Türken

Über den Wandel und den Stillstand der türkischen Gesellschaft von etyen mahçupyan

In der letzten Zeit hatten sich die Besuche gehäuft, die ich gemeinsam mit Hrant der armenischen Diaspora abstatte. Und früher oder später kamen die Gespräche stets auf dieselbe Frage: Würden sich die Türken je ändern?

Die Türken seien dazu nicht imstande und würden jedem zivilisatorischen Fortschritt trotzend an ihren Eigenarten festhalten, sagten fast alle Diaspora-Armenier. Wir antworteten, dass man nicht so pauschalisieren dürfe, dass alle Teile der Gesellschaft im Wandel begriffen seien, dass sich die Sicht auf die Vergangenheit und auf den Anderen ändere. Nach solchen Diskussionen, in denen wir viele Gesprächspartner überzeugen konnten und die wir mit der Ahnung verließen, dass die Verbesserung des Verhältnisses zu den Türken auch eine Normalisierung der armenischen Identität bewirken würde, kehrten wir zufrieden in unsere Hotels zurück. Ich erinnere mich, wie euphorisch wir manchmal waren, wie wir das Gefühl hatten, lange versperrt gebliebene Tore zu öffnen und eine ganze Gesellschaft ins Freie zu tragen. Nichts konnte unsere Zuversicht erschüttern.

Dabei war uns die Auffassung, dass die Türken bleiben würden, wie sie waren, keineswegs fremd. Seit meiner Kindheit und mehr noch, seit ich mich mit Politik beschäftigte, hatte mir mein Vater zu erklären versucht, warum er meine Mühe für vergebens hielt und warum von den Türken nichts zu erwarten sei. Das gleiche hatte sein Vater ihm gesagt, und er hatte letztlich Recht behalten…

Jetzt denke ich, dass unsere Hoffnungen nur die Wiederholung dieser immergleichen Erfahrung waren. Vielleicht muss jede Generation von Armeniern auf Veränderungen hoffen, bevor sie resigniert aufgibt. Vielleicht fordern uns die Türken mit dem Mord dazu auf, uns nichts mehr vorzugaukeln.

Selbst wenn ich die Menschen betrachte, die für Hrant auf die Straße gingen, und mir einrede, dass dies »meine Türken« sind, quält mich die Frage, ob es noch andere Türken gibt als die scheinbar unverbesserlichen. Einerseits denke ich: Wie könnte ich es ignorieren, dass es unter denen, die ich »Türken« nenne, viele Menschen gibt, mit denen ich meine Gedanken und mein Leben teile? Andererseits frage ich mich: Wie könnte ich es vergessen, dass es am Ende stets die anderen Türken sind, die die Dinge bestimmen? Wie auch immer, es geht nicht länger um den »Armenier-Konflikt« oder den »Völkermord«. Es geht um eine Sache zwischen den Türken. Als Armenier erwarten wir aber gespannt und bange, welche Türken die Zukunft bestimmen werden.

Niemand kann erwarten, dass wir für jene Türken, die Hrant nicht ertragen konnten und ihm nach dem Leben getrachtet haben, Verständnis zeigen und ihnen die Hände reichen. Der Mörder soll noch minderjährig sein. »Darum geht’s doch«, hätte Hrant gesagt, »oder sind die Türken etwa erwachsen?«

Dass wir in einer Gesellschaft lebten, deren Reife verhindert worden war, war uns bewusst. Aber vielleicht ist es an der Zeit zu fragen, ob wir es mit einer Gesellschaft zu tun haben, die ihre Identitätsprobleme in ge­walt­tätiger Weise auf andere projiziert. Die Aufgabe, vor der »meine Türken« stehen, ist klar: Es gilt, den Selbstmord einer Gesellschaft zu verhindern, die mit rasender Geschwindigkeit auf dem Weg in eine kollektive Psychose ist. Und es gilt, ein Klima zu schaffen, in dem sich jeder als Mensch fühlen kann. Werden sich die Türken je ändern? »Lass den Unsinn, jeder Mensch kann sich ändern«, hätte Hrant gesagt und meine Zweifel beiseite gewischt.

Etyen Mahçupyan ist Buchautor und Nachfolger von Hrant Dink als Chefredakteur der Zeitung Agos. Der hier leicht gekürzte Text erschien zuerst in der islamisch-konservativen Tageszeitung Zaman.