Küssen verboten

In Bosnien-Herzegowina wächst mit den Wahhabiten eine islamistische Bewegung. Sie ist Erbe der arabischen Mujaheddin, die während des Kriegs ins Land geholt wurden. von boris kanzleiter, belgrad

Es war eine merkwürdige Szenerie. Über 3 000 Anhänger der islamistischen Strömung der Wahhabiten waren gekommen, um ihren bei einem Autounfall gestorbenen Anführer Jusuf Barcic im nordostbosnischen Tuzla zu Grabe zu tragen. Der Sarg vor der Moschee war in grünes Tuch gehüllt. Männern mit langen Bärten skandierten: »Alahuekber« – »Gott ist groß«. Als Pressefotografen die Szenerie im Bild festhalten wollten, wurden sie zuerst beschimpft, dann verprügelt. Die Polizei hielt sich zurück. »Wir haben nicht mit so vielen Leuten gerechnet«, sagte ein Uniformierter der Tageszeitung Oslobodjenje.

Die religiösen Fundamentalisten in Bosnien-Herzegowina befinden sich im Aufwind. Einen Massenaufmarsch dieser Größe gab es bisher nicht. Aber die Medien registrieren seit geraumer Zeit ein deutliches Anwachsen der Aktivitäten der radikalmuslimischen Wahhabitenströmung, der auch der Gründer von al-Qaida, Ussama bin Laden, folgt. Barcics Beerdigung in Tuzla vor zwei Wochen war ein weiterer Beweis dafür, dass die Wahhabiten längst kein Randphänomen mehr darstellen. Resid Hafinovic, Professor an der Fakultät für Islamwissenschaften in Sarajevo, meint, die Sekte sei ein »potenziell tödlicher Virus« für die bosnischen Muslime.

Für Aufsehen sorgte vor allem ein Vorfall im Februar. Der verstorbene Jusuf Barcic wollte mit seinen Anhängern in die traditionsreiche Careva-­Moschee im Zentrum der Hauptstadt Sarajevo eindringen und dort die wahhabitischen Gebetsrituale durchsetzen. Der Imam musste zum ersten Mal in der über 500jährigen Geschichte des Gebetshauses die Türen schließen. Nur die angerückte Polizei konnte Auseinandersetzungen zwischen Barcics Anhängern und anderen Gläubigen, die dem traditionellen Islam in Bosnien folgen, verhindern. Bereits im vergangenen Jahr war es im Dorf Kalesija zu einer Massenschlägerei gekommen. Hier hatten Wahhabiten das Gebetshaus besetzt und den Imam verjagt.

Solche Auseinandersetzungen sind zwar Einzelfälle. Aber die Islamisten treten immer forscher an die Öffentlichkeit. In Sarajevo zeigen sich etwa verstärkt Menschen, die den fundamentalistischen Vorschrif­ten Folge leisten: Männer rasieren sich die Kopfhaare, tragen einen langen Bart und kleiden sich in kurze Pumphosen. Frauen verschleiern sich mit einem langen schwarzen Umhang. Doch damit nicht genug. Wahhabitische »Tugendwächter« verprügeln schon mal junge Paare, deren Liebkosungen in der Öffentlichkeit ihrem rigiden Moralkodex widersprechen. Nach einer neuen Meinungsumfrage des Prism Research Instituts lehnen zwar fast 70 Prozent der zwei Millionen bosnischen Muslime die Lehren der Wahhabiten ab. Immerhin 13 Prozent stimmen ihnen aber zu.

Wer sind die Wahhabiten? Die Anhänger fordern eine möglichst wortgetreue Befolgung der Lehren des Korans. Sie fordern die Einführung der Sharia und eines Gottesstaats. Musik, Fernsehen und weltliches Vergnügen gelten als »verdorben«. Sie berufen sich auf den Prediger Muhammed ibn Abd al-Wahhab, der im 18. Jahrhundert seine puritanischen Glaubenssätze zur »Reinigung« des Islam verkündete. Das Zentrum der Bewegung ist Saudi-Arabien, wo das Königshaus ihre Lehren zur Staatsreligion erklärte. Starken Einfluss haben die Wahhabiten auf die Islamisten in Tschetschenien und die afghanischen Taliban.

In Bosnien-Herzegowina wird der Aufschwung der islamistischen Puritaner oftmals mit der perspektivlosen Situation im Land erklärt. »Viele der Wahhabiten kommen aus den ländlichen Gebieten und den unteren Schichten. Diese Menschen sind verzweifelt«, zitiert Nidzara Ahmetasevic vom Balkan Investigative Reporting Network einen ehemaligen Anhänger der Sekte. Im Krieg zwischen 1992 und 1995 war das Land in weiten Teilen zerstört worden. Über 100 000 Menschen wurden bei den Kämpfen zwischen Serben, Kroaten und Muslimen ermordet, zwei Drittel davon waren Muslime. Mit der Intervention internationaler Truppen wurden bewaffnete Kämpfe zwar unterbunden. Die politische Situation bleibt aber gespannt, und die wirtschaftliche Lage ist frustrierend.

Tatsächlich ist das Problem jedoch komplexer. Auch wenn die Mehrheit der bosnischen Muslime säkular orientiert ist, gab es unter der Intelligenz doch auch immer fundamentalistische Strömungen mit politischem Gewicht. Nicht zuletzt der erste Präsident nach der Unabhängigkeitserklärung von 1992, Alija Izetbegovic, sympathisierte offen mit der islamistischen Theologie, auch wenn er sich diese in der Tagespolitik nicht zu eigen machte. Zur Verstärkung seiner militärischen Truppen holte er mehrere tausend arabische Mujaheddin ins Land, viele davon ehemalige Afghanistan-Kämpfer. »Bei der damaligen politischen wie militärischen Führung in Sarajevo genossen wir höchste Privilegien«, sagte Ali Hamad, ein ehemaliger Kommandeur einer Mujaheddin-Einheit aus Bahrein, kürzlich dem Spiegel.

Heute ist es das Erbe dieser Allianz, das aus Bosnien-Herzegowina ein fruchtbares Rekrutierungsfeld für die religiösen Sektierer macht. Ausgestattet mit bosnischen Pässen blieben mehrere hundert Mujaheddin nach dem Krieg im Land und bauten mit großzügiger finanzieller Unterstützung aus Saudi-Arabien ein Netzwerk von Organisationen auf. In ihrem Umkreis versuchen die Islamisten, Nachwuchs zu rekrutieren.

Die Haltung der bosnisch-muslimischen Führung bleibt dabei ambivalent. Einerseits steht die Regierung unter dem Druck der USA. Diese hatten den Import der Mujaheddin nach Bosnien zu Beginn der neunziger Jahre zwar stillschweigend unterstützt. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 möchten sie aber die in globale Jihad-Netzwerke integrierte islamistische Szene zerschlagen. Bereits im Jahr 2002 lieferte die bosnische Regierung sechs in Algerien geborene Wahhabiten mit bosnischen Pässen an die US-Behörden aus. Sie wurden in Guantánamo interniert. Seitdem kommt es regelmäßig zu weiteren Verhaftungen.

Andererseits haben die Islamisten aber weiter einen direkten Draht zu Führungs­personen. Der frühere Gotteskrieger Ali Hamad sagt: »In der jetzigen bosnischen Führung befinden sich Leute, die unsere Ankunft seinerzeit sehr begrüßten.« Mitt­lerweile haben Aussteiger aus der Wahha­biten-Sekte eine Nichtregierungsorganisation gegründet, die nachdrücklich vor der Gefahr warnt. Jasmin Merdan vom Zentrum für die Prävention von Terrorismus in Sarajevo meint: »Das Problem wurde mehr als zehn Jahre ignoriert, und wir sind deshalb in eine nicht gerade beneidenswerte Situation geraten.«