Zeichen pflastern seinen Weg

Ein Nachruf auf den Kool Killer der französischen Philosophie, Jean Baudrillard. von cord riechelmann

Die Welt ist schlecht und wir sind’s auch«, sang Ende der achtziger Jahre der ehemalige Punk und heutige Mutter-Sänger Max Müller in einer Hymne auf das damals gerade gegründete Berliner Lokal »Kumpelnest 3000«. Als Jean Baudrillard, der im Kumpelnest manchmal mit seinen Berliner Verlegern, den Merve-Machern Heidi Paris und Peter Gente, zu Gast war, die Zeilen aus Müllers Song hörte, in denen es heißt: »Wir stehen hier jeden Tag und trinken warmen Schnaps, ganz egal, wie das Wetter ist«, lächelte er hinter dem Rauch seiner selbst gedrehten Zigarette und sagte in dem feinen Baudrillard-Deutsch, das man so gern hörte: »Tunix hat schöne Sätze geschaffen.«

Die Szene ereignete sich nach der Jahrtausend­wende. Tunix, Punk und West-Berlin waren längst Vergangenheit, und auch sonst war seit den Achtzigern einiges passiert. Aus Jean Baudrillard, der vorige Woche im Alter von 77 Jahren in Paris gestorben ist, war der weltberühmte Medientheoretiker geworden, dessen Begriffe Simulation, Simulacrum, Virtualität, Cyberspace und Hyperrealität von Mitte der achtziger bis Ende der neunziger Jahre mehr als ein Jahrzehnt jedes Symposium zu »Philosophien der neuen Technologien«, jeden Workshop über Musikvideos oder das Cyberspace auf der Welt mehr oder weniger bestimmt hatten.

Und doch bündelte sich an diesem Nachmittag – es war 2001 oder 2002 – wie in einem Brenn­glas all das, was Baudrillards deutsche Rezeption in ihrem glücklicheren Teil ausgemacht hat (vom miesen Strang wird auch noch zu reden sein). 1978 war bei Merve »Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen« erschienen, eine Sammlung von Aufsätzen Baudrillards, die er für Zeitschriften geschrieben hatte. Eingeleitet wurde »Kool Killer« von einem Essay mit dem Titel »Unser Theater der Grausamkeit«, den Baudrillard im November 1977 in der französischen Zeitung Liberation als direkte Reaktion auf den »Deutschen Herbst« geschrieben hatte. Er verband in dem Text eine Kritik an den Terroristen, denen er ihre Fehler vorrechnete, was man nicht tut, wenn man keine Sympathie für sie hat, mit einer wesentlich radikaleren Bestimmung der Medien.

»Die Medien sind terroristisch auf ihre Weise: pausenlos sind sie tätig, um (rechten) Sinn, bon sens, zu produzieren, den sie gleichzeitig gewaltsam wieder zerstören, in dem sie überall skrupellose Faszination erzeugen, Lähmung des Sinns also, denn allein das Szenario zählt«, heißt es in seiner Diagnose der Medien. Hinzu kamen Texte, in denen er die Stadt als einen »Zeit-Raum der Indifferenz und zunehmenden Absonderung von Stadtvierteln, Rassen und bestimmten Altersklassen«, als »zerstückelten Raum distinktiver Zeichen« bestimmte und feierte. Die Stadt, schrieb er, sei nicht mehr »das politisch-industrielle Vieleck, das sie im 19. Jahrhundert gewesen ist – heute ist sie ein Vieleck aus Zeichen, Medien und Codes«. Jeder Zeit-Raum des urbanen Lebens wurde in diesem System zum Ghetto, und alle Ghettos standen miteinander in Verbindung. Im eingeschlossenen West-Berlin, in dem sich die diffus unzufriedenen Jugendlichen gerade mit Tunix und Punk aus den selbstzerfleischend-rigiden Lächerlichkeiten der K-Gruppenexistenz oder dem tödlichen Schwachsinn diverser »Stadtguerilla-Grüppchen« zu befreien suchten, wirkten die Thesen aus »Kool Killer« wie ein Wegweiser aus dem Sumpf.

Der Band wurde zum ersten außerhalb von akademischen Spezialistenkreisen gelesenen Textkonvolut der französischen Theorie der Postmoderne. Baudrillard hatte gegenüber den anderen postmodernen Denkern wie Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Felix Guattari oder auch Michel Foucault den Vorteil, dass er sich nicht hinter einem akademischen Begriffssystem verschanzte, dass man nicht erst philosophisch »studieren« musste, bevor man zum Sinn durchdrang. Baudrillard war eingängig, anwendbar, und die paar Worte, die man brauchte, um sich zurechtzufinden, wurden immer schon auf der ersten Seite erklärt. Hinzu kam, dass der Gegner offensichtlich war. Es war der preußisch-protestantische Arbeitsbegriff, der in seiner deutsch-marxistischen Ausformung in den K-Gruppen ekelerregend lustlos verkümmert war.

»Notre travail ne nous interesse pas« (Unsere Arbeit interessiert uns nicht), lautete 1977 eine von Baudrillard inspirierte Parole an Pariser Hauswänden. Baudrillard war der Theoretiker dieser neuen Generation, und die ausgesprochenen Gegner waren die französische kommunistische Partei und ihre etablierten »Denker«.

Der Marxismus sei nur eine niedere Form des seit dem 18. Jahrhundert »ohne Maß und ohne Moral« herrschenden Kapitalismus, meint Baudrillard in seiner 1986 erschienenen Abrechnung mit der im Staat (im Osten) und in staatstragenden kommunistischen Parteien und Gewerkschaften (im Westen) erstarrten »göttlichen Linken«. Seine Kritik erfasste hellsichtig den Zustand der östlichen Modernisierungsdiktaturen, wie er im Zusammenbruch 1989 schließlich offenkundig wurde.

Diese hellsichtige Kritik konnte jedoch auch – zumindest in Westdeutschland – zu einem grausamen Missverständnis führen. Gerade wegen seiner Frontstellung zum etablierten Marxismus – mit der Betonung auf etabliert – wurde Baudrillard für so genannte rechte Theoretiker attraktiv. So hatte der Verlag Matthes und Seitz im Anhang einer Baudrillard-Ausgabe zwei neofaschistischen »Theoretikern« – Hans-Dietrich Sander und Günter Maschke – Platz gegeben, ihren Sermon mit der Forderung nach einer willensstarken mächtigen Neuetablierung einer deutschen Nation zu verbreiten.

Dies geschah aber ohne Baudrillards Einverständnis. Schließlich ging in der Euphorie über das Ende des Sowjetblocks dann auch völlig unter, dass für Baudrillard das Kapital mit seinen Unternehmensformen immer noch der erste Gegner war.

Vielleicht etwas zu früh hatte er in seinem in Frankreich 1976 – auf Deutsch 1982 ebenfalls bei Matthes und Seitz – erschienenen Hauptwerk »Der symbolische Tausch und der Tod« das »Ende der Produktion« ausgerufen. Er formulierte darin, noch etwas vage zwar, aber doch etwas Richtiges ahnend, die Vision, dass sich aufgrund der kapitalistischen Wirtschaft Produktionsweisen etablieren würden, die ganz auf den Menschen verzichten könnten. Dann, schreibt er, werden »die Maschinen erscheinen als das, was sie sind, als Zeichen, die direkt und unmittelbar das gesellschaftliche Todesverhältnis in Gang setzen, von dem das Kapital lebt«. Marx’ dialektisches Verhältnis der Produktivkräfte wird in der Entwicklung von Maschinen ohne »Arbeiter« aufgehoben, ohne dass das Kapital aufhört, seine Zerstörungsarbeit fortzuführen.

Es ist der Prozess, von dem heute, 31 Jahre nach seiner Formulierung, jeden Tag bei der Gegenüberstellung von neuen Rekordgewinnen vieler Unternehmen und gleichzeitigen Rekordentlassungen erzählt wird. Und von hier aus kann man Baudrillards Denken in einem Bereich fruchtbar machen, der im Zusammenhang seiner Rezeption nie Bedeutung erlangte: in der Formulierung einer politischen Ökologie, die angemessen auf die Zerstörungsarbeit der angeblich alternativlosen Wirtschaftsweise gegenwärtigen Geldverdienens reagiert. Und damit kann man Baudrillards eigene altersmüde Melancholie widerlegen. »Kein Mensch braucht französische Theorie«, hatte er 2005 in einem Gespräch in der Süddeutschen Zeitung gesagt. Was anlässlich seines Todes zu widerlegen war.