Train Wreck

Wie sieht es aus, wenn ein Gericht in Florida über den Ort der Beerdigung von Anna Nicole Smith entscheidet? Unser Reporter david reed war dabei

Es war ein harter Tag. Zum einen – es hatte sich schon abgezeichnet, aber zuverlässig weiß ich es erst jetzt – werde ich nächstes Jahr meinen Dozentenjob los sein, was bedeutet, dass ich nach einer neuen Karriere Ausschau halten muss. Zum anderen kann ich mich nicht entscheiden, ob ich nach Florida zur Anhörung über Anna Nicole Smith’s Beerdigung fliegen soll.

Ich glaube, ich habe es anlässlich des Moussaoui-Verfahrens schon erwähnt, es sind schlechte Zeiten für Neunziger-Jahre-Old-School-Journalisten. Mir ist klar, dass ich dafür eigentlich noch zu jung bin, aber ich bekomme nun mal einen verklärten Blick, wenn ich an die guten alten Zeiten denke, als jeder wusste, was als Nachricht zu gelten hatte. Wenn, sagen wir, ein kleiner kubanischer Junge namens Elian aus dem Ozean gefischt wurde, dann war es nur logisch, dass das ganze Land dazu Stellung nehmen und monatelang jede seiner Bewegungen verfolgen würde.

Heutzutage gibt es viele Storys gleichzeitig, und es ist schwierig, sich zu entscheiden, mit welcher man anfangen soll. Vor zwei Wochen gab es ein großes Hallo wegen einer Astronautin, die in Windeln querfeldein durch die Hälfte der USA fuhr, um ihre Konkurrentin mit Luftpistole, Stahlhammer und Messer zur Rede zu stellen, aber das scheint schon so gut wie vergessen angesichts anderer Neuigkeiten, wie etwa, dass sich Britney Spears den Schädel rasieren ließ und sich (erneut?) auf Entziehungskur begab. Als ob das nicht genug wäre, ist da noch das Libby-Verfahren (Jungle World 45/05), in dem gerade die Beratungen der Jury begonnen haben.

Was mich aber am Tage zuvor an den Fernsehsessel fesselte, war die Anhörung über die Beerdigung von Anna Nicole – endlich eine gute, altmodische Seifenoper!

Ich würde zu gerne hinfliegen, aber es ist ein weiter Weg nach Florida und schwer zu sagen, ob der sich lohnen wird. Als ich ein bisschen im Internet recherchiere, stoße ich auf ein Zitat der Fernsehjournalistin Rita Cosby von MSNBC. Dies sei eins der verrücktesten Mediengetümmel, das sie in letzter Zeit gesehen habe. Wow! Und diese Frau kennt sich mit Mediengetümmeln aus.

AirTran akzeptiert keine Online-Reservierungen weniger als vier Stunden im Voraus, und die Leitung bricht ständig zusammen, während ich in der Warteschleife bin. Fahre zum Flughafen; erreiche den Ticketschalter fünf Minuten bevor er schließt.

Ich habe das Abendessen ausgelassen, um es rechtzeitig zum Flughafen zu schaffen, aber AirTran stellt rücksichtsvoll jedem Passagier 14,2 Gramm »Gourmet Pretzels« (#1) zur Verfügung. Ich hätte es nachprüfen und sie auf der Serviette ausbreiten sollen, aber ich glaube, die Tüte enthielt 15 Brezeln. Die Seriennummer auf der Tüte, ordnungsgemäß notiert, ist 35406CA2E.

Der Typ neben mir liest im »Consumer Reports« einen Artikel mit dem Titel »Wenn ein Verwandter ohne Testament verstirbt«. Ich frage mich, ob er auch zu der Verhandlung will, aber dann blättert er weiter zum nächsten Stück finanzieller Weisheit. Ich warte respektvoll eine Weile ab und frage dann, ob ich das Magazin mal sehen kann. Ob er den Artikel lesen will oder nicht, ich kann die Informationen für das Verfahren brauchen. Wir kommen ins Gespräch, und obwohl ich nicht ein einziges Wort über meine Suche nach Zeichen verloren habe, schreibt er die Worte »Peak Oil Primer« (#2) in ordentlicher Handschrift auf ein Blatt Notizpapier, faltet es, gibt es mir auf bedeutungsschwere Weise und rät mir, den Begriff zu googeln. Dann beginnt er wieder zu lesen.

21. Februar, 23 Uhr

Ich werde das auf jeden Fall nachschlagen, aber erst muss ich einen Mietwagen finden. Ich weiß nicht, ob es Anna Nicoles Schuld ist, aber Mietwagen sind knapp hier. Endlich finde ich eine Autovermietung, die noch welche hat, wenngleich nur noch Geländewagen. Nach einigem Hin und Her und einer halben Stunde in der Schlange streite ich nicht, vor allem weil ich das Auto für den Preis eines Economy-Wagens bekomme. Neben dem großen Benzinverbrauch ist das einzige, was mich nervös macht, ein derart schickes Auto zu fahren. Ich muss beim Herausklettern sehr vorsichtig sein, weil ich mir beim Fußballspielen mit Ethan in der Küche den Fuß verletzt und meine entzündungshemmenden Medikamente in Baltimore vergessen habe, was die kleinste falsche Bewegung sehr schmerzhaft macht. (Notiz für mich: kein Fußball mehr in der Küche!)

Ich verlasse den Parkplatz um zwei Uhr morgens und entscheide mich, da ich nur einen Tag hier bin, für das Sightseeing statt für die Suche nach einem Hotel. Erster Halt: Broward-County-Gerichtsgebäude. Seltsamerweise ist niemand zu sehen, obwohl das Verfahren gestern bis spät in die Nacht dauerte. Also schaue ich auf die Karte, die ich auf meinen Laptop heruntergeladen habe, und fahre zum Büro des Broward-County-Gerichtsmediziners, verfahre mich – verdammt! Ich hätte zehn Dollar drauflegen sollen für einen Wagen mit GPS, aber ich finde die Gerichtsmedizin dann doch, versteckt in einer Wohnsiedung voller Sackgassen.

An einem Baum vor dem Gebäude haben Leute Nachrichten für Anna Nicole, Stofftiere und Blumen niedergelegt. Die Stelle sieht ziemlich traurig aus – schon die Abfallhaufen der Medienleute vor dem Gerichtsgebäude waren beeindruckender. Trotzdem versuche ich, eine Aufnahme der Auffahrt zu machen, bis ein Polizist auf mich zukommt und fragt, ob er mir helfen kann. Nach all den Jahren weiß ich immer noch nicht, was ich auf diese Frage antworten soll (äh, nein?). Aber wie sich herausstellt, kann er mir doch helfen, da die Auffahrt gesperrt ist, sogar für VIP-Journalisten wie mich, und er zeigt mir den Weg zurück zur Straße.

Das Hard Rock Casino, wo Anna Nicole starb, ist praktischerweise um die Ecke. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, hier einzuchecken, weil ich dachte, sie würden ihre Zimmer zum Discountpreis vermieten, wo doch gerade jemand in einem gestorben ist. Aber sie sind voll belegt, und ich fahre zurück zum Gericht.

22. Februar, 4 Uhr

Seltsamerweise steht niemand für die Plätze im Gerichtssaal an. Jetzt wäre ein guter Moment zum Schlafen, und mein Geländewagen ist auf jeden Fall groß genug für ein bequemes Nickerchen. Aber nachdem ich den ganzen Weg hergekommen bin, will ich meine große Chance auf keinen Fall verpassen, die Ereignisse live zu verfolgen. Wandere herum, filme Fernsehcrews. Eine kleine Gruppe großer Männer kommt auf mich zu und fragt – was sonst? –, ob sie mir helfen kann. Wie sich herausstellt, sind sie besorgt, ich könnte ihre Kameraausrüstung stehlen, und an irgendwelchen Erklärungen sind sie nicht interessiert. Also hänge ich stattdessen am Eingang des Gerichtsgebäudes herum. Eine der Wachen ist deutlich verärgert über das Medieninteresse und fragt mich, warum ich nicht zu Hause bleibe und das Verfahren am Fernseher verfolge. Es ist einfach nicht ganz dasselbe am Fernseher, und das nicht nur deshalb, weil einem live ständig Leute ihre Hilfe anbieten.

Ein weiterer guter Grund, live dabei zu sein: Als ich das letzte Mal hier war, standen sich Bush- und Gore-Anhänger hinter Polizeiabsperrungen gegenüber, schrien sich an und verhöhnten einander, während Anwärter auf Kabinettsposten und andere Politiker von Rang und Namen ein- und ausgingen. Die ruhigen Morgenstunden vor der Anhörung sind eine gute Zeit zum Nachdenken und geben mir irgendwie die Gelegenheit, diese Erinnerungen zu verarbeiten.

Man hatte mir gesagt, das Gerichtsgebäude würde nicht vor acht Uhr morgens öffnen, aber um 6:45 Uhr habe ich den Security-Check hinter mir und Raum 880 (880A?) erreicht, wo es so aussieht, als ob die Sitzplatz-Pässe ausgegeben werden. Kann es sein, dass ich der erste bin? Mache Fotos und filme den Gerichtssaal durch die Spalte zwischen den Türen, durchwandere die Flure.

Laufe ein paar Mal hinaus und wieder hinein; fotografiere die Umgebung des Gerichtssaals (#3) und die moderne Kunst auf dem Rasen (#4).

Das Verfahren beginnt um 10:30 Uhr, und trotz des Mangels an Schlaf sitze ich gespannt auf meinem Platz. Viele der Aussagen sind sehr emotional, es ist eine großartige Theatervorstellung. Außerdem ist es mein Plan B, Rechtsanwalt zu werden, und welcher Ort könnte besser sein, um darüber nachzudenken, als ein Raum voller Rechtsanwälte. (Der Richter betont, dass 18 Rechtsanwälte anwesend sind, die die drei Parteien vertreten. Das schließt wahrscheinlich Howard Stern nicht ein, Rechtsanwalt und auf der Geburtsurkunde als Vater von Anna Nicoles Baby vermerkt, und berücksichtigt ebenso wenig die Tatsache, dass wahrscheinlich viele Rechts­anwälte im Zuschauerraum sitzen.)

Ein weiterer Vorteil davon, so etwas wie dies persönlich zu sehen, ist, dass man eine Menge Insiderklatsch erfährt. Bevor das Verfahren begann, hörte ich im Medienraum einen Typen über eine Tasse erzählen, die von einer der streitenden Parteien aus dem Zeugenstand entfernt wurde, vermutlich für einen heimlichen DNA-Test. Ich habe die Details nicht ganz verstanden, aber als später ein Rechtsanwalt aufstand und Richter Seidlin aufforderte, diese verdächtige Handlung zu kommentieren, wusste ich immerhin ungefähr, wovon die Rede war. (Der Richter unterbrach den Anwalt und verbat sich jedes weitere Wort über das Thema.)

Richter Seidlin hat anscheinend Schwierigkeiten mit Namen, also nennt er einen Rechtsanwalt »Tex«, einen anderen »California«, und Anna Nicoles Mutter heißt schlicht »Mama«. Die einzige Person, die mit allem gehörigen Respekt benannt wird, ist Anna Nicoles Tochter. Der Richter hat jemanden beauftragt, »Dannielynn« auf einen großen Block zu schreiben. Aber es ist wohl kein Zufall, dass der ordentlich handgeschriebene Name dem fünf Monate alten Baby, das der Schlüssel zu all dem hier ist, eine physische Präsenz im Raum verleiht.

Alles hier scheint ziemlich willkürlich und ungeplant vor sich zu gehen, aber wie viel Kritik der Richter auch hat einstecken müssen, seine ständigen Anmerkungen über sich und seine Probleme hat die Dinge menschlich gemacht, und er hat es zumindest geschafft, die Tragik im Leben dieser Frau herauszustellen. Bei den 18 Anwälten gibt es einen Einspruch gegen praktisch jedes gesprochene Wort. Aber der Richter macht allen klar, dass die Leiche verwest, während das Verfahren fortschreitet, und dass nicht genug Zeit ist, jede Geschichte zu über­prüfen. Alle Zeugen dürfen ihre Geschichte erzählen, auch Anna Nicoles erster Ehemann, der erst nach hartnäckigen Einsprüchen (wie kann irgendjemand wissen, wer dort wirklich spricht?) in letzter Minute aussagen darf. (Immerhin hörte er sich an, als sei er aus Texas.) Es gibt abwechselnd tränenreiche Aussagen, Schuldzuweisungen und viel Fingerdeuten (auch von einer kalifornischen Anwältin, die mit ihrem Finger auf den Richter zeigte, während sie ihm sagte, was er zu tun habe).

22. Februar, 13 Uhr

Es stellt sich heraus, dass Tex Diabetiker ist; als er kollabiert, ist das eine eindringliche Mahnung, dass wir alle eine Mittagspause brauchen können. Gehe hinaus wegen der Sonne und einer hausgemachten (so wird jedenfalls behauptet) Empanada; fotografiere meinen Nachmittags-Pass (#5), Kameraleute und Touristen (#6 und #7) sowie berühmte Fernsehpersönlichkeiten und ihre Fans (#8 und #9) und eile wieder hinein für die nächste Runde.

Am Ende verliest der Richter seine Entscheidung, auch er unter Tränen. Vielleicht liegt es am Schlafmangel, aber ich muss zugeben, dass auch ich einen ziemlichen Kloß im Hals habe. Er erzählt, dass er Beerdigungen meidet und dass seiner Meinung nach das Gerichtsverfahren ein Gottesdienst für Anna Nicole war. Da stimme ich ihm zu, es war trotz allem eine schöne und bewegende Trauerzeremonie. Es gab eine singende Rechtsanwältin, einen Richter, der von seiner Studienzeit erzählte, böse E-Mails und dazu Videos, auf denen eine deutlich hilfebedürftige Anna Nicole zu sehen war.

Weil ich (noch) nicht Jura studiert habe, kann ich mir kein Urteil über die Rechtmäßigkeit der ganzen Sache erlauben, aber mir gefallen seine Bemerkungen über den vernichtenden Druck der Medien und über all die persönlichen Geschichten, die dem Verfahren (mir auf jeden Fall) einen Hauch davon vermittelt haben, dass uns allen Ähnliches hätte passieren können. Er zitiert den Obersten Gerichtshof von Florida (einer der Momente, als ihm die Stimme versagte) mit »Gerechtigkeit ist nicht perfekt, sie ist angemessen«. Weil er seine eigene Geschichte in die Anhörung einbrachte, rührte sie mich so an: eine Anhörung über Anna Nicole und ihre Verwandtschaft, aber auch über den Richter, und sicher – vielleicht übertreibe ich es ein bisschen – auch über uns. Wir alle haben Hoffnungen und Träume, die uns am Ende zerstören können; wir hatten bloß das Glück, die Verwirklichung unserer Träume zu überleben (oder an ihr zu scheitern).

Dokumentiere die Kunst im Medienraum, die aussieht wie ein Vorschlag für neue U-Bahn-Sitzbezüge (#10). Gehe zum Auto, um einen neuen Film zu holen; dummerweise habe ich mich für einen weit entfernt liegenden Parkplatz entschieden (#11). Als ich zurückkomme, sind alle Mandanten auf der Straße, geben Pressekonferenzen. Das große Getümmel des Tages hat begonnen (#12 und #13). Ich versuche, mir den Weg freizukämpfen, aber es ist zu spät. Hinterher bekomme ich ein paar Fotos (#14) und weitere Souvenirs des großen Tages (#15). Zweimal werden Journalisten aggressiv, weil sie mich davon abhalten wollen, sie zu filmen, entsprechend einem ungeschriebenen Gesetz (vielleicht steht es auch geschrieben und ich habe bloß kein Exemplar erhalten), dass wir Journalisten uns, während wir jedes Recht haben, eine Nachricht gnadenlos zu verfolgen, gegenseitig respektieren müssen und nach einem höflichen »Nein danke« sofort weiterzugehen haben.

Der Verkehr auf Route 1 ist schlimm, und ich wünschte, ich hätte versucht, stattdessen die I-95 zu finden. 25 Minuten vor dem Abflug renne ich zum Check-In, lege meine Kreditkarte auf den Tresen und bekomme im Austausch ein Ticket nach Hause.

Finde meinen Platz im Flugzeug und rufe Ethan an. Er ist erst drei, aber er vergisst nicht, was er zu sagen hat. Als ich ihm erzähle, dass ich im Flugzeug sitze und auf dem Weg nach Hause bin, hat er nur eine Frage: »Papa, tut dein Fuß noch weh?« Ich sage »Ja«. Er gibt mir, bevor er das Telefon an seine Mutter weiterreicht, einen guten Rat: Tische treten ist nicht gut.

Ich schaue aus dem Fenster bis das Flugzeug in der Luft ist, schlafe dann ein.

aus dem amerikanischen von martin schuster

Anna Nicole Smith wurde als Playmate des Jahres 1993 berühmt. Sie heiratete einen 63 Jahre älteren Milliardär, um dessen Erbe sie später vor dem Supreme Court klagte. Anfang Februar starb sie. Eine gerichtliche Anhörung wurde angesetzt, um zu entscheiden, wo sie beerdigt werden soll.

Der Foto- und Videokünstler David Reed lebt in Baltimore und arbeitet seit 1999 für die Jungle World. Zuletzt erschien »Morning in America« (46/06).