Jugendwahn

Mordserie in London

An Adam Regis und Kodjo Yenga erinnert jeweils eine Website im Internet. Auf Fotos sind die beiden getöteten Jungen, sie waren 15 und 16 Jahre alt, im Kreis ihrer Freunde zu sehen. Es könnte sein, dass in den kommenden Tagen eine weitere Trauerseite im Netz eröffnet wird: Am Freitagabend wurde der 14jährige Paul Erhahon in London erstochen, sein 15jähriger Freund schwebt in Lebensgefahr. Die Polizei wurde kurz vor 20 Uhr zum Tatort im Stadtteil Leytonstone im Nordosten von London gerufen. Die zwei Jugendlichen lagen mit schweren Stichverletzungen auf der Straße, Erhahon starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Es ist der sechste Mord an einem schwarzen Jugendlichen in London innerhalb von nur zwei Monaten.

Auch diesmal geht die Polizei davon aus, dass Jugendliche auf die Opfer eingestochen haben. Polizeiermittler Matthew Horn zufolge haben Augenzeugen gesehen, wie mehrere Jugendliche vom Tatort wegliefen. Zwei Verdächtige wurden festgenommen, einer ist 13 Jahre alt, der andere 19.

Polizei, Medien und Politiker machen gewalttätige Gangs für die Morde verantwortlich. Mitte vergangener Woche sprach der Londoner Polizeichef Ian Blair davon, die Gangkultur sei eine Bedrohung, die ernsthafte Probleme hervorrufen werde, wenn sich die Gesellschaft nicht darum kümmere. Scotland Yard habe allein in London 169 Gangs ermittelt mit insgesamt etwa 5 000 Mitgliedern. Die Gangs sollten zwar auch nicht überbewertet werden, um ihre Faszination für Jugendliche nicht noch zu steigern, aber: »Wir müssen Wege finden, damit die Jugendlichen zu ihrem Schutz auf die staatlichen Autoritäten vertrauen.«

Was sicherlich nicht einfach ist, da in den vergangenen Jahren vor allem populistische Strafdrohungen gegen jugendliche »Straftäter«, etwa wegen zu lauter Musik oder Sprühaktionen, vorgetragen und »Erlasse gegen antisoziales Verhalten« wieder aufgelegt wurden. In Geschäften und Schulen wurde etwa das Tragen von Kapuzenpullovern verboten, und es wurde auch dafür gesorgt, dies polizeilich durchsetzen zu lassen. (Jungle World, 22/05)

Gleichzeitig ist der Ruf nach mehr Schutz für Jugendliche – auch durch die Exekutive – nicht einfach zu ignorieren. Adam Regis gehörte nach Aussagen seiner Freunde keiner Gang an, er sei ein sehr netter junger Mann gewesen, ein talentierter Fußballer, sein Onkel John ist ein berühmter britischer Leichtathlet. Adam wurde auf dem Heimweg vom Kino zusammen mit seiner Freundin von Jugendlichen angegriffen und niedergestochen.

Auch Kodjo Yenga galt als netter Typ, ein Musterschüler, der beliebt war und ebenfalls keiner Bande angehört haben soll. Er führte mit seiner Freundin in einem wohlhabenden Viertel im Westen von London Mutters Hund Gassi, als er angegriffen wurde. Mehrere Jugendliche schlugen auf ihn ein, dann wurde ihm ein Messer ins Herz gestoßen. Sieben Personen zwischen 13 und 21 Jahren wurden festgenommen, vier davon, darunter auch der jüngste, stehen inzwischen wegen Mordes vor Gericht. Die anderen drei jugendlichen Opfer wurden erschossen.

Viele Kondolenzschreiben auf den Websites zur Erinnerung an Regis und Yenga zeugen von dem Schock, den ihre Ermordung bei Jugendlichen ausgelöst hat, und von völliger Hilflosigkeit: Gott wird angerufen und die Verhaftung der Mörder gefordert. In einigen Mails wird die Verschärfung der Strafgesetze, in wenigen gar die Rückkehr zur Todesstrafe gefordert. Offensichtlich ist diese Hilflosigkeit ein Spiegelbild der britischen Politik.

kerstin eschrich