China übernimmt

Der chinesische Wirtschaftsboom und seine Folgen für die Weltwirtschaft. von michael r. krätke

Der kleine Börsenkrach, der vor kurzem die kapitalistische Welt verunsicherte, begann diesmal in China. Dass Kurseinbrüche an der Börse von Shanghai und einigen anderen chinesischen Börsen die internationalen Finanzmärkte erschüttern können, zeigt zum ersten Mal die Bedeutung, die China in der heutigen Welt des Finanzmarktkapitalismus gewonnen hat. Allerdings reicht es vorerst nur zu einer vergleichsweise kleinen Panik; der Fortgang der Börsenkrise in diesen Tagen zeigt, dass die Musik nach wie vor nicht auf den chinesischen Finanzmärkten, sondern an den Börsen in den USA und in Europa spielt.

Dennoch hat der kleine Krach an die Untergangsszenarien erinnert, die seit einiger Zeit die Runde machen: an die Vorstellung, dass China zur Weltwirtschaftsmacht Nummer eins aufsteige und diesem Prozess unweigerlich der Niedergang, ja die Verarmung der bisherigen Weltmarktführer in Amerika und Europa folgen müsse. Im schlimmsten Fall werden »wir« von der neuen Konkurrenz aus China niedergewalzt und aufgekauft und müssen in absehbarer Zeit alle die erste Weltsprache, Chinesisch, lernen, um an der Weltwirtschaft noch ein wenig teilhaben zu können.

Die Volksrepublik China hat seit Ende der siebziger Jahre eine Periode des ökonomischen Aufstiegs erlebt, in der Wachstumsraten von über neun, ja über zehn Prozent, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt, im Durchschnitt nichts Ungewöhnliches waren. Die chinesische Industrie wuchs sogar mit mehr als elf Prozent pro Jahr. Das ist bei einer nachholenden Industrialisierung nichts Erstaunliches, auch die Sowjetunion oder Südkorea erzielten in den Anfangsphasen der Industrialisierung ähnliche Wachstumsraten. Erstaunlich ist eher die lange Dauer und ungebremste Wucht dieses Wachstumsprozesses: Auch nach fast 30 Jahren Boom hat die chinesische Wirtschaft im Jahre 2006 wieder eine zweistellige Wachstumsrate erreicht.

Was bedeutet das? Den endgültigen Sieg eines Sozialismus unter chinesischen Vorzeichen, der dem Rest der Welt seine Überlegenheit beweist, oder den Sieg des Kapitalismus, der sich nun auch das größte der verbliebenen »sozialistischen Länder« einverleibt hat? Kann China zur »Wachstumslokomotive« der Weltwirtschaft werden, wie sich der Internationale Währungsfonds (IWF) mit einer Mischung aus Bewunderung und Besorgnis fragt?

Bill Gates hat Chinas »brandneues Kapitalismusmodell« gepriesen, aber die Chinesen waren wenig beeindruckt. Seit 1992 hat sich die chinesische kommunistische Partei offen für eine »sozialistische Marktwirtschaft« ausgesprochen, und sie hält bis heute an dieser Grundsatzentscheidung fest. China hat nach wie vor, zum Ärger seiner neuen Freunde in der kapitalistischen Welt, einen riesigen Sektor von Staatsunternehmen, hat nach wie vor eine Planwirtschaft, die mit Fünf- und Einjahresplänen operiert. Der jetzt geltende Fünfjahresplan für die Periode 2006 bis 2010 ist besonders ehrgeizig und behandelt alle wichtigen Aspekte einer rasch wachsenden, auf Export und Modernisierung gerichteten Wirtschaft, die von einem expandierenden Privatsektor getrieben wird.

Bis zum Jahr 1997 sind keine Staatsunternehmen privatisiert worden. Seither wurde und wird in großem Stil privatisiert, Subventionen für Staatsunternehmen werden rapide abgebaut – gemäß der Selbstverpflichtung zur »Liberalisierung« und »Deregulierung«, die China im Jahr 2002, beim Eintritt in die Welthandelsorganisation (WTO), unterschrieben hat. Joint Ventures mit ausländischen Unternehmen sind nun auch für Privatunternehmen ohne weiteres möglich, die Kontrollen für ausländische Unternehmen werden gelockert.

Nach wie vor will der Staat die gesamtwirtschaftliche Entwicklung steuern. Aber kann er das noch? In jüngster Zeit sind chinesische Privatunternehmen auch im internationalen Geschäft mit Fusionen und Firmenübernahmen mit dabei. Und zwar durchaus mit Erfolg. Im Jahr 2004 kaufte Lenovo, der größte Computerhersteller Chinas, der bis dahin nur auf dem chinesischen Markt tätig war, die PC-Sparte von IBM und wurde damit zum drittgrößten Computerhersteller der Welt. Durch die Übernahme einer deutschen (Schneider) und einer französischen (Thomson) Firma, rückte der chinesische Elektronikkonzern TCL zum weltgrößten Produzenten von Fernsehgeräten auf. Weitere große Übernahmen sind geplant bzw. im Gange.

Daher ist die Frage berechtigt, ob die chinesische Planwirtschaft die eigenen multinationalen Konzerne noch wirksam kontrollieren kann, falls sie es je konnte. Mit dem klassischen Hebel, der Finanzierung, scheint das jedenfalls nicht mehr zu funktionieren, seit chinesische Unternehmen problemlos Kredite im Ausland aufnehmen oder ihre Aktien an ausländische Investoren verkaufen können. Können wenigstens die Gewinne der chinesischen Multis wirksam besteuert werden? Zumindest hat der chinesische Volkskongress beschlossen, das nun ernsthaft zu versuchen.

Die Volksrepublik braucht ihre Multis für die ökonomische Expansion in Asien, nach Europa und Amerika. Chinas Aufstieg zur Exportgroßmacht ist ähnlich gezielt und geplant verlaufen, wie das die Japaner und kleineren »asiatischen Tigerstaaten« den Chinesen vorgemacht haben. Ende der siebziger Jahre lag der Anteil Chinas am Weltexport noch unter einem Prozent, Ende der neunziger Jahre waren es bereits über fünf Prozent, heute sind es rund zehn Prozent. In den vergangenen 20 Jahren wuchs der chinesische Export pro Jahr um 15 Prozent und mehr, also mehr als doppelt so schnell wie das Welthandelsvolumen; wenn das so weiter geht, wird China die USA überholen und hinter der EU zur zweitgrößten Exportmacht weltweit aufrücken. Die EU ist inzwischen Chinas größter Handelspartner, vor den USA, mit einem Handelsvolumen von mehr als 200 Milliarden Euro jährlich.

In den vergangenen Jahren haben Europäer wie US-Amerikaner von den chinesischen Billigexporten eher profitiert als unter ihnen gelitten. Es handelte sich überwiegend um Rohstoffe oder um billige Massenprodukte aus arbeitsintensiver Produktion. Verheerende Folgen hat die chinesische Konkurrenz bisher nur im asiatischen Raum, bei den Nachbarländern gehabt. Bangladesh, eines der ärmsten Länder der Welt, hat seine Textilindustrie, die einzige nennenswerte Exportindustrie, bereits an die chinesische Konkurrenz verloren.

Die rasante Industrialisierung Chinas hat allerdings die Weltrohstoff- und -energiemärkte in Turbulenzen gestürzt. Rapide steigende Preise auf allen Rohstoff- und Energiemärkten waren die Folge des ständig wachsenden Rohstoffbedarfs der chinesischen Industrie. Das Land ist heute bereits der weltweit größte Verbraucher von Stahl, Kupfer, Kohle und Zement. Ein Großteil davon stammt aus Importen aus aller Welt. Daher rührt das Interesse Chinas an Partnerschaften mit Russland und mit den Opec-Staaten und anderen rohstoffreichen Ländern in Lateinamerika.

China ist seit fünf Jahren Mitglied der Welthandelsorganisation WTO und betreibt eine äußerst aktive Außenwirtschaftspolitik. Bei der Integration ihres Landes in die Weltwirtschaft sind die Chinesen überhaus erfolgreich gewesen. Im großen Freihandelskrieg in Asien, der mittels Freihandelszonen geführt wird, nimmt China heute die zentrale strategische Stellung ein. Kein Wunder, denn Chinas Handel mit den meisten seiner asiatischen Nachbarländer ist so chronisch defizitär wie es im Handel mit Europa und den USA Handels­überschüsse erzielt. Seit 2002 hat die Volksrepublik regionale Freihandelsabkommen mit Hong Kong, Macao, Australien, Neuseeland und der Asean (Vereinigung der südostasiatischen Saaten) abgeschlossen, weitere Freihandelszonen mit Indien, Chile, Singapur, Südafrika und den Golfstaaten sind in Vorbereitung. Die Kooperation mit seinen wichtigsten Rivalen im asiatischen Raum, Japan und Südkorea, kommt voran.

Auch im internationalen Währungssystem ist China eine Macht erster Ordnung. Mit über 1 000 Milliarden US-Dollar verfügt das Land heute über die größten Devisenreserven der Welt, davon bestehen 70 Prozent aus US-Dollar, der Rest aus Euro und Yen. Allein für kurzfristige Staatsanleihen der US-Regierung hat die Volksrepublik mehr als 250 Milliarden US-Dollar investiert. Also finanziert China durch seine Kapitalexporte in die USA die amerikanische Staatsschuld ebenso wie das chronische Zahlungsbilanzdefizit der USA mit. Ohne Zustrom von chinesischem Kapital könnte die größte Defizitökonomie der Welt, die US-Wirtschaft, keinen Tag überleben.

China finanziert nicht nur die US-amerikanische Schuldenwirtschaft, es ist auch für europäisches und amerikanisches Kapital wichtig geworden. Ein Viertel der ausländischen Direktinvestitionen aus den OECD-Ländern in Entwicklungsländer geht heute nach China, das damit zum wichtigsten Zielland für ausländische Investitionen neben den OECD-Ländern aufgestiegen ist.

Die Volksrepublik China agiert auf der Weltbühne mit deutlichen strategischen Zielen und auf lange Sicht. Es ist völlig klar, dass die Volksrepublik die EU als strategischen Partner betrachtet. Mit Frankreich etwa unterhält China bereits seit 1997 eine solche Partnerschaft. Weitere solche Verbindungen – mit Italien, Großbritannien, Deutschland – sind geplant bzw. bestehen bereits in der Form gemeinsamer Absichtserklärungen. Das Land braucht derlei starke Partner, um eine neue Weltwirtschaftsordnung zustande zu bringen, die ohne die Vormacht USA auskommt. Daher umwirbt es Russland ebenso wie die neuen Republiken in Zentralasien. Darum bemüht es sich um Frieden mit seinen Rivalen im Süden, mit Indien und Vietnam. Aus Chinas Drang nach Westen ergibt sich allerdings auch eine regionale Rivalität mit EU-Europa, das seinerseits mit Macht nach Osten strebt und Russland in eine dauerhafte Partnerschaft einbinden möchte.

Am bemerkenswertesten ist in jüngster Zeit der chinesische Vormarsch nach Afrika. Der Kontinent, aus dem Europäer und Amerikaner sich weitgehend zurückgezogen haben, wird von den Chinesen neu entdeckt. Inzwischen hat China alle traditionellen Handelspartner Afrikas bis auf die USA überholt. Auf so gut wie jedem Markt in Afrika sind heute chinesische Produkte zu finden, in ausreichender Qualität und billig. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Volksrepublik China die bisherige westliche Entwicklungshilfe auch in Afrika weit in den Schatten gestellt hat.