Die nächste Eroberung Konstantinopels

Schon vor der osmanischen Eroberung lebten in Istanbul Roma. Nun soll das älteste Roma-Viertel der Stadt einem osmanischen Disneyland weichen. Kein Einzelfall. von sabine küper-büsch (text und fotos)

Die jungen Frauen fangen an, wütend mit den Händen herumzufuchteln, kaum dass sie den Fotoapparat sehen. Ihr Elend wollen die Roma nicht bildlich festgehalten wissen. »Auch wir haben unsere Würde«, keift ein Mädchen. Sie zupft welke Blätter aus einem Strauß roter Rosen. Die anderen Frauen haben auf Handkarren ebenfalls Kübel voller Blumen, die sie tags da­rauf auf dem Markt des Stadtteils anbieten wollen. Es ist ihr einziges Kapital. Im Mai ließ die Bezirksverwaltung des Istanbuler Ar­beiter­viertels Kagithane die Häuser der Siedlung Yahya Kemal abreißen, seither sitzen die Roma-Familien auf der Straße.

Auf dem Gelände sollen angeblich ein Park und eine Sportanlage entstehen. Bislang allerdings sind keinerlei Baumaßnahmen zu erkennen. Fünf Familien haben unter einer Brücke schäbige Baracken errichtet. Die übrigen haben das Viertel verlassen, insgesamt 13 Haus­halte wurden mit Bulldozern unter Polizeischutz obdachlos gemacht, ohne dass die Stadtverwaltung alternative Unterkünfte zur Verfügung gestellt hätte.

Die von den Roma errichteten Notbehau­sun­gen sind menschenunwürdig. Die Leute wohnen inmitten von Schlamm, dreckigem Wasser, Plastikplanen und Holzverschlägen. Sie haben Glück, dass der Winter auch in Is­tanbul bislang recht mild geblieben ist. Doch im Februar schneit es häufig tagelang, zumin­dest Teile von Kagithane, das auf einem Hügel errichtet ist, werden dann für mehrere Tage von der Außenwelt abgeschnitten. Die schlecht befestigten Straßen ähneln einer Rodelbahn. Nur besitzt hier niemand einen Schlitten.

Sultan Eser ist erst 19 Jahre alt. Ihr langes, schwarzes Haar umrahmt ein versteinertes, vor Kummer krank wirkendes Gesicht. Die junge Roma war im achten Monat schwanger, als das Häuschen ihrer Familie abgerissen wurde. Dabei waren ihr Haus und der dazugehörige Garten sogar im Grundbuch eingetragen, was in den ärmsten Vierteln Istanbuls nicht selbstverständlich ist.

Im Zuge der »dringend notwendigen Sanierungsmaßnahme« wurden Sultan und ihr Ehemann kurzerhand enteignet und bekamen 2 000 türkische Lira Entschädigung, umgerechnet etwa 1 200 Euro. Für die Metropole Istanbul ist das nicht mehr als ein Almosen. Das Geld reichte gerade einmal dafür, dass Sultan ihr Kind in einem schlechten und billigen staatlichen Krankenhaus zur Welt bringen konnte. Die meisten Romafrauen des Viertels bringen ihre Kinder mit Hilfe einer Hebamme zuhause zur Welt. Doch ein Zuhause hatte Familie Eser nicht mehr.

Sultans Mann verdient als fahrender Alteisenhändler gerade einmal genug, um die Lebensmittel zu kaufen. Nach zwei Tagen musste Sultan mit dem Säugling, der kleinen Zeynep, das Krankenhaus verlassen und zurück ins Zelt unter die Brücke. Im Sommer ging das noch einigermaßen. Die Nachbarn halfen, so gut es ging, mit dem Nötigsten aus. Doch der November war bitterkalt und regnerisch. Die Kälte kroch jede Nacht in das Zelt, bis Zeynep von einem schrecklichen Husten erfasst wurde. Ihre Mutter traute sich wegen des vor Schmerzen schreienden Babys nicht mehr auf den Markt zum Blumenverkaufen, das Geld wurde immer knapper.

Zu spät brachten die Esers das kranke Kind Ende November in die Notaufnahme. Da sie kein Geld hatten, nahmen die Ärzte das Baby nicht auf, sondern verschrieben Medizin. Zeynep musste zurück unter die Brücke. Sie hustete nicht mehr viel. Noch am selben Abend hörte sie einfach auf zu atmen.

Zeit zu trauern hatten die Eltern nicht. Die Stadtverwaltung drängt sie dazu, das Zelt zu räumen. Der Stadtrat fürchtet, dass weitere Sterbefälle unangenehme Folgen nach sich ziehen und ein schlechtes Licht auf die Sanierung werfen könnten, die als den Interessen der Bürger von Kagithane entsprechend angepriesen worden war. Alternativen Wohnraum bietet sie den Obdach­losen nicht an. Und die türkische Öffent­lich­keit hat die Vorfälle bislang weitgehend ignoriert. Denn die Roma werden landläufig als potenzielle Diebe und Habenichtse angesehen. Die »Zigeuner-Viertel« stehen im Ruf, Horte von Kriminalität, Drogenhandel und Prostitution zu sein. Dass eine ursprünglich in einem eigenen Häuschen lebende Familie ein Baby verliert, weil sie auf die Straße gesetzt wird, haben nur wenige Istanbuler vernommen. Nur zwei Tageszeitungen berichteten davon.

»Momentan gibt es eine offensive, aber klammheimliche Verdrängung der Roma«, berichtet Hacer Yildirim Foggo vom »Verein zur Gestaltung des Lebens« (UYD). Gemeinsam mit anderen NGO versucht ihr Verein, den Roma Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Denn der Abriss in Kagithane ist kein Einzelfall. Im Juli wurden ebenfalls 120 Häuser im Stadtteil Küçükbakkalköy dem Erdboden gleichgemacht. Der UYD registrierte 46 Kinder, die seitdem ohne Wohnsitz sind und nicht zur Schule gehen können.

Im ganzen Land wurde das »Internationale Roma-Jahr 2006« dazu genutzt, Siedlungen die­ser in der Türkei offiziell nicht anerkannten Be­völkerungsgruppe zu schleifen. In der Hauptstadt Ankara wurden fast 200 Häuser ersatzlos wegsaniert, um einer Neu­bau­siedlung Platz zu machen. Im west­ana­to­lischen Bursa verschwan­den mehr als 100 Behausungen zugunsten einer Grünanlage. Neben inakzeptablen finanziellen Abfindungen werden allenfalls perfide Lösungen angeboten. Zum Beispiel im Istanbuler Stadt­viertel Sulukule.

Mustafa Demir, der konservativ-islamische Bürgermeister des Bezirks Fatih, zu dem Sulukule gehört, lächelt herablassend und präsentiert stolz Karten mit Zeichnungen seiner neuen stadtplanerischen Entwürfe von Sulukule. Am Rande der historischen Stadtmauer, an die das Viertel angrenzt, soll eine Anlage osmanischen Stils entstehen. Zwei- bis dreistöckige Holzhäuser, noble Geschäftsstraßen, eine Art Disneyland aus Tausendundeiner Nacht soll »an unsere osmanische Geschichte erinnern«, strahlt Demir. Dass die Stadtmau­ern byzantinischen Ursprungs sind und unter anderem dazu dienten, die Angriffe der Osmanen abzuwehren, stört ihn nicht weiter.

Roma lebten schon vor den Osmanen im damaligen Konstantinopel, es waren die Nach­fahren von Menschen, die im 12. Jahrhun­dert von der im indisch-afghanischen Raum ansässigen muslimischen Dynastie der Ghazna­widen als Sklaven in den Nahen Osten verkauft worden waren. Sulukule wurde schon damals zu einem Roma-Viertel. Nach der Eroberung der Stadt durch die Osmanen im Jahr 1453 hatten die Roma keine Integrationsschwierigkeiten. Sie arbeiteten als Handwerker, Akrobaten und Musiker. Der Eroberer Fatih Sultan Mehmed war von ihren Fertigkeiten so begeistert, dass er weitere Familien in die Stadt holte. Als Mitglieder der osmanischen Militär­kapellen zogen sie in den Krieg. Die Roma waren bereits im 12. Jahrhundert zum Islam übergetreten, was eine Bedingung dafür war, im osmanischen Militär zu dienen. Bis heute spielen vor allem Roma-Musiker den fasil in türkischen Restaurants, mystische Sufi-Liebes­lieder.

Von dieser Tradition hält die Stadtverwaltung von Fatih wenig. Bürgermeister Demir nippt an seiner Limonade und lässt eine Schach­tel mit Schokolade die Runde machen. Hinter seinem wuchtigen Schreibtisch hängt ein Bild des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk und ein Bild des Ministerpräsidenten Recep Tay­yip Er­dogan. Demir kennt seinen Parteifreund Erdo­gan noch aus dessen Zeit als Oberbürgermeister von Istanbul. Ähnlich wie dieser spricht auch der Bürgermeister von Fatih gerne von »kultureller Vielfalt« und »Toleranz«. Folglich sollen die Roma in Zukunft in Sulukule als Mu­siker arbeiten, jedoch in osmanischen Häusern wohnen. Der Entwurf der Stadt­verwaltung sieht vor, dass die Roma eine Abschlagszahlung für ihre Häuser erhalten und innerhalb der kommenden 15 Jahre ihre neuen, osmanischen Häu­ser abbezahlen. Ob sie dazu in der Lage sind, ist allerdings fraglich. Schon die geplanten teu­ren Holzfassaden dürften ihre finanziellen Mög­lich­keiten übersteigen.

Sükrü Pündük, der Vorsitzende der Interessenvertretung der Bewohner von Sulukule, pfeift verächtlich durch die Zähne. Er traut der Stadtverwaltung nicht. Bis vor 15 Jahren waren die Bewohner von Sulukule wohlhabende Leute. Fast jedes Haus verwandelte sich nachts in einen Club. Die Is­tanbuler konnten dort zu fairen Preisen essen und trinken, Roma-Musik hören und Bauchtanz-Darbietungen genießen – zum Ärger der Konservativen, die darin eine verdeckte Form der Prostitution sahen. Zwar war Pros­titution in Sulukule nicht weiter verbreitet als in anderen Vergnügungsvierteln der Stadt auch, dennoch wurde den Roma im Jahr 1992 dieses Geschäft verboten.

Sükrü Pündük betreibt seitdem eine Teestube, die natürlich vergleichs­weise wenig abwirft. »Warum soll ich mein Haus verkaufen, um mich für ein neues zu verschulden? Wir haben vorgeschlagen, unsere Häuser selbst zu renovieren. Wenn wir wieder im Vergnügungssektor tätig sein könnten, wäre das gar kein Problem«, wen­det er gereizt ein. Alle in der Teestube versammelten Männer brummen zustimmend. Die Gründung des Vereins war im vergangenen Jahr zwar nicht reibungslos über die Bühne gegangen. Die Roma hängen an ihrem Stadtviertel und den nachbarschaftlichen Beziehun­gen, halten aber wenig von Vereinsstrukturen, Mitgliederversammlungen und Vorständen. Doch inzwischen hat jeder den Ernst der Lage begriffen.

Denn die Stadtverwaltung von Fatih ist zum Abriss des Viertels entschlossen. Roma-Musik, Alkoholausschank und Bauchtänze passen nicht zu Mus­tafa Demirs Vorstellungen von einem osmanischen Viertel. Die Toleranz der Stadtverwaltung, die von Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwick­lung geführt wird, ist ausgereizt, sobald unterprivilegierte Bevölkerungs­gruppen wie die Roma auf ihre Identi­tät, ihre Lebensform und ihre Rechte bestehen und nicht dazu bereit sind, sich einer vermeintlichen Fürsorge der Obrigkeit unterzuordnen.

Derzeit versuchen Unterhändler des Bürgermeisters, einzelne Hausbesitzer zum Verkauf zu bewegen. »Die Leute sind glücklich über die Aussicht, Geld für ihre Hütten zu bekommen«, sagt Demir, während sein Sekretär zum Aufbruch drängt. Die Stadtverwaltung legt großen Wert darauf, mög­lichst viele Termine mit prominenten Lokalpolitikern wahrzunehmen. Demir nimmt an Essen für die freiwillige Feuer­wehr teil, spendet Bücher für Moscheen und schleppt Kleinkinder über Volksfeste. Ein sich als »volksnah« inszenierender Politiker, der in seinem Bezirk möglichst viele Wähler seiner Partei möchte. Die Bewohner von Sulukule sind davon überzeugt, dass in ihrem Viertel in der Zukunft nicht sie, sondern wohlhabende Parteigänger der AKP leben sollen. »Welcher Rom aus Sulukule kann im Monat 100 bis 200 Euro für eine Hypothek bezahlen?« seufzt Pündük. »Die meisten sind froh, wenn es für Strom und Wasser reicht.«

Auch die stadtplanerischen Vorhaben der ebenfalls von der AKP geführten Großstadt­verwaltung von Istanbul führen zu Kontroversen. Das Schleifen der Roma-Viertel ist das krasseste Beispiel einer falschen Sanierungspolitik. Oberbürgermeister Kadir Top­bas will ein »schönes, ordentliches« Stadtbild präsentieren, wenn Istanbul in drei Jahren neben Essen und dem ungarischen Pecs eine der »Kulturhauptstädte Europas« sein wird. Man könnte annehmen, dass die Stadtverwaltung diesen Anlass dazu nutzt, um auch Sulukule für das Festjahr herzurichten, selbst wenn gewiss nicht jedes Haus dort beanspru­chen kann, einen historischen Wert zu besitzen. Doch das Viertel hat ohne Zweifel eine jahrhundertelange besondere Siedlungs­geschichte und spezifische Bau- und Lebens­formen aufzuweisen.

»Die Stadtverwaltung nutzt den Termin 2010, um ihre ideologisch begründeten Geschichtsbegradigungen im Stadtbild vorzunehmen«, kritisiert Korhan Gümüs, Stadtplaner und Vorsitzender des »Vereins für humane Siedlungen«. Dabei warne die Unesco seit mehreren Jahren, dass mit der rein dekorativen Rekonstruktion historischer Stätten in Istanbul ohne adäquate kunsthistorische und archäologische Betreuung Raubbau am Kulturerbe betrieben werde. »Wir haben uns 1985 darum beworben, auf die Liste der von der Unesco als Teil des Weltkulturerbes geschützten Städte aufgenommen zu werden«, meint Gümüs in seinem Büro mit Blick auf Alt-Istanbul. »Wir haben die Konvention unterzeichnet, unsere Kulturdenkmäler zu schützen. Jetzt laufen wir Gefahr, noch vor 2010 von der Liste der Unesco gestrichen zu werden.«

Er ist nicht der einzige, der dies befürchtet. Denn die islamisch-konservativen Stadt- und Bezirksverwaltungen sind zwar gewillt, die alten Bauwerke instandzusetzen, und ihre Baupolitik ist sogar weniger von Korrup­tions­skandalen begleitet als die der vorherigen sozialdemokratischen und konservativen Verwaltungen. Doch die Art und Weise, wie die Sanierung betrieben wird, ist äußerst fragwürdig. Das peinlichste Beispiel ist die Sanierung der historischen Stadtmauer. His­torische Relikte der Mauer wurden in weiten Teilen einfach mit neuen Steinen ausgebessert. So wirkt der Schutzwall um die Altstadt von weitem verblüffend unversehrt. Aus der Nähe aber erkennt man sofort die Verhunzung der historischen Bausubstanz.

Im Falle der Roma versuchen NGO und die im vorletzten Jahr zu einer »Föderation der Vereine der Roma« fusionierten Interes­sen­vertretung der Roma, einen Wettlauf mit der Zeit zu gewinnen. Sie wollen den Behörden begreiflich machen, dass die Roma-Kultur in der Türkei die älteste in Europa ist und in der Zukunft ebenso wie die Bauten aus osmanischer oder byzantinischer Zeit zum schützenswerten Kulturerbe der Stadt gehören.

Sükrü Pündük kommt ins Schwärmen, wenn er sich vorstellt, wie Sulukule neue Glanzzeiten erleben könnte. Musikclubs, eine Akademie für Roma-Musik, Reitkunst und Akrobatik, Werkstätten für traditionel­les Roma-Handwerk wie Kesselflickerei, Huf­schmiedekunst und Flechtarbeiten – es könn­te alles so schön sein. Stadtplaner Kor­han Gümüs ist davon überzeugt, dass schon das für die Planung des osmanischen Disney­lands ausgegebene Geld genügt hät­te, um nennenswerte Restaurierungen zu finanzieren. Vor allem, da die meisten Bewohner in Vierteln wie Sulukule dazu bereit wären, an solchen Arbeiten mitzuwirken. Doch angesichts der schlechten Lebensbedingungen, der fehlenden Perspektiven und des rauer werdenden Tonfalls schwindet allmählich die Bereitschaft der Menschen, sich der Ver­drängung zu wider­setzen.

Der Rom Hamdi Haydar trottet deprimiert mit seinem Pferdekarren durch Sulukule. Prachtvolle Zitronen hat er geladen, die in der Wintersonne leuchten. Doch am Ende des Tages wird er mit viel Glück vielleicht 20 Euro mit ihrem Verkauf verdient haben. Sehr wenig für eine Familie mit fünf Kindern. Hamdi besitzt nicht einmal ein Haus, das er verkaufen könnte, sondern wohnt zur Miete. In seiner Straße haben bereits drei Hausbesitzer verkauft. Verlassen will er das Viertel dennoch nicht. Am Abend wird er zu Sükrü in die Teestube gehen, um zu hören, was der Verein gegen die bedrohlichen Entwicklungen zu unternehmen gedenkt.