Nützliche Schlamperei

Bei den Prozessen wegen des Polizeieinsatzes beim G8-Gipfel 2001 in Genua ist kein Ende abzusehen. Wichtiges Beweismaterial wurde vernichtet, und die Verjährungsfristen rücken näher. von jens herrmann

Wenn in einem der bedeutendsten Prozesse gegen führende italienische Polizeibeamte die beiden wichtigsten Beweismittel plötzlich verschwinden, so liegt die Vermutung nahe, dass es sich nicht einfach um Schlamperei bei Polizei und Justiz handelt. Dies geschah im Verfahren gegen 29 Polizisten in Genua, die in die »Molotow-Affäre« verwickelt sind.

Den Beamten werden zahlreiche Straftaten vorgeworfen, die sie während des G8-Gipfels im Juli 2001 begangen haben sollen: unter anderem Urkundenfälschung, falsche Verdächtigung und Beweismittelfälschung. In der Nacht vom 21. auf den 22. Juli sollen sie während einer Polizeirazzia zwei Molotowcocktails in die Schule »Armando Diaz« gebracht haben, die von Demonstranten als Schlafstätte genutzt wurde. Die Polizei wollte die Flaschen zunächst als Beweise für die angebliche Bewaffnung der Demonstranten ausgeben.

Während des 71. Verhandlungstags am 17. Januar sollten die sichergestellten Brandsätze Gegenstand der Verhandlung sein. Doch als der Staatsanwalt die Beweismittel aus der Asservatenkammer holen lassen wollte, stellte sich heraus, dass sie nicht mehr auffindbar sind. Zwar ordnete der Richter an, Polizei und Justiz sollten nach den Asservaten suchen, doch ihre Spur verliert sich offenbar bereits im Jahr 2002. Daraufhin erreichte ein Brief das Gericht, in dem der selbst in zwei Verfahren angeklagte Chef der politischen Polizei (Digos) von Genua erklärt, alle während des G8-Gipfels gefundenen Molotowcocktails seien aus Sicherheitsgründen vernichtet worden. Vielleicht seien auch die des Verfahrens gegen die 29 Polizisten dabei gewesen. Nun laufen auch gegen seine Abteilung Ermittlungen wegen der Vernichtung von Beweismitteln.

Nach dem Stand der Ermittlungen waren die Brandsätze im Einsatzwagen des ebenfalls angeklagten stellvertretenden Polizeipräsidenten von Rom, Pietro Troiani, zur Diaz-Schule gekommen. Sein Anwalt Alfredo Biondi, der ehemals unter der Regierung von Silvio Berlusconi Justizminister war, forderte während des Prozesses am 17. Januar vehement die Vorführung der Beweisgegenstände in der Verhandlung. Als bekannt wurde, dass sie nicht auffindbar sind, sagte er der Presse, der Prozess sei damit schon so gut wie beendet.

Das sieht Carlo Quartino anders. Er arbeitet für das Genova Legal Forum, einen Zusammenschluss von Anwälten, die die Demonstranten in dem Prozess vertreten. Glücklicherweise seien die beiden Brandsätze bereits kurz nach dem G8-Gipfel auf Fingerabdrücke untersucht und fotografiert worden, sagte Quartino der Jungle World. Eine Einstellung des Verfahrens wegen des Verschwindens der Molotowcocktails schließt er aus. Bereits nach einer Woche habe der Vorsitzende Richter den Prozess mit den Aussagen der Polizisten Valerio Donini und Maurizio Piccolotti fortgesetzt. Die beiden hatten behauptet, die Molotowcocktails am Vortag des Einsatzes in der Diaz-Schule an anderer Stelle gefunden und dann weitergegeben zu haben. Auf Fotos wollen sie die Flaschen wiedererkannt haben.

Alfredo Biondi hat allen Grund, für seinen Mandanten alle Register zu ziehen, denn für Troiani sieht es im Prozess finster aus. Sein damaliger Fahrer Michele Burgio hat gegenüber der Staatsanwaltschaft bereits ausgesagt, dass er Troiani und die Plas­tiktüte mit den Flaschen zur Diaz-Schule gefahren habe. Zudem zeigen zahlreiche Filmaufnahmen Troiani in der Schule mit der blauen Tüte und sogar dabei, wie er die Dienstabzeichen von seiner Uniform entfernt, vermutlich um die Brandsätze selbst in der Schule zu deponieren, ohne von Kollegen erkannt zu werden.

Dabei ist unklar, wer Troiani überhaupt diesen Einsatz befohlen hatte, denn er gehörte keiner der dort operierenden Einheiten an und war an anderer Stelle mit logistischen Aufgaben betraut. Ein Schlüssel zur Klärung dieser Frage kann die Tatsache sein, dass er einige Monate vor dem G8-Gipfel in Genua der Einheit des ebenfalls angeklagten Vincenzo Canterini angehörte.

Canterinis Einheit hatte bei dem Einsatz in der Unterkunft der Demonstranten in der ersten Reihe gestanden. Durch die Zeugenaussagen der Betroffenen, deren Vernehmung sich über fast ein Jahr hinzog und nun beendet ist, wurde seine Spezialeinheit eindeutig als die Schlägertruppe identifiziert, die in der Schule 93 Demonstranten teilweise lebensgefährliche Verletzungen zugefügt hatte. Die Schläger selbst stehen jedoch nicht vor Gericht, da sie vermummt waren und daher ihre Identifizierung nicht möglich war.

Auch die nächsten Monate im Diaz-Prozess werden interessant bleiben. Der Staatsanwalt erklärte, er habe bei seinen Recherchen herausgefunden, dass auch der angebliche Angriff von Demonstranten auf eine Polizei-Kolonne vor der Schule, der angeblich der Grund für die Polizeiaktion gewesen sein soll, nicht stattgefunden habe. Ein weiterer interessanter Punkt dürfte die Aussage des Polizisten Massimo Nucera sein, der Anzeige erstattete, weil er angeblich in der Schule mit einem Messer angegriffen wurde. Dumm nur, dass der Messerschnitt in seiner Uniformjacke bei einer kriminologischen Untersuchung analysiert wurde. Der Schnitt ist nach Aussage der Gutachter auf einem festen Untergrund, etwa einer Tischplatte, in die Jacke gemacht worden.

Neben dem Verfahren um die Vorfälle in der Diaz-Schule kommt auch das zweite G8-Verfahren gegen Staatsbeamte voran. Wegen zahlreichen Fälschungsdelikten, Nötigung, Amtsmissbrauch und Übergriffen bis hin zu Folterungen in der Polizeikaserne von Bolzaneto stehen hier 44 Polizisten, Ärzte und medizinische Helfer vor Gericht. Mehr als die Hälfte der rund 270 dort zwischen dem 19. und 23. Juli 2001 gefangen gehaltenen Demonstranten war im vergangenen Jahr zu Zeugenaussagen nach Genua gekommen. Seit Jahresbeginn werden die Aussagen von weit über 100 Polizeibeamten aufgenommen. Deren Anwälte haben im Prozess vor allem ein Interesse: Zeit zu gewinnen. Denn die meisten der im Prozess verhandelten Delikte haben eine Verjährungsfrist von nur 7,5 Jahren. Wenn das Gericht bis zum Frühjahr 2009 nicht zu einem Urteil kommt, wird die Verjährung einsetzen, und die vernommenen Polizisten können nicht mehr belangt werden.

Seit dem 16. Januar wird zudem die Verhandlung gegen 25 Demonstranten fortgesetzt, denen die Staatsanwaltschaft Verwüstung und Plünderung vorwirft. Ihnen drohen Höchststrafen von 15 Jahren Gefängnis. Wegen der Abberufung eines Richters ruhte das Verfahren rund ein Jahr.

Die den Demonstranten vorgeworfenen Handlungen ereigneten sich im Anschluss an einen Angriff der Polizei und die gewaltsame Auflösung einer genehmigten Großdemonstration des Netzwerks »Tute Bianche« durch Polizeieinheiten der Carabinieri. Das äußerst brutale Vorgehen der Polizei hatte in den Straßen um die Piazza Alimonda zu stundenlangen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei geführt, in deren Verlauf der Demonstrant Carlo Giuliani erschossen wurde. Der damalige Carabiniere und vermeintliche Schütze Mario Placanica hatte kürzlich in einer Fernsehsendung behauptet, er habe gar nicht auf Giuliani geschossen (Jungle World 50/2006). Die Verteidigung der 25 Angeklagten erwägt nun, Placanica erneut als Zeugen vorzuladen. Bei einer vorherigen Vorladung im Prozess hatte er von seinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch gemacht.