Rot-grüne Lebenslügen

Aus dem »Fall Kurnaz« ist eine Affäre Steinmeier geworden. von richard gebhardt

Es gibt politische Ereignisse, deren Folgen erst wie durch einen Zeitschalter verzögert sichtbar werden. Der bislang eher als Randthema behandelte Fall des ehemals in Guantánamo inhaftierten »Bremer Taliban« (Bild), Murat Kurnaz, der im August 2006 nach einer Intervention der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in seine norddeutsche Geburtsstadt zurückkehren konnte, entfaltet erst jetzt seine volle Wirkung. Aus dem »Fall Kurnaz« ist eine handfeste Affäre Steinmeier geworden.

Nicht nur der Bericht des EU-Parlamentsausschusses über die Aktivitäten der CIA in Europa warf Fragen über die Rolle von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) auf. Im Fernsehmagazin »Monitor«, in der Süddeutschen Zeitung und anderswo wurde ein Vermerk aus dem Innenministerium vom 30. Oktober 2002 präsentiert. Demzufolge hatte sich der damalige Kanzleramtschef in der so genannten Präsidentenrunde der Geheimdienste gegen die Rückkehr des inhaftierten Kurnaz ausgesprochen.

Die Vorwürfe sind gravierend. »Denn bewahrheitet sich, dass rot-grüne Politiker das Leiden des in Deutschland geborenen und aufgewachsenen türkischen Staatsbürgers um fast vier Jahre wissentlich und willentlich verlängert haben, wäre das Ansehen der einstigen Minister Otto Schily und Joschka Fischer unwiederbringlich ruiniert«, kommentierte die Zeit.

Je widersprüchlicher der Informationsgehalt der auf dem Nachrichtenmarkt gehandelten Spekulationen, Interviews und geschickt lancierten »Aktenfunde« wurde, desto klarer gestaltete sich das Urteil jener Blätter, die die rot-grüne Regierung unterstützt hatten. »Rot-Grün nachhaltig beschädigt«, kommentierte die taz die Ereignisse, und der Leitartikler der Zeit urteilte: »›Guantánamo-Gate‹ würde zudem eine tiefe moralische Krise hervorrufen und für lange Zeit zum Inbegriff einer zynischen und menschenverachtenden Politik werden.« »Zynisch« und »menschenverachtend« – die altbekannten Vokabeln aus dem Arsenal des hilflosen Linksliberalismus verweisen auf die Schwierigkeiten der Kritiker Steinmeiers. Denn die Vorwürfe sind meist nur moralisch begründet. »Moralisch verwerflich« lautet denn auch eine typische Überschrift der taz zum Thema.

Formaljuristisch hat der Außenminister bislang wenig zu befürchten. Kurnaz besitzt, obwohl er in Bremen geboren wurde und aufwuchs, einen türkischen Pass. Die Presse wählte zur Kennzeichnung seines staatsbürgerlichen Status Wendungen wie »Bremer Türke«, »Drittstaaten-Bürger« oder »in Bremen geborener Türke«. Dass Türken in Bremen geboren werden, zeigt die ungebrochene Wirkungsmacht der Blutsbande in den Köpfen und Gesetzen der Bundesrepublik. Eine Farce, die Konsequenz der deutschen Ausländerpolitik ist. »Warum ist eigentlich die deutsche Regierung für diesen Türken zuständig?« fragte die Bild-Zeitung neben einem Foto von Kurnaz, der wie der Prototyp des vollbärtigen Fundamentalisten wirkt.

Der rot-grünen Regierung, als deren Nachlassverwalter Steinmeier gehandelt wird, wird im Nachhinein eine Unterminierung der eigenen Ziele vorgeworfen. Eine moderne Integrationspolitik sowie eine an den Menschenrechten orientierte Außenpolitik zählten zur Essenz des rot-grünen Regierungsprogramms. Kritik an den Menschenrechtsverstößen der Amerikaner wurde von Jürgen Trittin (Grüne) bis Otto Schily (SPD) besonders laut vorgetragen; der »Friedenskanzler« Schröder warb ums pazifistische Wählermilieu. Nun wird Murat Kurnaz in der Berichterstattung über den BND-Untersuchungsausschuss als Kronzeuge gegen die rot-grünen Lebenslügen in Szene gesetzt. Dass Konservative wie Volker Kauder (CDU) als dessen Anwalt auftreten, ist eine politische Komödie.

In der nachträglichen Abrechnung mit dem Menschenrechtspathos von Rot-Grün haben die Berliner Politiker einen Rollenwechsel vollzogen. Die »Kriegstreiberin« Merkel wurde zur Bewahrerin der Menschenrechte, weil sie Kurnaz aus den Händen George W. Bushs befreite, und der Außenminister des »Friedenskanzlers« zum Handlanger des Bösen, da er das Problem Kurnaz in dem berüchtigten Gefangenenlager entsorgte.

Dennoch ist ein Sturz Steinmeiers unwahrscheinlich. In diesem Jahr stehen die Ratspräsidentschaften über EU und G 8 im Zentrum der deutschen Außenpolitik. Die Demontage des Außenministers, dessen Amt im Modell BRD stets eine ebenso tragende wie populäre Rolle spielte, würde eine Destabilisierung der Koalitionsstatik bedeuten. Seine Verteidigungsstrategie ist bereits klar. Wegen des öffentlichen Drucks kann er die Angelegenheit nicht aussitzen wie Joschka Fischer den Visa-Untersuchungsausschuss. Sekundiert vom ehemaligen Innenminister Otto Schily, ergriff der Minister die Flucht nach vorn und nannte seine Kritiker in der Bild-Zeitung »infam«. Ein offizielles Angebot der USA zur Freilassung von Kurnaz habe er nicht erhalten. Zudem sei das Primat der Gefahrenabwehr entscheidend für sein Handeln gewesen.

In der Tat waren die Umstände von Kurnaz’ plötzlichem Verschwinden nur wenige Wochen nach dem 11. September 2001 und seine Nähe zum islamistischen Missionsverein »Tablighi Jamaat« wenig geeignet, die Sicherheitsbehörden glauben zu machen, er befinde sich bloß auf einer unpolitischen Tramptour durch den Orient. Kurnaz war auf dem Weg zu einer Koranschule in Pakistan, wurde dort aber abgelehnt.

Der ehemalige Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye (SPD) nahm das zum Anlass für eine Verteidigung der damaligen Politik. Im RBB-Inforadio betonte er, dass Kurnaz »als Pilger nicht nach Mekka« gegangen sei, sondern nach Pakistan, in dessen Koranschulen die »mörderischste Form des fundamentalistischen Islamismus« gepredigt werde. »Wer dort hingeht, um seinem eigenen religiösen Eifer nachzukommen, der kann sich nicht wundern, dass alle Alarmglocken klingeln.«

Doch Heye nimmt den Anfangsverdacht als Maßstab für seine heutige Betrachtung. In Pakistan wurde Kurnaz verhaftet, gegen ein Kopfgeld der US-Armee übergeben und zunächst nach Kandahar ausgeliefert. Im Januar 2002 erfolgte die Verlegung nach Guantánamo, weil er verdächtigt wurde, den islamischen Terrorismus unterstützt zu haben. Ein US-Gericht erklärte Kurnaz jedoch 2005 für unschuldig, und auch die Staatsanwaltschaft Bremen stellte im August 2006 ihre Untersuchung mit dem Ergebnis ein, der Tatverdacht habe »nicht erhärtet werden können«. Ein Tatverdacht, der aber bis heute nachwirkt. Der Mann, der jahrelang »peinlichen Verhören« ausgesetzt war, bleibt unter Generalverdacht. Dass er nach seiner Rückkehr noch vom Verfassungsschutz beobachtet wurde, fügt sich ins Bild.

Erst im März will sich Steinmeier dem Untersuchungsausschuss stellen. Bis dahin werden einige Fragen offen bleiben. Warum z.B. soll sich ausgerechnet die Präsidentenrunde der Geheimdienste 2002 ausdrücklich gegen eine Rückkehr von Kurnaz ausgesprochen haben, obwohl gar kein Auslieferungsangebot der USA vorlag? Geklärt dürfte auch dann nicht werden, wer künftig die Parallelgesellschaft aus Geheimdiensten, Verfassungsschutz und Staatssekretären überwachen und ihre »Agentenspiele« kontrollieren wird. Die Suche nach der Antwort auf diese Frage ist jedenfalls produktiver als das Jammern über rot-grüne Lebenslügen.