Lieber nicht tanzen gehen

Der Antikapitalismus der Globalisierungskritik will nicht über den Kapitalismus hinaus, sondern hinter ihn zurück. von mario möller

Einer jeden praktischen Intervention stehen eine angemessene Analyse der gegebenen Situation und ihre kritisch-theoretische Reflexion gut zu Gesicht. In diesem Sinne wäre Kritik bereits Praxis und Erkennt­nis Index des Richtigen. Die Proteste gegen den G 8-Gipfel in Heiligendamm jedoch haben mit Praxis in diesem Sinne nichts gemein. Darum rate ich aus der Perspektive der Kritischen Theorie, die von Bewegungslinken immer schon als elitär oder, um eine Formulierung von Petra Fischer aus der Jungle World (Nr. 04/07) aufzugreifen, als »geistiger Snobis­mus« abgetan wurde, davon ab, an dem »Tanz« in Heiligendamm (ebenfalls Petra Fischer) teilzunehmen. Und das hat nicht nur etwas mit der erwartbar schlechten Musik zu tun, die zum »Tanz« aufspielen wird, sondern hat politische Gründe.

In Heiligendamm wird man sich unter dem Banner des Antikapitalismus versammeln. Man wird zusammen mit Leuten demonstrieren, die einen »sofortigen Abzug der Besatzungstruppen aus Irak, Afghanistan und Palästina« fordern, wie etwa das »Anti-G8-Bündnis für eine revolutionäre Perspektive«. Man wird sich, wie es wiederum im Aufruf der Gruppe »G8-Landwirtschaft« heißt, für »kleinbäuerliche Bewegungen im Süden« und »indigene Existenzgrundlagen« engagieren und ein Recht auf »Ernährungssouveränität« und den »freien Zugang zu einer ausreichenden Menge gesunder, nahrhafter und kulturell üblicher Lebensmittel« fordern. Derlei Forderungen lassen die Schlussfolgerung zu, dass es sich bei dem Versprechen, eine andere Welt sei möglich, in Wahrheit um eine Drohung handelt.

Ein solcher auf den Hund gekommener Antikapitalismus ist der Ausdruck einer allgemeinen Regression; er will nicht über den Kapitalismus hinausgelangen, sondern hinter ihn zurückfallen. »Die Kapitalisten sind gezwungen«, schreibt Theodor W. Adorno über den Marxschen Begriff der Dialektik, »zu versuchen, den Mehrwert zu akkumulieren. Zu diesem Zweck sind sie getrieben, Maschinen zu entwickeln, um lebendige durch tote Arbeit zu ersetzen. Wenn nicht, dann unterliegen sie im Konkurrenzkampf.« Das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis entwickelt die Produktionsmittel beständig weiter, die, würden sie vernünftig angewandt, es ermöglichen würden, dass niemand an Hunger und Mangel leidet. Zugleich setzt dieser Prozess Arbeitskraft frei, erzeugt die Bedingungen von Krisen und offenbart das barbarische Potenzial der bürgerlichen Gesellschaft.

Da der Kapitalismus eine historisch spezifische Form gesellschaftlicher Vermittlung durch Arbeit ist, führt er zu einer spezifischen Form von gesellschaftlicher Herrschaft, in der die Menschen unpersönlichen und strukturellen Direktiven unterworfen sind. Diese Totalität ist allen Subjekten vorgeordnet. Sie ist eine von den Subjekten selbst erzeugte und reproduzierte Gesetzmäßigkeit. Bei Strafe des Untergangs muss sich jeder dem abstrakten Tausch­gesetz unterwerfen. In dieser Hinsicht ist der Unterschied zwischen denen, die von diesem Prozess profitieren, und jenen, die daran zugrunde gehen, nur ein geringfügiger.

Deshalb geht es darum, wie Adorno ausführt, »diesen blinden dialektischen Prozess, der auf die Zerstörung des Ganzen hinausläuft, so in den Griff zu bekommen, um das Ganze in eine höhere Form der Produktion aufheben zu können«. Doch die »ewige Unsicherheit« befördert eine nach »rückwärts gestaute Sehnsucht nach agrarischen und handwerklichen Verhältnissen«. Diese Verklärung aber ist falsch und eine Rückkehr zu den verblichenen Verhältnissen nicht möglich. Deshalb hält ­Adorno auch alle kollektiven Vorstellungen, die sich entgegen der Entwicklung der Produktivkräfte am Leben erhalten und sich gegen diese richten, für gewalttätig und repressiv.

Was ist damit gesagt? Eine in kommunistischer Absicht formulierte Kritik am wertverwertenden Wahnsinn ist nur dann als eine solche kenntlich, wenn sie jegliche Verklärung so genannter ursprünglicher Formen der Produktion oder des Zusammenlebens zurückweist und sich vergegenwärtigt, dass die höheren Formen der Produktion die notwendige Voraussetzung für eine Aufhebung des Kapitalismus sind. Der Kapitalismus ist auf seinem höchsten Niveau aufzuheben, soll etwas anderes herauskommen als Tugendterror, Verzicht und selbstverwaltetes Elend.

Jede emanzipatorische Überlegung muss deshalb von der bürgerlichen Gesellschaft ausgehen, da diese zumin­dest die Aussicht auf das private Glück bereithält und in ihrem individualistischen und antifeudalen Verständnis die Idee einer freien Assoziation der Individuen und die Möglichkeit eines besseren Lebens impliziert.

Der regressive Antikapitalismus hingegen macht sich zum Wegbereiter und Komplizen eines Prozesses der negativen Aufhebung des Kapitals. Das beginnt bereits mit dem Appell, sich zurückzuhalten und vermeintlich übermäßige Bedürfnisse erst gar nicht zu artikulieren. Anstatt die Verlockungen der Kulturindustrie und der Warenwelt zu erkennen und darauf zu drängen, dass diese Versprechen eingelöst werden – was zwangsläufig über die bestehenden Verhältnisse hin­aus­wei­sen würde –, propagiert man den Verzicht auf Luxus.

Antikapitalismus verkörpert oft nichts anderes als den Wunsch nach einem Rückfall hinter das bürgerliche Glücksversprechen. Die Gleichheit, die er fordert, ist eine Gleichheit im moralisierenden und repressiven Zwangskollektiv. Kommunismus wäre demgegenüber geradezu die Ungleichheit, die aus einer schrankenlosen Verwirklichung des Individuums entsteht, das freien Zugang zu allen verfügbaren gesellschaftlichen Reichtümern hat.

Der Kritiker muss sich schon deshalb positiv auf den gesellschaftlichen Reichtum und das bürgerliche Glücks­versprechen beziehen, weil diese das Ergebnis eines Prozesses der Emanzipation von der ersten Natur, aber auch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit innerhalb menschlicher Lebenszusammenhänge wie Familie und Volk sind.

Auch wenn diese Entwicklung das Individuum negativ als Charaktermaske und Arbeitskraftbesitzer erschafft, so versetzt sie das Individuum zugleich erst in die Lage, dem Zwangskollektiv zu entkommen, in das es hineingeboren wurde. Diese Entwicklung erlaubt es den Individuen, nicht alles kommentarlos hinzunehmen, und versetzt sie potenziell in die Lage, einen Prozess mitzugestalten, der zu einem erfüllten Leben führt. Es geht um die sprichwörtliche Flucht aus dem Dorf in die Stadt; die Transformation der Gemein­schaft in Gesellschaft, die jenen Zivilisationsprozess ausmacht, der die Bedingung der Möglichkeit eines besseren Lebens beinhaltet – eine Möglichkeit, die das spätkapitalistische Subjekt schon fast selbst verleugnet, indem es dazu neigt, das Traditionelle als das gute Ursprüng­liche zu verklären.

Beklagt wird nicht die trostlose Existenz als Warensubjekt und Charaktermaske. Stattdessen gelten der Genuss und die Genussfähigkeit als verderbliche Laster der westlich-dekadenten Zivilisation. Gepriesen wird die allgemeine Erniedrigung zu einem kargen Leben, das besser sei als der Luxus der anderen. Diese allgemeine Tendenz des spätbürgerlichen Subjekts wird von vielen Bewegungslinken verstärkt. Man kommt nicht umhin, im Treiben der Globalisierungskritik jene Sehnsucht nach dem gerecht verteilten Elend und die Aufforderung zur Opferbereitschaft für das Kollektiv zu erkennen, das im gerechten und einfachen Leben die Lösung aller Probleme erblickt. Zusammengehalten wird der Laden dadurch, dass man den Individualisten für den bedrohlichen und den äußeren Feind hält.

»Indigene Existenzgrundlagen« und »kleinbäuerliche Strukturen« zu fordern, bedeutet nichts anderes, als die Scholle gegen den schon von Marx begrüßten Weltmarkt zu verteidigen. Es geht hier also nachgerade nicht darum, den warenproduzierenden Wahnsinn aufzuheben und ihn in eine höhere Form der Produktion zu überführen. Es geht diesen Widerständlern auch nicht um eine humane Form von Gesellschaft. Vielmehr reden sie einer Subsistenzwirtschaft das Wort, die an die Region und die Gemeinschaft gekettet ist und die gerade einmal das Überleben in Bescheidenheit sichern soll. Ginge es tatsächlich um Befreiung und Emanzipation, dürfte man diese repressiven Kollektive nicht romantisieren, sondern müsste jeglichen Bezug auf Gemeinschaften verweigern.

Die in der Folge der Totalisierung der westlichen Gesellschaften ohnehin bröckelnde Subjektivität des spätbürgerlichen Subjekts soll dieser Ansicht zufolge abgeschafft werden. Dem wäre der positive Bezug auf erreichbares individuelles Glück entgegenzusetzen. Allein die Individuation, wie kümmerlich auch immer entwickelt, wäre die Bedingung der Möglichkeit. Der ganze antikapitalistische Budenzauber richtet sich jedoch in Wahrheit gegen das Individuum.

Bei solcher Art Globalisierungskritik handelt es sich nicht um eine radikale Kritik der totalitären Tauschgesellschaft. Antizivilisatorisches und antiwestliches Ressentiment kulminieren dabei zu einem »faschistischen Wunschbild« (Adorno) all jener, die sich betrogen fühlen und stattdessen selbst an den Tisch wollen.

Man möge sich vorstellen, was eine Demokratisierung der Macht unter diesen Vorzeichen bedeuten würde: die Gemeinschaft vom Verfolgungs- und Strafbedürfnis besessener spätbürgerlicher Subjekte, die sich gegen die vermittelte und anonymisierte Gesellschaft wenden und für einen vermenschlichten Kapitalismus einstehen, der garantiert nichts anderes zu bieten hat als Elend.

Mario Möller arbeitet in der Thüringer Gruppe »cohiba.mini« mit.