Kein Rückruf

An einen Freund von karin karakasli

An jenem Freitag habe ich dich angerufen. Du warst sehr beschäftigt. »Ich rufe zurück, sobald ich eine ruhige Minute finde«, hast du gesagt. Ich lief ein biss­chen weiter, Besorgungen machen. Gerade war ich mit einem Kilo Hackfleisch in der Hand aus einem Metzgerladen getreten, als mein Telefon wieder klingelte. »Guten Tag, Karin Hanim«, sagte eine fremde Stimme, die zu einem Fernsehsender gehörte, »wir haben Hrant Dink verloren. Mein Beileid.«

»Was reden Sie für einen Unsinn«, stammelte ich, »ich habe eben noch mit ihm gesprochen.« Aber ich will nicht ungerecht sein: Meine Antwort war nicht weniger sinnlos. Wir wissen doch, dass solche Dinge immer in wenigen Augenblicken geschehen. Aber, Hrant, wer kann schon eine solche Mitteilung auf Kommando akzeptieren?

Doch das Leben ist hartnäckig. Kaum hatte ich aufgelegt, klingelte das Telefon erneut. Ich konnte nicht rangehen, weil mich ein Rudel von Straßenhunden umzingelt hatte und nach meiner Tüte mit dem Hackfleisch schnappte. Und du weißt, wie klein ich bin, jeden Moment hätten sie auf meinen Kopf springen können. So stand ich da, inmitten der Hunde, mit einer Tüte Hackfleisch in der Hand und einem klingelnden Telefon in der Tasche.

Dann schrie ich drauflos. »Helft mir, befreit mich von ihnen!« Auf dem Bürgersteig gegenüber stand ein weißhaariger Mann, ich kann ihn nicht vergessen. Er schaute mich einfach nur an. Auch sonst kam mir niemand zu Hilfe.

Noch immer klingelte das Telefon. Eine Kette von unglücklichen und grotesken Zufällen. Am Ende warf ich die Fleisch­tüte weg und begann zu rennen. Du glaubst mir doch, dass mir in diesem Moment alles klar wurde. Wir hatten dich wirklich verloren.

Seit diesem Freitag sind einige Tage vergangen. Obwohl die Zeit ein wenig aus den Fugen geraten ist. Augenblicke dehnen sich zur Unendlichkeit, Stunden werden Sekunden, aber irgendwie vergeht die Zeit doch.

In Malheften gibt es diese dünnen, tüllähnlichen Blätter. Man sieht das darunter liegende Bild nur verschwommen und muss das Blatt entfernen, um das Bild richtig zu erkennen. Ungefähr so ist in diesen Tagen mein Verhältnis zum Leben draußen, zwischen den Menschen und mir steckt ein solches Blatt Papier, das zu entfernen mir noch der Mut fehlt. Wenn ich Menschen begegne, die ich kenne, kann ich Namen und Gesichter nicht zuordnen. Keinen Satz kann ich zu Ende bringen. Dabei hörte ich doch immer so gerne Menschen zu, insbesondere dir. »Mach was, Karakasli«, sagtest du, »sei schöpferisch.« Weißt du eigentlich, dass du wie ein Amen zum Abschluss eines Gebets jedes unserer Gespräche mit den gleichen Worten zu beenden pflegtest? Ich habe mein Bestes gegeben, mich daran zu halten.

Du solltest mich jetzt sehen, wie aufgewühlt ich bin. Du würdest dich herrlich über mich amüsieren, aber du nutzt die Gelegenheit nicht.

»Ich rufe zurück, sobald ich eine ruhige Minute finde«, hast du mir gesagt. Mein Hrant, Ruhe haben sie dir nie gelassen. Nicht einmal dein Leben haben sie dir gelassen.

Du wolltest mich anrufen. Du hast es nicht getan. Das ist alles.

Karin Karakasli ist Schriftstellerin und Autorin der Zeitung Agos, als deren Chefin vom Dienst sie bis 2005 arbeitete.