Als der Jazz noch wütend war

Ashley Kahn erzählt die Geschichte des Jazz-Labels Impulse. von uli krug
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Der Jazz war bei weitem stilbildender für die Musik und Ästhetik des großen Umschwungs der Sechziger als der überaus schlichte Schmalztollen-Rock’n’Roll der Haleys und Presleys. Musik und Musiker von Cool und vor allem Free Jazz waren die Vorreiter einer Revolution des Lebensstils, die immer offener mit der Revolte in den Schwarzenvierteln und später den Unruhen auf dem Campus liebäugelten. Aber auch ganz allgemein haben die Methoden und auch die Mythen aus der Hochzeit des Rock ihren Ursprung in den Attitüden der Jazzer, ihren Drogenexzessen und ihrer egozen­trischen Experimentierfreude.

Robert Wyatt, ehemals Schlagzeuger von Soft Machine und seit Jahrzehnten Leitfigur in der avantgardistischen Rockmusik, erklärte dem Musikkritiker Di Mar­tino 1986: »Wenn ich mich an meine Schultage erinnere, war ich ein Jazz-Fan, und das andere folgte daraus. In der sehr experimentellen Zeit der Sechziger begannen wir, mit Bändern und allem Möglichen herumzuexperimentieren. Solche Sachen machten da schon die Vorläufer von Charlie Hadens Liberation Orchestra.« Und das wegweisende Label, das diese Musik veröffentlichte, war die von Produzent Creed Taylor ins Leben gerufene Firma Impulse. Taylor konnte die Verantwortlichen von ABC-Paramount Records 1960 davon über­zeugen, ein eigenes Label für Jazz zu grün­den.

Eine herausragende Rolle in der Geschichte des Labels spielt der Tenorsa­xofonist John Coltrane, doch er ahnte nicht, dass er zum Vorbild einer neuen Art Rock­musiker werden würdes – denn seit er als junger Mann Anfang der Fünf­ziger ein paar Dollar als Rhythm’n’Blues-Begleitmusiker verdient hatte, interessierte er sich zwar sehr für Stravinsky und die Notationstechniken japanischer Mön­che, nahm aber die zeitgenössische Popmusik noch nicht einmal zur Kenntnis. Dabei war das, was Coltrane an ausschwei­fender Improvisation und wüster Live-Darbietung dem damaligen Club-Publikum bot, nichts weniger als das, was erst Jahre später die Acid-Heads von Grateful Dead oder Blue Cheer auf der E-Gitarre vollführten.

Selbst der Tod von Coltrane wurde zur Legende. Kurz zuvor erst zu noch unbekannteren musikalischen Ufern aufgebrochen, erlag er knapp 41jährig am 7. Juli 1967 den Spätfolgen des exzessiven Gebrauchs harter Drogen. »Tranes« Todestag also jährt sich in diesem Sommer zum 40. Mal. Aus diesem Anlass ist bei Rogner & Bernhard ein Buch von Ashley Kahn über die Geschichte des Labels erschienen.

Kahn verfasste nicht nur Monografien über zwei Jahrhundert­alben der populären Musik – Miles Davis’ »Kind of Blue« und Coltranes »A Love Supreme« –, sondern betätigt sich auch als Tourmanager und Produzent im Musikbusiness. Und so schreibt er dann auch keine klassische Künstler-Biografie, die sich allein mit der Schaffenskraft des singulären Heros beschäftigt, sondern vielmehr die Geschichte des Labels Impulse, das nicht nur so clever war, Coltrane nahezu freie Hand zu lassen, sondern auch mutig genug, diese Platten tatsächlich zu veröffentlichen.

Auch die Aufmachung war völlig neuartig und sicherte dem Label die produktästhetische Alleinvertretung für den Jazz der Sechziger. Impulse gab seinen Platten nicht nur ein hypermodernes Design in Schwarz und Orange, sondern wertete sie noch durch die Beigabe essayistischer Tex­te und aufwendige Klappcover auf. Die Fotografien im Nouvelle-Vague-Stil auf den Covern machten die bis dato meist recht schnöde gestaltete Schallplatte endgültig zu einem Kunstobjekt eigener Art.

Aber nicht die neue LP-Ästhetik des Labels steht im Mittelpunkt des Buches, sondern – stärker noch als Coltrane selber – die Produzenten und ihr Verhältnis zu der Musik und den Musikern. Kahn gewährt einen ungewohnten Blick hinter die Kulissen, zeigt beispielsweise, wie Produzenten sich mit List und Tücke die Co-Autorenrechte an allen möglichen, im Studio entstehenden Musik-Schnipseln sicherten (Produzent Bob Thiele besaß u.a. die Rechte an Louis Armstrongs »What A Wonderful World«).

Ein Buch aber, das aus der Perspektive der Produzenten geschrieben ist, verlangt vom Leser auch Interesse an der Binnenökonomie der Plattenindus­trie jener Jahre, also an der Frage, wie in den Sechzigern ein Label gemanagt wurde. Das wiederum deckt sich keineswegs notwendig mit dem Interesse von Lesern, die zunächst einfach mehr über Coltrane, den Free Jazz und seine Vorläufer wissen wollen.

Chefproduzent Thiele hatte eigentlich lieber Tanzmusik produzieren wollen, hatte aber Coltrane als Zugpferd des Labels von seinem Vorgänger übernommen. Seine Initiation erlebte Thiele bei den legendären Konzerten im Vil­lage-Vanguard-Club, einem verqualmten Kellerlokal unterhalb von New Yorks Siebter Avenue South. Thiele konnte mit der Musik nicht auf Anhieb etwas anfangen. »Soweit ich mich erinnere«, erzählt er, »war ich am ersten Abend ziemlich schockiert und verwirrt. Aber nachdem ich dranblieb, fing die Musik an, mir einzuleuchten.«

Und er musste stets dranbleiben, denn der Jazz radikalisierte sich in der Zeit der Rassenunruhen und des Vietnam-Kriegs ungeheuer, einer Zeit, die nur im Nachhinein nach Liebe, Frieden und Flower-Power aussieht. 1965 verabschiedete sich »Trane« endgültig von musikalisch Vertrautem und nahm »Ascension« auf – ein 40minütiges Non-Stop-Experiment für sein mit sechs weiteren Bläsern und einem zweiten Bassisten verstärktes Quartett. Kahn nennt es Coltranes »kakophonische Antrittsrede« als neues Haupt des Free Jazz. Der Jazzmusiker Archie Shepp, der an »Ascension« beteiligt war, umschrieb das rückblickend so: »Einige seiner Soli tragen genau die Wut in sich, die auf der Straße von den Panthern zum Ausdruck gebracht wurde, und viele Leute dachten, Tranes Musik sei sehr, sehr zornig.«

Doch die Dinge entwickelten sich nach Coltranes Tod anders als erwartet: Die Kombination von Jugendkultur, Rock und Elektronik überrollte den Jazz regelrecht. In den Siebzigern endete das glorreiche Zeitalter des Jazz, er konnte der Popmusik keine Impulse mehr geben. Das bedeutete auch das Ende von Impulse. Es blieb das Label, das die Avantgarde produziert hatte, aber die Fusion aus Jazz und Rock verpasste. Bereits 1973 kommentierte Frank Zappa die rasend schnelle Musealisierung des Jazz: »Jazz is not dead, it just smells funny.«

Ashley Kahn: Impulse! Das Label, das Col­trane erschuf. Aus dem Amerikanischen von Michael Hein. Rogner & Bernhard, 398 Seiten, 24,80 Euro