Läuft’s noch?

Dieter Roths Radio

Die schönste Sendung des Rundfunks war das Pausenzeichen. Das Pausenzeichen wurde abgeschafft, seither gibt es keine schönste Sendung mehr. Aber es gibt noch zweitschönste, und zu den schönsten dieser zweitschönsten zählt die 1978 ausgestrahlte Folge der »Autorenmusik« des SDR Stuttgart mit Dieter Roth, nachmals auf Platte und CD legendär geworden als »Die R adio Sonate« mit abgetrenntem R. Sie ist für alle, die 1978 (Platte) oder 1995 (CD) noch nicht geboren waren, jetzt noch einmal in einer limitierten Auflage erschienen.

»Die R adio Sonate« ist eine große Hommage auf das Pausenzeichen, hier ein nervöser Triller auf dem Klavier, der gehalten wird, bis jeweils der Krampf in den Unterarm fährt. Dann bricht Roth ab, vergewissert sich beim Toningenieur, Herrn Villinger, ob er auch getreulich alles aufzeichnet, »läuft’s noch?«, und wie viele Minuten von den zu vertilgenden 45 schon abgetrillert sind. Noch 30? »Verdammte Scheiße, Mann.« Er nimmt gluckernd einen Schluck aus der Flasche, rülpst und trillert tapfer weiter. »Obschon die Hand erlahmt, die Uhr nicht.«

Nach einer guten halben Stunde ist der Pausenzeichengeber so berauscht, dass er sein Spiel dithyrambisch steigert, »was in der Hand hält er? Den Rauschbehälter!« Er probiert die besten Minutenkiller im hohen und tiefen Register aus und skandiert: »Und weg mit den Minuten hier, und weg und weg und weg!« Nach diesem grandiosen Finish wünscht sich der Hörer, der schon 1978 knauserige Rundfunk hätte Roth nicht bloß 45 Minuten gegeben. Heute blieben ihm selten mehr als zwei Minuten bis zum nächsten ­Jingle.

Die »Autorenmusik« war eine Erfindung von Helmut Heißenbüttel, dem ohne Zweifel intelligentesten Programmgestalter der ARD. In der Sendereihe, die 1971 startete, durften Schriftsteller ihre Lieblingsmusik vorspielen, collagieren, begleiten, analysieren. Sie griffen, wie Heißenbüttel berichtet, nur in »Extremfällen« selbst in die Tasten oder zur Tröte. Roth war als Künstler, Schriftsteller, Musiker und Mensch die Inkarnation des Extremfalls. Als Heißenbüttel ihn um Mitwirkung bat, habe er begeistert zugesagt, weil ihm »die Idee vom Spielen ohne Können oder vom Wollen und nicht Können« gerade klargeworden sei, schreibt Roth. Seine handschriftlichen Notizen, seine Transkription samt deren Übersetzung ins Englische liefert das hilfreiche Booklet mit. Und das ist ein Extraspaß. Wenn der Klavierspieler ins Improvisieren verfällt und das ironisch kommentiert, lautet seine eigene Transkription dessen im Deutschen: »Ist die reinste Zapperklappenmusik, nicht?«, im Englischen: »it is ›Supper Club Music‹, ha?«

Nein, Supper Club Music ist es nicht, aber doch nicht nur eine Übung im Nicht-Können, sondern auch im Nicht-können-Wollen. »Mir fällt gar nichts ein heute Morgen«, sagt er gleich am Anfang und kichert. Selbstverständlich fällt ihm dann noch sehr viel ein – darüber, dass ihm nichts einfällt. Und damit ist das Programm dieses singulären Künstlers, bei dem Demut und Größenwahn nicht einander abwechseln, sondern identisch sind, benannt. Dass er dem Radio ein R abtrennt, signalisiert, dass es, wenigstens für eine Dreiviertelstunde, zu seinem Territorium geworden ist, R für Roth. Und »adio« ist, wie Benjamin Meyer-Krahmer angemerkt hat, ein Abschiedsgruß. Die Minuten fliegen im Radio so stumpf dahin, beladen mit Verkehrsdurchsagen, Wetterberichten und staatstragenden Kommentaren. Hier wird einer jeden von ihnen aufs Freundlichste gesagt: Auf Nimmerwiederhören.

stefan ripplinger

Dieter Roth: Die R adio Sonate/The R adio Sonata. Seedy CDs/Sieh Dies, Roths’ Verlag, Dieter Roth Estate, Boekie Woekie, Amsterdam, Basel, Heidelberg 2006, Booklet, 35 S., mit CD, 30 Euro. Zu bestellen bei www.seedy.org und www.boekiewoekie.com