Die Erben des kalten Kriegs

Die Mehrheit der Bevölkerung fürchtet, das US-Raketenabwehrsystem auf polnischem Boden könnte die Sicherheit gefährden. Die polnische Regierung wird ihm wohl dennoch zustimmen. von oliver hinz

Auch ohne die Einmischung der ungeliebten russischen Regierung fällt die Entscheidung schwer: Soll Polen es den USA erlauben, dort Militärbasen für ein Raketenabwehrprogramm zu errichten? Die Mehrheit der polnischen Bevölkerung ist nicht begeistert von der Idee, das Land für das amerikanische Schutzprogramm zur Verfügung zu stellen. Und die russische Regierung reagierte auf die offizielle Anfrage der US-Regierung nach einer Bauerlaubnis mit harscher Kritik und unverhüllten Drohungen.

Der Kommandeur der russischen Raketentruppen, Nikolaj Solowzow, warnte, die Orte für die Stationierung des US-Abwehrsystems in Polen und Tschechien könnten in die Zieldatei für russische Raketen aufgenommen werden. Der Generalstabschef der russischen Streitkräfte, Jurij Balujewskij, drohte mit der Kündigung des im Jahr 1987 zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossenen Vertrags zur Abrüstung der atomaren Kurz- und Mittelstreckenraketen. Bereits Anfang Februar entwarf der russische Präsident Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz das Schreckensszenario eines neuen Wettrüstens.

Die US-Regierung will in Polen Abfang­raketen aufstellen und in Tschechien eine dazugehörige Radaranlage errichten. Sowohl die Raketen als auch die Anlage sollen ab 2011 einsatzbereit sein. Es wären die einzigen Standorte für das National Missile Defense außerhalb der USA. Nur in Alaska und Kalifornien sind bisher Teile dieses Raketenabwehrsystems stationiert. Die geplanten Stützpunkte in Polen und Tschechien erhöhten »die Sicherheit des vereinten Europa wesentlich«, behauptete der Staatssekretär für Europa-Angelegenheiten im US-Außenministerium, Daniel Fried. Offiziell soll das Abwehrsystem ­Europa vor iranischen und nordkoreanischen Interkontinentalraketen schützen.

Über das US-Abwehrprogramm wird in Polen seit der Regierungsübernahme der rechtskonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) Ende 2005 diskutiert. Der damalige Ministerpräsident Kazimierz Marcinkiewicz veröffentlichte erste Pläne für das US-Projekt, an dem offenbar auch die linke Vorgängerregierung interessiert war. Zu formellen Gesprächen über das Raketenabwehrsystem kam es aber nie – auch nicht, als Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski der amerikanischen Regierung im September einen Besuch abstattete.

Die US-Raketenpläne sind in Polen nicht beliebt. Einer aktuellen Umfrage zufolge lehnen 55 Prozent der Befragten den Bau der Abschussrampen ab. Nur 28 Prozent befürworten die Stationierung von Teilen des Raketenabwehrsystems. Sehr schnell wurde vor allem darüber diskutiert, ob Polen durch das Projekt erst recht zum Ziel von Angriffen werden könnte. Schließlich müssten Terroristen im Kampf gegen die USA zuerst die Abfangraketen ausschalten. Doch bereits bei der Beteiligung Polens am Irak-Krieg wurde deutlich, was auch für die Stationierung der Raketen gilt: Die überwältigende Mehrheit der polnischen Bevölkerung war gegen die Teilnahme am Krieg, dennoch gab es keine Massendemonstrationen. Auch diesmal ist es so. Die Mehrheit der Bevölkerung ist gegen das US-Raketenabwehrsystem, aber zu Massenprotesten kommt es nicht.

Lange hielten sich Staatspräsident Lech und Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski (beide PiS) mit klaren Aussagen zu dem Raketenabwehrsystem zurück. Erst beim Besuch seines tschechischen Amtskollegen Mirek Topolanek in Warschau am Montag vergangener Woche befürwortete der Ministerpräsident die Stationierung von Teilen des Systems. »Der Bau des amerikanischen Raketenabwehrsystems liegt im gemeinsamen Interesse von Tschechien und Polen. Wir waren uns einig, dass unsere Antwort auf das Angebot der USA höchstwahrscheinlich positiv ausfallen wird«, fasste Topolanek das Gespräch zusammen. Kaczynski ergänzte mit Blick auf Russland: »Zu behaupten, dass dies auf eine Veränderung des militärischen Gleichgewichts ziele, ist ein völliges Missverständnis.«

Allerdings ist das US-Projekt sogar innerhalb der polnischen Regierung umstritten. Andrzej Lepper, stellvertretender Ministerpräsident und Landwirtschaftsminister, forderte bei einem Besuch in Moskau ein Referendum zu diesem Thema. Seine populistische Partei Samoobrona (Selbstverteidigung) lehnt die US-Abfangraketen wie schon die Beteiligung am Irak-Krieg ab. Zu einem Referendum wird es jedoch nicht kommen. Lepper bleibt trotzdem in der Regierung. Erst vor kurzem überstand er im Parlament einen von der Opposition gestellten Misstrauensantrag.

Die größte Oppositionspartei, die rechtsliberale Bürgerplattform, hat sich nach langem Zögern dazu durchgerungen, das Raketenabwehrsystem offiziell abzulehnen. Begründet wird dies etwas verschämt damit, dass das Projekt von Amerika ohnehin nicht verwirklicht werden könne, da es in den USA auf große Vorbehalte stoße.

Dass die USA ihr Raketenabwehrsystem gerade in Polen und Tschechien errichten wollen, hängt immer noch mit dem Ende des Kalten Kriegs zusammen. Das polnische Verhältnis zu den USA ist seit Jahren sehr gut. Das Ende der poststalinistischen Diktaturen im ehemaligen Ostblock wird in Polen eher dem US-Präsidenten Ronald Reagan als seinem sowjetischen Amtskollegen Michael Gorbatschow zugeschrieben. Und die jetzige Regierung legt Wert auf gute Beziehungen zu den USA. Doch Staatspräsident Kaczynski gibt sich auch hier populistisch. So schloss er vor einem Jahr die Einführung einer Visumpflicht für US-Bürger nicht aus. Langfristig sei es nicht hinnehmbar, dass Amerikaner visumfrei nach Polen reisen könnten, polnische Bürger für einen Besuch in den USA aber ein Visum beantragen müssten. Schon Anfang 2004 hatte er, damals noch als Warschauer Bürgermeister, aus Protest gegen die strengen Sicherheitsbestimmungen an den US-Flughäfen eine USA-Reise abgesagt. »Solange die Polen nicht wie Verbündete der USA behandelt werden«, werde er auf Aufenthalte dort verzichten.

Die Verhandlungen mit der amerikanischen Regierung sollen im März beginnen. Vor allem geht es um die Stationierung von Patriot-Raketen. Denn nur diese können die US-Abfangraketen ausreichend schützen. Daneben stellt sich die Frage nach dem Status des US-Militärstützpunkts. Haben Polen Zutritt, oder ist er exterritoriales Gebiet? Schließlich soll auch über die polnische Forderung nach Aufhebung des US-Visumzwangs verhandelt werden.

Der moderate PiS-Politiker Pawel Zalewski, der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses im Parlament, hält die Beteiligung am US-Raketenabwehrsystem für die wichtigste Entscheidung in der polnischen Außenpolitik seit dem Nato-Beitritt vor acht Jahren. Bis heute wird vor dem Warschauer Präsidentenpalast stolz täglich die Nato-Flagge gehisst. Zalewski befürchtet, eine Zustimmung zum US-Projekt könne einen »schlechten Eindruck auf die europäischen Partner« machen.

Offensichtlich ist es bereits, dass die Kritik aus Russland nicht nur einfach so abgetan werden kann, sogar ein neues Wettrüsten scheint möglich. Im vergangenen Herbst antwortete Russland auf den Kauf von 48 US-Kampfjets durch Polen mit der Stationierung von Luftabwehr-Raketen vom Typ S-300 in Weißrussland, direkt an der Grenze zu Polen.