Berliner Verklärung

Nach dem Klimagipfel und vor ihrem 50. Geburtstag übt sich die EU in neuer Einigkeit. Doch die Konflikte über das Ziel des Integrationsprojekts bleiben unverändert. von korbinian frenzel, brüssel

So ein Timing hatte sich wohl nicht einmal die Protokoll-Abteilung der deutschen Ratspräsidentschaft erhoffen können. Dass ausgerechnet nach dem Energie- und Klimagipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs und wenige Tage vor dem 50. »EU-Geburtstag« Zentraleuropa mit der Wärme und dem Sonnenlicht eines frühen Frühlingsbeginns aufwachen würde, nahm man zwischen Brüssel, Berlin und Strasbourg als willkommene Symbolik hin. Nach dem allgemein als Erfolg gefeierten Energie- und Klimagipfel schienen die dunklen Jahre, die die Europäische Union seit den gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden vom Jahr 2005 in weitgehender Lethargie erleiden musste, vergessen. Die Staatengemeinschaft, erst im Januar auf 27 Mitglieder angewachsen, sei wieder handlungsfähig. Der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso sprach gar vom »erfolgreichsten Gipfel seiner Amtszeit«.

Das europäische Stimmungshoch soll nun in dieser Woche weiter wirken. Mit den Feierlichkeiten zum 50jährigen Jubiläum der Unterzeichnung der Römischen Verträge, der Geburtsstunde der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Vorläuferin der EU, wollen die Staats- und Regierungschefs am kommenden Wochenende in Berlin die Grundlage für einen neuen Schub in der europäischen Integration schaffen. Damit das Treffen der 27 mehr ist als nur ein Kaffeekränzchen zum Geburtstag, wird am Sonntag die so genannte »Berliner Erklärung« verabschiedet – ein Papier, das dem vereinten Kontinent seinen Sinn erklären und unter anderem die gemeinsamen Werte der Europäerinnen und Europäer benennen will.

Damit könne, so die Hoffnung, auch die Wiederbelebung der bereits totgesagten europäischen Verfassung eingeleitet werden. Einen »verständlichen« Text versprach Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier den Abgeordneten des Europa-Parlaments Mitte voriger Woche, ohne die sonst üblichen diplomatischen Formelkompromisse und Floskeln europäischer Gipfelerklärungen. Denn die Deutschen hoffen zur Halbzeit ihrer Ratspräsidentschaft auf die Rückkehr der »Europhorie« der Bürgerinnen und Bürger.

Doch offenbar fehlt es vor der feierlichen Erklärung den Autoren selbst an der notwendigen Begeisterung für das europäische Projekt. Denn hinter der Fassade der neuen europäischen Einigkeit ist der Streit um den Inhalt der Berliner Erklärung zwischen den Regierungen und deren Streit mit dem EU-Parlament und der EU-Kommission in vollem Gange.

Der Zwist entzündet sich vor allem an den gängigen Reizworten der EU: Darf der Euro als »gemeinsame« Währung erwähnt werden? Engländer, Dänen und Schweden sagen Nein. Soll Europa stolz sein auf das Schengener Abkommen, das EU-Bürgern in den beteiligten Ländern Reisefreiheit garantiert, anderen aber Restriktionen und Ausgrenzungen setzt? Die Nicht-Schengen-Länder sind skeptisch. Darf man den verfassungsskeptischen EU-Mitgliedern einen Bezug auf den geplanten neuen EU-Vertrag zumuten? Frankreich und die Niederlande, aber auch Tschechien drohen mit ihrem Veto. Gibt es einen european way of life, ein europäisches Sozialmodell? Osteuropäer und Briten wollen keine Profilierung gegenüber den USA. Und schließlich die Frage, welche Rolle die Religion spielen soll. Die Laizisten in Belgien und Frankreich haben deutlich gemacht, dass ein Verweis auf das christlich-jüdische Erbe keine Chance habe.

Gerard Onesta, französischer Vizepräsident des Europa-Parlaments, fragte sich denn auch in der Parlamentsdebatte vom vergangenen Mittwoch, ob am Ende überhaupt das Wort »Europa« in der Berliner Erklärung vorkommen werde. Eine Frage, die man auch wenige Tage vor den Feierlichkeiten nicht eindeutig beantworten kann. Denn die europäische Volksvertretung, die den Text am Samstag von ihrem Präsidenten Hans-Gert Pöttering unterzeichnen lassen wird, weiß genauso wenig wie die Öffentlichkeit, was derzeit zwischen den Regierungen ausgehandelt wird. Und auch dort schien es bis zum Beginn der vergangenen Woche keine verlässliche Information zu geben. »Die Oberfläche des Papiers, auf der die Werte und die Zukunftsziele der EU stehen sollen, ist angesichts der unterschiedlichen Interessen bisher weitgehend leer«, berichtet ein britischer Diplomat. Womöglich werde Angela Merkel die endgültige Fassung den anderen Regierungschefs in letzter Minute unter der Hotelzimmertür durchschieben lassen, wie sie es beim Schlussdokument zum Energie- und Klimagipfel zwei Wochen zuvor in Brüssel getan hat.

Doch während die Bundeskanzlerin dort mit Formelkompromissen und der Vertagung der umstrittenen Atom-Frage reüssierte, droht der Berliner Text den Erwartungen nicht gerecht zu werden. Kurz dürfe er werden, aber nicht banal, warnt Daniel Cohn-Bendit, Fraktionschef der Europäischen Grünen. Unter belgischen Diplomaten herrscht ebenfalls Skepsis, ob der auf maximal zwei Seiten angesetzte Text Substanz haben wird. »Wir können uns nicht einmal mehr auf die Grundsätze der Präambel des Verfassungsvertrages einigen, die noch vor zweieinhalb Jahren von allen Regierungen unterzeichnet wurde«, beklagt ein belgischer Diplomat. Gott werde entgegen den Wünschen Polens draußen bleiben, ebenso wie der Verfassungsbezug, ganz zu schweigen von einem ursprünglich vorgesehenen Plan für dessen weitere Ratifizierung. Und die Erwähnung des Euro, so die Prognose, werde sich die britische Regierung mit dem Verzicht auf das so genannte europäische Sozialmodell bezahlen lassen.

Der Klimawandel, zwei auf letzte Erfolge erpichte scheidende Staatsmänner in Frankreich und Großbritannien und schließlich der Wunsch, die europäische Untätigkeit nach dem Verfassungsschock endlich zu beenden, spielen der deutschen Ratspräsidentschaft in die Hände. Doch die Grundkonflikte in der Union über den Charakter des europäischen Einigungs­projekts bestehen unverändert fort. Das EU-Parlament hofft darauf, dass Merkels Erfahrung aus der Großen Koalition und aus dem Berliner Betrieb Einigkeit herstellen kann. Für Überraschung hat sie, die noch 2004 in den Beratungen über die Europäische Verfassung als CDU-Vorsitzende vehement für die Erwähnung der christlichen Wurzeln Europas eintrat, auf jeden Fall bereits durch ihren kampflosen Abschied vom Bezug auf Gott in der Berliner Erklärung gesorgt.