Nach dem Kampf ist vor der Wahl

Monatelang tobte im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca ein Aufstand gegen den verhassten Gouverneur Ruiz. Dieser versichert, die Lage unter Kontrolle zu haben. Hat er Recht? Oder lebt die Bewegung fort? wolf-dieter vogel hat nachgesehen

Maria Ruth Cabrera erinnert sich an jede Sekunde. An das Tränengas, das die Straßen vernebelte, an die Polizisten, die mit Schlagstöcken und Holzprügeln auf alles einschlugen, was sich bewegte, an die Schreie der Men­schen. »Wir rannten los, aber was sollte mit den Verletzten geschehen?« Sie hatte Essig und Coca-Cola dabei, gegen die brennenden Augen. Also blieb sie stehen und half der jungen Frau, die auf dem Boden lag. »Plötzlich stürzten sich vier Beamte auf mich«, sagt die 48jährige Händlerin. Mit zwei gebrochenen Rippen und einer geschwollen Hand brachte man sie ins nächste Gefängnis, bewacht von Polizisten, die ihre Maschinenpistolen ständig im Anschlag hielten. Einige Stunden später saß sie mit anderen Frauen in einem Hubschrauber. »Ich hatte Angst, einfach nur Angst. Wir wussten nicht, wohin sie uns bringen würden.«

Vor dem 25. November vergangenen Jahres hätte es sich Ruth Cabrera nicht vorstellen kön­nen, dass man sie einmal als »besonders gefähr­liche Verbrecherin« in eine Haftanstalt einliefern würde. Doch an diesem Tag schickte sich die mexikanische Regierung an, mit allen Mitteln den Aufstand der Lehrer, Indigenas, Arbei­ter, Studierenden und Linken im südlichen Bun­desstaat Oaxaca zu zerschlagen.

Schon Wochen zuvor hatten Bundespolizisten das Zentrum der gleichnamigen Landeshauptstadt besetzt. Auch Soldaten standen bereit. Ständig gab es Straßenkämpfe mit Aktivisten der »Versammlung der Bevölkerung Oaxacas«, der Appo. Aber diese Schlacht sollte die vorerst letzte werden. 141 Menschen wurden verhaftet und mit Hubschraubern und Flugzeugen in ein Hochsicherheitsgefängnis im 1 000 Kilometer entfernten Bundesstaat Nayarit gebracht.

Etwa einen Monat später brachte man sie zu­rück nach Oaxaca. Nun müssen sich alle densel­ben Vorwürfen stellen, nämlich Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Aufruhr gegen den Staat und Zerstörung öffentlichen und privaten Eigentums.

»Das sind Lügen«, empört sich Ruth Cabrera. »Wir sollen das Finanzamt, das Gerichtsgebäude und noch mehr angezündet und einen Kleider­laden ausgeraubt haben. Und das alles zu dem Zeitpunkt, zu dem ich ver­haftet wurde.« Trotzdem hatte die Markt­frau Glück. Nach der Zahlung einer Kaution kam sie auf freien Fuß. Über 60 Menschen aus der Bewegung seien noch immer inhaftiert und säßen verteilt auf Gefängnisse in ganz Mexiko, berichtet Yessica Sánchez Maya von der Menschenrechtsorganisation Limeddh.

Felipe Sánchez Rodríguez saß bis vorige Woche in der Haftanstalt von Tlacolula, eine knappe Autostunde von Oaxaca-Stadt entfernt. Der 44 jährige Erzieher hat sechs Jahre in Deutsch­land gelebt und dort seine Ausbildung gemacht. 1992 kehrte er zurück, um mit der Unterstützung deutscher Orga­nisationen einen Kinderhort im Armenviertel Lomas de San Jacinto von Oaxaca-Stadt aufzubauen. »Wir müssen hier was machen«, habe er sich da­mals gedacht.

Dass er an jenem Abend verhaftet wurde, hält er für reine Willkür. »Ich habe keine Steine geworfen und auch keine Gebäude angezündet«, verteidigt er sich. Bewaffnete Zivilbeamte hätten ihn mit gezogenen Waffen auf der Straße abgegriffen, gefesselt und auf die Ladefläche eines Pick-Up geworfen. »Es folgten Schläge, Tritte, Drohungen, dann die Fahrt ins Ungewisse, dorthin, wo das unheimliche Verhör mit Hilfe der Elektroschocks stattfand«, erinnert er sich. »Die Beamten haben gefragt, wer unsere Führer seien und wie viel man uns bezahlt habe. Und immer wieder die Angst. Ich dachte, sie werden uns erschie­ßen.«

Um den Schock zu verarbeiten und für die Freilassung der Inhaftierten zu kämpfen, tref­fen sich Angehörige und ehemalige Gefange­ne regelmäßig im Institut für Grafische Kunst IAGO, einem Projekt im touristischen Zentrum von Oaxaca-Stadt, das von Francisco Toledo geleitet wird, einem Maler und Träger des alternativen Nobelpreises.

Eine Galerie in den kolonialen Gemäuern erinnert mit Graffiti an die kämpferischen Tage. Skizzen von Menschen, die mit Schleu­dern gegen Polizisten kämpfen, Parolen für die »Freilassung der politischen Gefangenen« und immer wieder das Konterfei des verhass­ten Gouverneurs Ulises Ruiz Ortiz: Ulises, der »Mörder«, der »Autoritäre«, die »Ratte«. Schließlich war es der Kampf für die Absetzung des korrupten und repressiven Politikers von der Partei der Institutionellen Revolution (Pri), für den Tausende Menschen ein halbes Jahr lang die Stadt lahm legten.

Ist der Aufstand bereits Geschich­te geworden, die in Kunstgalerien für die Nachwelt festgehalten wird? Hat sich die Bewegung deprimiert zurückgezogen, nachdem mindestens 23 Menschen von Paramilitärs, die dem Pri nahe stehen, oder Polizisten ermordet wurden? Regelmäßig betont Gouverneur Ruiz, dass in Oaxaca wieder Frieden eingekehrt sei. Und in der Tat erinnert auf den ersten Blick nur wenig daran, dass hier noch vor kurzem ein großer Teil der Bevölkerung die Machtfrage gestellt hat.

Die vielen zu Barrikaden aufgetürmten Sandsäcke sind aus der Innenstadt verschwunden, notdürftig übertünchte Mauern verstecken die unzähligen Parolen, ein offenbar vergessener ausgebrannter Bus am Straßenrand verweist auf die Schlachten, die sich die Angehö­rigen der Appo mit der Polizei geliefert haben. Auf dem Zócalo, dem zentralen Platz der Zapotekenstadt, ist wieder Normalität eingekehrt. Touristen trinken Kaffee oder essen Hühnchenkeulen in Schoko-Chili-Soße, Marimba-Musiker hämmern auf ihre Xylophone, und indigene Frauen bieten Plastikketten, bunt verzierte Holzlesezeichen oder geknüpfte Armbänder zum Verkauf an.

Frieden? »Alles ist noch schlimmer geworden«, sagt ein Taxifahrer. »Die Führung der Appo war zu zurückhaltend, als ihre Anhänger zu den Waffen greifen wollten.« Ein alter Mann, der seinen rebellischen Enkel im Gefängnis besucht, schimpft: »Ulises wird fallen, so Gott will.« Optimistisch ist auch die Lehrerin Danila López: »Sie wollten uns durch die Repression so beschäftigen, dass wir zu nichts anderem mehr kommen. Doch das ist ihnen nicht gelun­gen«, sagt die Funktionärin der »Sec­cion 22«, des rebellischen Landesverban­des der Lehrer­gewerk­schaft SNTE.

Danila López verweist auf die Demonstra­tion vom 3.Februar. Rund 25 000 Menschen zogen durch die Stadt, und wieder waren sie aus allen Regionen des Bundesstaats gekommen, aus dem Isthmus von Tehuantepec, aus der Sierra Madre del Sur, aus dem Tal von Oaxaca. »Alle Macht dem Volke«, forderten mit »Appo« unterzeichnete Transparente, vermummte Jugend­liche sprühten Parolen gegen den »Tyrannen« Ruiz. »An diesem Tag haben wir unsere Angst überwunden«, resümiert Danila López. Auch der Gegner traute dem Frieden nicht. 4 000 Po­lizisten ließ die Regierung an diesem Tag aufmarschieren, um das Zentrum zu schützen. Schwe­re Eisengitter und Stacheldraht sorgten dafür, dass nur vereinzelt Touristen und Einheimische zum Zócalo durchkamen.

Unmittelbar nach der Beendigung des Aufstands war es keineswegs absehbar, dass sich so bald wieder so viele Menschen an einer Demonstration beteiligen würden. Denn wie es die Lehrer waren, die den Kampf begonnen hatten, als sie im Mai für höhere Löhne und bessere Bedingungen der Schüler in den Streik traten, so waren sie es auch, die als erste den Aufstand beendeten. Doch inzwischen, nach einem brutalen Polizeieinsatz gegen die Lehrer im Juni vorigen Jahres, hatten sich andere Organi­satio­nen den Protesten angeschlossen, gemeinsam hatte man die Appo gegründet, und der Protest der Lehrer hatte sich zu einem allgemeinen Aufstand gegen Gouverneur Ruiz ausgeweitet.

Doch während sich die Aktivisten der Appo noch mit der Polizei prügelten, begannen Spre­cher der »Seccion 22«, mit dem Innenministerium über eine Rückkehr in die Klassenzimmer zu verhandeln. Die Lehrer standen unter Druck. Seit Monaten waren sie ohne Einkommen, und viele Eltern forderten, dass ihre Kin­der endlich wieder Unterricht bekommen. Ende Oktober beschlossen die Gewerkschafter, in die Schulen zurückzukehren, und trugen mit dieser Entscheidung erheblich zu der vorläufigen Befriedung des Konflikts bei.

In der »Seccion 22« war dies umstritten. Die Mehrheit der Gewerkschafter war sich mit der Appo darin einig, den Kampf bis zur Absetzung von Ruiz fortzusetzen. Mitte Februar setzte die Lehrergewerkschaft ihren örtlichen Vorsitzenden Enrique Rueda ab, der sich für eine ver­söhnliche Politik eingesetzt und eine wichtige Rolle bei der Beendigung des Streiks gespielt hatte. Zugleich beschlossen die Lehrer, in der Appo zu bleiben. Deswegen sei die Bewegung durchaus wiederzubeleben, meint Daniel Rosas, ein Sprecher der »Seccion 22«. Sein Büro im Gebäude der Gewerkschaft ist hinter einer zerschlagenen Scheibe und einem Schildchen mit der Aufschrift »Presse und Propaganda« untergebracht, Plakate »gegen den Neoliberalismus« und für die Appo bedecken fast jeden Zentimeter der Wände, ein Foto zeigt einen von der Polizei bei Auseinandersetzungen im zentralmexikanischen San Salvador Atenco getöteten Jugendlichen. »Dein Beispiel treibt uns an, weiter zu kämpfen«, steht darunter. Aber die kämpferischen Parolen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Straßenkämpfe vorerst vorbei sind.

Dafür beschäftigt die Bewegung ein anderes Thema: Im Oktober sind in Oaxaca die Wah­len fürs Landesparlament, und die sozial­demo­kra­tische Partei der Demokratischen Revolu­tion (PRD) hat der Appo angeboten, Kandidaten für ihre Liste zu stellen. »Wir werden die Chance der Wahl nutzen, um den Pri von Ulises Ruiz zu stürzen«, sagt der Gewerkschafter Rosas.

Dem halten Vertreter der von den Zapatisten aus dem Bundesstaat Chiapas ins Leben gerufenen »Anderen Kampagne« entgegen, dass auch die Abgeordneten des PRD die Polizeieinsätze gegen die Appo gebilligt hätten. Sie sind nicht die einzigen, die befürchten, dass die Bewegung für parteipolitische Zwecke vereinnahmt werden könne. Inzwischen hat man sich auf einen Kompro­miss geeinigt: Wer als Kandidat antreten wolle, solle dies im Namen seiner Organisation oder als unabhängiger Bürger tun, aber nicht im Namen der Appo, beschloss eine Vollversamm­lung des Bündnisses. Man unterstütze jedoch Stimmen »zur Abstrafung von Ulises Ruiz«.

»Wir werden den Pri zu Fall bringen«, sagt auch Danila López. Jahrelang hat die Mutter von vier Töchtern in der ländlichen pazifischen Küstenregion gearbeitet. Sie weiß genau, wie sich die Funktionäre der ehemaligen Staatspartei ihre Macht in den Dörfern sichern. »Die Leute sind bettelarm. Wenn du ihnen fünf Hühner schenkst, machen sie das Kreuzchen an der rich­tigen Stelle«, sagt sie. »Die Regierung Ruiz wird vor den Wahlen viel Geld locker machen, schon jetzt lässt sie die Lager der staatlichen Sozialstellen mit Lebensmitteln füllen.« Alte Verbindungen zwischen den »Kaziken«, also den traditionellen Dorfhonora­tio­ren, den Politikern und der Polizei, er­ledigten den Rest.

Wer trotzdem aufmuckt, bekommt es mit den Schlägertrupps des Pri zu tun. Davon weiß Emilio Santiago Ambroso aus der zapotekischen Gemeinde San Antonino zu berichten. Mit Freunden hat er das freie »Radio Calenda« gegründet. Nur eine gut 20 Meter hohe Antenne auf einem fast abbruchreifen Haus verweist auf den kleinen Sender. Ein garagengroßer Raum, dessen Wände zur Schall­dämmung mit Eierkartons beklebt sind, reicht den alternativen Radiomachern, um auf Sendung zu gehen. Sie informieren über örtliche Maispreise oder spielen Tanzmusik aus der Haupt­stadt.

Auch die Unzufriedenen kommen zu Wort, und viele sprechen sich gegen den Gemeindepräsidenten des Pri aus. »Der Mann hinterzieht Steuergelder und vergibt alle Posten an Familienangehörige«, erzählt der 38jährige Santiago. »Seine Anhänger bleiben ihm treu, weil er ihnen Nahrungsmittel, feste Böden für die Häuser und Wasserpumpen besorgt.« Deshalb habe man auf einer Dorfversammlung per Handzeichen einen neuen Präsidenten gewählt – kein ungewöhnliches Vorgehen, da in San Antonino, wie in 80 Pro­zent der Gemeinden Oaxacas, nach indigenen »gewohnheitsrecht­lichen Praktiken« regiert wird.

Doch seither sind die Oppositionellen regelmäßigen Attacken ausgesetzt. »Sie haben uns während einer Versammlung vor dem Rathaus mit Knüppeln, Steinen und Schuss­waffen angegriffen«, berichtet Ambroso. Noch Wochen nach diesem Übergriff, der sich am 25. Januar ereignete, kann er sich nur mit einer Sonnenbrille aus dem Haus bewegen. Beinahe hätte er bei dem Angriff ein Auge verloren, nun muss er sich vor dem grellen Licht der südmexikanischen Sonne schützen. Vor allem eines ist ihm von dieser Nacht in Erinnerung geblieben: Dass die örtlichen Schläger des Pri von Polizisten unterstützt wurden, die aus dem etwa eine Stunde entfernten Oaxaca-Stadt angekarrt worden seien. »Die hat Ulises Ruiz geschickt«, sagt San­tiago. »Es sind diese Gewalt, diese ständigen Ungerechtigkeiten, die zu dem Aufstand der Appo geführt haben«, wirft sein Mitstreiter Arturo Aquilar ein. »Und natürlich die Armut und der Hun­ger.«

Wenige Kilometer von San Antonino ent­fernt liegt die Tausendseelengemeinde Mag­­dalena Ocotlán. Fast alle Männer im ar­beits­fähigen Alter sind in den Norden ausgewan­dert, auf die andere Seite des Rio Grande. Geblieben sind Alte, Frauen und Kinder. Sie leben von den Überweisungen ihrer ausgewanderten Angehörigen. »Wenn es in den USA keine Arbeit gibt, können sich unsere Kinder nicht mehr konzentrieren, weil sie Hunger haben«, sagt ein Lehrer, der in der kleinen Schule am Ende der einzigen befestigten Straße des Ortes unterrichtet. Seinen Namen will er nicht nennen.

»Da vorne auf der Hauptstraße haben sie gestanden, die Leute vom Pri und die Polizei, als wir gestreikt haben«, erzählt er aufgebracht und spricht von den Kollegen, die während des Aufstands getötet wurden. Nein, er sei nicht »politisch«, betont der Mittvierziger. Es gehe darum, dass die Kinder unter »würdigen Bedingungen« leben könnten.

Doch bis heute warten die Pädagogen darauf, dass wenigstens ein Teil ihrer Forderungen erfüllt wird. Etwa, dass der Staat den bedürftigen Schülern eine Mahlzeit am Tag finanziert. Oder die Schuluniform bereitstellt, für die in den meisten Familien das Geld fehlt. Auch eine Lohnerhöhung haben viele der Lehrer bislang nicht erhalten. Viele der Zusagen vom Oktober seien von der Regierung nicht eingehalten worden, berichtet der Gewerkschafter Rosas.

»Im Auftrag von Ruiz sind noch immer 250 Schulen von Leuten vom Pri besetzt, die unsere Kollegen daran hindern, den Unterricht wieder aufzunehmen«, kritisiert er. Deshalb haben Mitglieder der Gewerkschaft Mitte Februar erneut zum Protest aufgerufen. Sie besetzten die Zentrale der Landesregierung in Oaxaca-Stadt sowie 32 Verwaltungsgebäude in allen Regionen des Bundesstaats. Auch eine andere Rechnung ist noch offen, wie Rosas betont: »Der Rücktritt von Ulises Ruiz bleibt ein Ziel, das für uns nicht verhandelbar ist.«