High-Tech-Feudalismus

Bei der diesjährigen Sitzungsperiode des nationalen Volkskongresses in China wurde vor allem über die Verbesserung der Lage der Landbevölkerung debattiert. von hubert zick

Das hatte es im Nationalen Volkskon­gress, der im Westen oft als »Scheinparlament« bezeichnet wird, noch nicht gegeben: Sieben Lesungen waren nötig, über 60 Änderungen wurden vorgenommen, bis das neue Eigentumsgesetz verabschiedet werden konnte. Vordergründig betrachtet, reiht sich dieses Gesetz nahtlos in die Reihe der Reformen ein, die seit 1978 unter der Überschrift »vom Sozialismus zum Kapitalismus« zusammengefasst zu werden pflegen.

Ein weiterer bislang unumstößlicher Grundsatz, der in Artikel 12 der chinesischen Verfassung festgeschriebene Vorrang des »sozialistischen öffentlichen Eigentums«, wird aufgegeben. Das Privateigentum wird diesem gesetzlich gleichgestellt. Die bisher befristeten Pachtverträge der Bauern werden in erbliche Nutzungsrechte umgewandelt, allerdings bleibt der Staat nomineller Eigentümer des Bodens. Erstmals werden die Entschädigungszahlungen bei Enteignungen auf transparente Weise gesetzlich geregelt.

Dabei geht es allerdings nicht mehr um die Beseitigung eines Hemmnisses für die Privatindustrie oder gar für ausländische Investoren – diese verlieren sogar ihre bisherigen Steuervorteile –, sondern um den Schutz der größten und ärmsten Schicht. Allzu oft wurden lästige Bauern einfach von Schlägertrupps beiseite geräumt, wenn eine Fabrik, ein Staudamm oder ein anderes Projekt gebaut werden sollte. Entschädigungszahlungen der Zentrale wanderten in die Taschen korrupter Kader.

Dies und die Praxis der willkürlichen Erhebung immer neuer Steuern führte zu einer steigenden Zahl von Bauernunruhen und einem von der Partei inzwischen als gefährlich eingestuften Schwinden der Loyalität bei der Schicht, die bisher im Gegensatz zur politisch unzuverlässigen Stadtbevölkerung die Hauptstütze des Regimes darstellte.

Die »ländliche Unterbeschäftigung« wird auf etwa ein Drittel der Landbevölkerung geschätzt. Um eine Landflucht apokalyptischen Ausmaßes zu verhindern, wird trotz gewisser Lockerungen weiter an der administrativen Dreiteilung der Bevölkerung festgehalten: die durch Sozialleistungen relativ abgesicherten Stadtbewohner (etwa 250 Millionen), die bäuerliche Landbevölkerung (etwa 900 Millionen) und die wachsende Anzahl vom Land in die Städte gezogener Migranten (etwa 150 Millionen).

Das staatssozialistische System der Volksrepublik hat seinen von vielen westlichen Beobachtern vorhergesagten Untergang nun schon um rund zwei Jahrzehnte überlebt. Auf mittlere Sicht dürfte sich daran – sieht man von nicht seriös prognostizierbaren Ereignissen wie einem Weltwirtschafts­kollaps oder einer Weltrevolution ab – wenig ändern. Und das nicht etwa, weil es der KP gelungen wäre, die durch die schiere Größe des Landes vervielfachten enormen ökonomischen und sozialen Probleme zu lösen oder gar einen Weg zu einem »stabilen System« zu finden. Von beidem ist China weit entfernt.

Die Strategie zur Stabilisierung der Parteiherrschaft, die – nur von kurzen Readjustierungsphasen unterbrochen – unter Deng Xiaoping und Jiang Zemin verfolgt wurde, lässt sich am besten als »chaostheoretische« beschreiben. Der Gefahr durch Ungleichgewichte und Widersprüche, die als Folgen der Wirtschaftsreformen auftauchen mussten, begegnete man durch eine Beschleunigung eben dieser Reformen und damit ihrer Ursache. Der soziale Wandel erreichte damit eine solche Geschwindigkeit, dass sich potenzielle Koalitionen unzufriedener Gruppen, die gegen das Parteimonopol rebellieren könnten, soziologisch schon wieder auflösten, bevor sie sich politisch artikulieren konnten. Ein zweites 1989 drohte nie ernsthaft, und auch die von heftiger Gegenwehr begleitete Reform der staatlichen Industrie in den neunziger Jahren wurde zwar verzögert, aber nicht gefährdet.

Ein solcher Kurs kann freilich nicht ad infinitum fortgesetzt werden, ohne dass der ganze Laden irgendwann der KP um die Ohren fliegt. Als gute Konfuzianer haben die gewendeten Staatssozialisten nicht vergessen, dass die Aufrechterhaltung der Herrschaft von der Füllung der Reisschale – und das heißt in China auch noch immer: von den Bauern – abhängt. Die kapitalistische Ökonomie ist gefestigt genug, dass sie spezieller staatlicher Hege und Pflege nicht mehr bedarf, das weltwirtschaftliche Umfeld ist günstig, um die drängenden Probleme, wozu auch die Folgen der jahrhundertelangen Übernutzung des Ökosystems gehören, jetzt anzugehen.

Der »kapitalistische Weg« muss nicht mehr gegen Relikte plansozialistischer Strukturen durchgesetzt werden. Die Diskreditierung der egalitären agrarkommunistischen Utopien, die in den Jahrzehnten nach der Revolution noch einen politischen Faktor darstellten, wurde von Maos »Kulturrevolution« so gründlich erledigt, dass sich die Mentalität des fa cai (»Bereichert euch!«) konkurrenzlos durchsetzen konnte.

Vom »Sozialismus« ist allerdings eines geblieben: das Primat der Politik zum Zwecke der nationalen Interessenbehauptung einer Nachzüglernation im globalen Kapitalismus. Die Partei legitimiert ihr politisches Monopol heute nicht mehr damit, in Form eines Fichteschen »geschlossenen Handelsstaats« – etwas anderes war der Realsozialismus nie – eine andere Gesellschaft aufzubauen. Heutzutage heißt es vielmehr: Gerade weil die Weltmarktintegration notwendig sei, dürfe die Partei die ideologische Kontrolle und die industriepolitische Planung nicht aus der Hand geben, soll China sich von ausländischer Hegemonie befreien und seinen Aufstieg fortsetzen. Der Austausch der ideologischen Inhalte – vom Marxismus zu einer Art konfuzianischem Nationalismus – geschieht kontinuierlich, zurzeit ist von der »sozialistischen Marktwirtschaft chinesischer Prägung« die Rede.

Vergeblich wird allerdings die Hoffnung einiger westlicher Realsozialismus-Nostalgiker sein, dass China eine Art neues »sozialistisches Lager« gegen Neoliberalismus und kapitalistische Globalisierung anführen könnte. Die Volksrepublik hat sich auf Gedeih und Verderb vom Weltmarkt im Allgemeinen und der Importnachfrage der US-amerikanischen Defizitökonomie im Besonderen abhängig gemacht. Was die Sicherung von Rohstoffquellen und Absatzmärkten für seine Exportindustrie anbelangt, wird China diesen Interessen folgen, und zwar mit Mitteln, deren Opfer das Land noch vor 60 Jahren selbst gewesen ist.

Zur Demokratie pflegt die Partei ein widersprüchliches Verhältnis. Einerseits wird gesagt, sie sei »noch nicht« möglich, man sei aber auf dem Weg dahin, andererseits sei sie mit »asiatischen Wer­ten« nicht vereinbar, und daher sei es auch nicht erstrebenswert, dem dekadenten Westen zu folgen.

Doch auch im Westen werden die sozialen Grundlagen der Demokratie untergraben, die Kluft zwischen einer Minderheit von »Leistungsträgern« der »Wissensgesellschaft« und dem Heer der Dienstleistungssklaven und Ausgesonderten vertieft sich; grundlegende Errungenschaften wie beispielsweise das Folterverbot werden vom Establishment in Frage gestellt. Insgesamt läuft die Entwicklung auf eine Ersetzung nationalstaatlicher Souveränität durch einen neuen Typus direkter Klassenherrschaft, eine Art High-Tech-Feudalismus, hinaus. Warum sollte China ein Auslaufmodell übernehmen, wenn es in der Weltmarktkonkurrenz up to date sein will?