Die Schwalbe sucht den Schnee

Der »Krieg gegen die Drogen« hat in Lateinamerika lediglich neue Handelsrouten eröffnet und das repressive Vorgehen gegen ländliche Produzenten und kleine Händler verstärkt.

Fragte man ältere brasilianische Kiffer nach dem glücklichsten Jahr ihres Lebens, dann wird die Antwort in den meisten Fällen wohl »1988« lauten. In diesem Jahr feierten Tausende unverhofft den »Sommer der Dose«. Überall strandeten damals an den Badebuchten Rio de Janeiros und São Paulos etwa zwei Kilo schwere Konservendosen, bis oben hin gefüllt mit bestem indonesischem Gras. Ein paar Monate zuvor hatte die Besatzung des Frachters »Solana Star« den Container mit der heiklen Ladung über Bord geworfen, um einer Verhaftung durch die brasilianische Marine zu entgehen. Pünktlich zum Karneval rostete das Metallbehältnis durch, und die Konserven verteilten sich an der Küste. Die Polizei und partyhung­rige Jugendliche wetteiferten darin, möglichst schnell die angespülten Dosen einzusammeln.

Der Name einer Musikrichtung wurde sogar von diesem erinnerungswürdigen Sommer inspiriert. Seit 1988 heißt die Funkmusik aus Rio de Janeiro »Funk da Lata« – Funk aus der Do­se. Funk ist immer noch populär in Brasi­lien, und auch der Transport von Kokain, Mari­hua­na und Opiaten auf dem Seeweg ist mehr in Mode denn je. Heute sollen fast 90 Prozent des weltweiten Drogenhandels mit Schnellbooten oder Containerschiffen organisiert werden.

Im März trafen sich in der Dominikanischen Republik die Vertreter von zehn Ländern der Karibik, des südlichen Amerika und multilateraler Organisationen, um über den Anstieg von Handel, Produktion und Konsum in der Karibik zu diskutieren. In den vergangenen sechs Jahren wurden weniger Rauschmittel sicherge­stellt als zuvor. Das aber bedeute nicht, dass weniger transportiert werde, meint Eduardo Gamarra, Direktor der Internationalen Univer­sität von Florida: »Heute gibt es einfach besser operierende Organisationen, mit mehr Mitarbeitern, vielfältigere Handelsrouten und besser entwickelte Kommunikationsmittel.«

Drei Viertel des Kokains aus Süd­amerika finden inzwischen über die Inseln und den Festlandkorridor Zentralamerikas seinen Weg in die USA oder zur weiteren Verschiffung nach Europa und Asien, stellt ein Bericht der guatemaltekischen Antidrogen-Informationsstelle SAIA fest. Der gua­temaltekische Innenminister Carlos Vielmann, der Ende März zurücktreten musste, sagte der Tageszeitung Prensa Libre: »Noch ist Guatemala ein Tran­sitland, aber wir sind gerade dabei, uns in ein riesiges Lagerhaus zu verwandeln.«

Einem Bericht des mexikanischen Geheimdiensts zufolge haben die Drogenhändler Zentral­amerikas stark an Einfluss gewonnen; die mexikanischen Kartelle seien abhängig von den Zwischenhändlern, um überhaupt Stoff aus Südamerika zu bekommen, und versuchten deshalb, ihren Einfluss auf Drogen- und Waffengeschäfte in Guatemala zu steigern. Dem könne die Regierung wenig entgegensetzen, meint Vielmann. So stehe in Ocós, einem der wichtigsten Um­schlaghäfen, nur ein alter Haifang­kutter der Küstenwache bereit, den die Schnellboote der Narcos leicht abhängen können

Doch es ist fraglich, ob wirklich vor allem der Mangel an geeigneter Ausrüstung die Händler schützt. Vielmanns Offenbarungseid ist auch ein Appell an die USA, im »Krieg gegen Drogen« mit Geld und Waffen aus­zuhelfen. Solche Appelle werden wohlwollend gehört, ein gutes Dutzend Länder aus Lateinamerika soll in den nächsten Jahren Hilfe bei der Ausbildung von Antidrogeneinheiten sowie beträchtliche materielle und logistische Unterstützung erhalten.

Diese Politik offenbart ein bizarr anmutendes Vertrauen in die cleane Politik der Partnernationen. Doch es gibt genügend Hinweise darauf, dass staatlichen Institutionen in Lateinamerika eine äußerst aktive Rolle beim Anbau und Handel mit Rauschmitteln zukommt. Der brasilianischen Tageszeitung Globo zufolge geben die Drogenverkäufer in Rio de Janeiro etwa zehn Prozent ihres Gewinns an Polizisten ab, und das sind nur die Schmiergelder auf der untersten Ebene des Handels.

In den meisten Ländern Lateinamerikas werden Soldaten und Polizisten so schlecht entlohnt, dass viele sich ein Zubrot verdienen. Häufig schauen sie nicht nur weg, wenn Drogen verkauft werden, sondern lassen sich als Händler, Wächter oder Killer rekrutieren. In Guatemala parken die Pick-Ups mexikanischer Kartelle vor den Kasernen der militärischen Eliteeinheit »Kaibiles«, um neue Mitarbeiter zu werben.

Nicht selten kommt es gar zu Gefechten zwischen Einheiten verschiedener Sicherheitskräfte. In Kolumbien wurden im vergangenen Jahr die Mitglieder eines Anti-Drogen-Kommandos von einer Militäreinheit erschossen. Die Einheit, die sich ­offenbar bei ihren Geschäften gestört fühlte, sei von der US-Armee ausgebildet worden, berichtete der demokratische Abgeordnete Jim McGovern vor dem US-Repräsentantenhaus.

Doch die US-Regierung will ihre Militärhilfe für Kolumbien fortsetzen, obwohl der Misserfolg kaum zu bestreiten ist. »Seit den Anfängen des Plan Colom­bia im Jahr 2000 haben wir 4,7 Milliarden US-Dollar ausgegeben und 2 500 Quadratmeilen Land mit Herbiziden be­sprüht. Aber die Satellitenaufnahmen der US-Regierung zeigen, dass im vergangenen Jahr mehr Koka angebaut wur­de als im Jahr 2000«, bilanziert Adam Isacson, Vorsitzender des Zentrums für internationale Politik in Washington. »Der Kokaanbau könnte nur verringert werden, wenn der kolumbianische Staat in ländlichen Regionen vernünftig regieren würde, dort wo mehr als 75 Prozent der Bevölkerung in Armut leben.«

Erfolgreiche Programme, die Kokabauern und Marihuanapflanzer dazu bewegen, andere Feldfrüchte anzubauen, gibt es wenige in Lateinamerika. Meist bringen die propagierten Ersatzprodukte schlicht nicht genug ein, »agra­rische Subsistenzprogramme« ignorieren zudem meist den sozio­kulturellen Hintergrund des Koka­anbaus, der ja nicht zwangsläufig einer Weiterver­arbeitung zu Kokain dienen muss. Häufig werden die neuen Pflanzungen durch die Besprühung mit Chemikalien zerstört, die eigentlich Koka- oder Hanfplantangen treffen sollen. Die aufwändigere Methode, die Felder von militärischen oder paramilitärischen Rollkommandos zerstören zu lassen, führt nur zu einer gewaltsamen Umverteilung der Anbau­flächen.

Im »Krieg gegen Drogen« werden vor allem Kleinbauern und Kleinhändler bekämpft. Die Verluste können von den großen Kartellen leicht kompensiert werden, denn die Illegalisierung von Rauschmitteln sichert immense Profite, und die Nachfrage scheint zu steigen. Im vergangenen Jahr warnte das Büro der Vereinten Nationen zur Bekämpfung von Drogen und Delinquenz (ONUDD), der Konsum von Kokain in Europa habe »alarmierende Ausmaße« angenommen, vor allem in Spanien.

Nach Informationen der spanischen Polizei gelangt das meiste Kokain über die Provinz Galizien auf den europäischen Markt. Mit Schnellbooten werde es von der Karibik über den Atlantik transportiert und in den versteckten Buchten im Nordwesten Spaniens ver­laden. Zwei galizische Klans mit Verbin­dungen zu den kolumbianischen Kartellen organisierten die Route.

Allerdings ist den Händlern nicht nur ein Kutter auf den Fersen. Die »Sturmschwalbe«, ein Schnellboot der Küstenwache, kreuzt ausschließlich zur Drogenbekämpfung im Atlantik. Im August 2006 warf die Besatzung des Drogentransporters »Zenith« 1 800 Kilo Kokain ins Meer, weil die »Sturmschwalbe« sie verfolgte. Die Päckchen wurden später an der Küste angeschwemmt und von Touristen eingesammelt. Vielleicht wird 2006 einmal als »Jahr der Line« in die Dro­gen­annalen eingehen.