit nur zwei anderen im ehemaligen Haus von Lion Feuchtwanger residiert, einer 18-Zimmer-Hütte mit Blick auf den Pazifik.

Bei vielen Auslandsstipendien ist es ratsam, sich mit schriftstellerischen Vorhaben zu bewerben, die etwas mit dem Land oder der Region zu tun haben. Vorsicht ist bei Stadtschreiberstipendien geboten: Oft wird erwartet, dass die Schriftsteller essayistische oder journalistische Text über den Ort des Aufenthalts verfassen, manche Geldgeber verlangen zweimal die Woche einen Kommentar zu einem »Ereignis in unserer Region«.

Einmal war ich zusammen mit der Jungle World auf Kosten der Bundeskulturstiftung in Israel. Dort traf ich Frank Stern von der Universität in Beer Sheva. Er sagte: »Tun Sie mir den Gefallen und schreiben Sie keinen Roman über Israel!«

tanja dückers

Vorübergehend nicht reich

Auf das richtige Pferd setzen. Um auf der Trabrennbahn reich zu werden, muss man einiges wissen, vieles beachten und noch mehr beobachten. Man muss wissen, welche Pferde trockenen Untergrund mögen und welche Matsch. Wissen sollte man auch, ob mehr als ein Frontrenner im Feld sind; treffen zwei von der Sorte aufeinander, werden sie sich am Anfang derart beharken, das ihnen zum Schluss die Puste fehlt. Sollte ein Pferd sein letztes Rennen gewonnen haben, tut man gut daran, sich zu erinnern, in welcher Manier das gelang, ob souverän oder mühevoll nach Zielfoto. Sodann muss man vergleichen, wie gut die damals besiegten Gegner waren. Beachten muss man, ob ein Pferd aus der Pause kommt, was seine Chancen minimiert, weil, wie wir Experten sagen, das beste Training nicht die Rennhärte bringt. Andersherum birgt eine kurze Startfolge die Gefahr des Substanzverlusts. Vorsicht ist geboten bei Pferden, die von einer fremden Bahn kommen und dort große Siege feierten (die Pferde feiern eigentlich ihre Siege nicht, aber das sagen wir so). Vielleicht liegt ihnen nur die dortige Linienführung, aber nicht die hiesige.

Beobachten sollte man, ob das Pferd mit fester oder ziehbarer Ohrenkappe antritt, ob es mit enger oder halboffener Scheuklappe ins Rennen geht und ob der Trainer einen Bodenblender ans Geschirr montiert hat. Sind Pferde sehr nervös, was die Gefahr des Gallopierens erhöht, bildet sich schon vor dem Start Schaum am Brustblatt. Das registrieren wir Experten so nebenbei, wie wir auch begutachten, ob der Schmied es gut ausbalanciert hat.

Wer all das und noch viel mehr beachtet, weiß, wie das Rennen ausgehen wird, im Prinzip. Der »subjektive Faktor« kann im Einzelfall den richtig antizipierten Aus­gang modifizieren. Etwa eine Stute, die den Hengst daneben verwirrt. Auch die Fahrer können wegen privater Sorgen oder aus geschäftlichem Kalkül erzielbare Siege verfehlen. Das ändert an der wissenschaftlichen Bestimmung, zu welchem Zeitpunkt welcher Sieg fällig ist, gar nichts. Gewinnt ein Fahrer absichtlich nicht, weil er über einen Mittelsmann sich selbst an dritter Position gewettet hat, nennen wir revolutionäre Zocker ihn einen Sozialdemokraten. Verspielt er den Sieg, weil er den rich­tigen Zeitpunkt für den Endspurt verpasste, heißt er bei uns Reformist; greift er zu früh an, leidet er an einer Kinderkrankheit. Gelingt ein Sieg mit irrational-tollkühner Fahrweise, wissen wir, dass das nichts zu bedeuten hat und halten eisern daran fest, dass Putschismus nichts bringt, im Prinzip.

Kommt es über einen längeren Zeitraum zu sehr viel Sozialdemokratismus, Reformismus, Linksabweichungen und Putschismus, werden nicht nur wir vorübergehend nicht reich, sondern die Vernunft erleidet allgemein Zerstörung. Man ist dann umzingelt von Leuten, die ihre Geburtsdaten auf den Wettschein malen. Wenn solche Dilettanten gewinnen, schämen sie sich nicht des Zufalls, sondern machen davon auch noch ein die Aufklärung unterminierendes Geschrei. Wir linken Zocker wissen natürlich um den temporären Charakter solcher Phänomene, um das Herabsinken dieser Glücksritter ins Proletariat. Jedenfalls perspektivisch.

Durchs Wetten werde ich reich. Das ist so sicher wie der Nachweis, dass die Kapitalakkumulation schon vor einem Jahrzehnt hätte zusammenbrechen müssen, oder wie die Prognose, der befreit-blühend-demokratische Irak werde Strahlkraft auf den ganzen Nahen Osten entfalten. Von schnöder Empirie lässt sich der Wissende nicht erschüttern.

thomas ebermann