»Wir sollten uns eine Weile aus dem Weg gehen«

Yaacov Lozowick

Der israelische Historiker und Archivdirektor der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, Yaacov Lozowick, vertritt die These, dass die Weigerung der arabischen Welt, Israel anzuerkennen, das größte Hindernis für den Frieden sei. Auf Europa könne sich Israel bei Friedensverhandlungen mit den Palästinensern nicht verlassen. Im Herbst erschien im Konkret-Literatur-Verlag sein Buch »Israels Existenzkampf – eine moralische Verteidigung seiner Kriege«, das er kürzlich auf einer Lesereise in verschiedenen deutschen Städten vorstellte. Mit ihm sprach Morten Friese.

Nachdem Hamas und die Fatah eine Einheitsregierung gebildet haben, scheint der Boykott der Hamas zusammenzubrechen. Einige europäische Länder haben angekündigt, die Sanktionen zu lockern. Was bedeutet das für Israel?

Mir persönlich macht die Änderung in der Linie der Europäer keine so großen Sorgen. Sie haben 14 Monate lang den Boykott der Hamas mitgetragen. Das war so richtig wie unerwartet. Zuvor gab es Jahrzehnte, in denen sie anders gehandelt haben, und nun machen sie wieder das, was sie vorher gemacht haben. Aber die Haltung der Europäer ist nicht so entscheidend, weil wir uns ohnehin nicht auf sie verlassen.

In Europa werden Vernichtungsdrohungen der Hamas und der Hizbollah gegen Israel häufig als Propaganda abgetan, die nicht wirklich ernst genommen werden könne. Gleichzeitig heißt es oft, Selbstmordanschläge und Raketenangriffe seien ein Ausdruck von Verzweiflung der Unterdrückten. Wie erklären Sie sich diese Haltung?

Die leichteste Antwort wäre, dass die Europäer immer noch zutiefst antisemitisch sind. Und das stimmt wahrscheinlich. Aber es gibt noch andere Gründe. Juden bestehen darauf, sich national betätigen zu können, während der Sinn des europäischen Projekts im Abbau von Nationalismus besteht. Vor 200 Jahren war es genau umgekehrt. Inzwischen ist es den Europäern gelungen, ohne Gewalt miteinander zu leben. Man verhandelt, findet Wege – der ganze Zeitgeist ist geprägt von Pazifismus und von dem Gedanken, rational zu handeln.

Aber dieses Modell ist nicht auf die ganze Welt übertragbar; die Israelis und auch die Amerikaner befinden sich in einer ganz anderen Situation. Ich habe in Deutschland oft gehört: »Kriege kann man nicht rechtfertigen.« Aber das ist totaler Quatsch. Was ist mit dem Einsatz der Alliierten im Zweiten Weltkrieg? Ohne ihn hätte es eine neue Weltordnung gegeben – unter den Nazis. Und nun scheinen die Europäer nicht akzeptieren zu können, dass die Hamas deshalb die Wahlen gewonnen hat, weil eine Mehrheit der palästinensischen Wäh­ler ihren Ideen zustimmt. Denn das würde bedeuten, dass eine demokratische Wählerschaft eine irrationale Politik befürwortet, eine Politik, in der Krieg über Friedensverhandlungen rangiert.

Ist das der Grund, warum die Palästinenser von der EU finanziell so großzügig unterstützt werden?

Wahrscheinlich. Ich glaube, dabei spielt auch diese dumme und ahistorische Ansicht vieler Europäer eine Rolle, dass die armen Palästinenser unter den Juden leiden müssen, weil diese von den Europäern vertrieben und ermordet wurden.

Sie schildern in Ihrem Buch »Israels Existenzkampf« Ihre Metamorphose vom begeisterten Zionisten zum Anhänger von »Peace Now« und schließlich zum Wähler Ariel Sharons. Was hat diese Veränderungen beeinflusst?

Als aufgeklärter Mensch glaubte ich, dass es rationale Gründe für den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern gibt und dass sich deshalb ein Kompromiss finden lässt. Am Ende des Jahres 2000 habe ich jedoch erkennen müssen, dass das falsch war. Im Sommer 2000 hat Ehud Barak ein sehr weit gehendes Angebot vorgelegt. Wir waren zu schmerzlichen Kompromissen bereit, nachdem die Palästinenser uns zu verstehen gegeben hatten – schriftlich übrigens –, dass verhandelt werden muss, dass sie eine Zweistaatenlösung akzeptieren und dass es Gewalt – von Terror gar nicht zu reden – nie wieder geben wird. Alles schien in rationalen Bahnen zu verlaufen.

Doch dann haben die Palästinenser, anstatt weiter zu verhandeln, erneut den Weg der Gewalt gewählt. Sie griffen also genau in dem Moment, in dem wir den Abbau fast aller Siedlungen zugesagt haben, wieder zur Gewalt. Da musste ich erkennen, dass dieser Konflikt irrationale Bestandteile hat, und mich korrigieren.

Israel hat den Gaza-Streifen inzwischen geräumt, doch die Sicherheitslage der Bevölkerung hat sich nicht verbessert. War der Rückzug ein Fehler?

Nein, er war richtig. Erstens einfach deshalb, weil wir nicht mehr in Gaza sind, und das ist eine gute Sache. Zweitens, weil man auch die außenpo­litische Wirkung bedenken muss. Ein europäischer Boykott einer von der Hamas geführten Regierung wäre unwahrscheinlich gewesen, wenn wir im Gaza-Streifen geblieben wären. Was nach dem Rückzug passierte – Israel zog sich zurück, aber die Palästinenser schossen weiter –, war so eindeutig, dass sogar manche Europäer es verstanden haben.

Ich zitiere oft Amos Oz, der vor dem 11. September 2001 schrieb, dass es eigentlich zwei Kriege gebe: den Krieg wegen der Siedlungen, der rationale Gründe hat, und den Krieg gegen die Existenz Israels – der ist irrational. Oz’ Plädoyer damals war, die rationalen Gründe aus der Welt zu schaffen. Dann herrsche Klarheit, und es sei leichter, den zweiten Krieg zu führen. Genau genommen gibt es sogar drei Kriege: neben den beiden erwähnten noch den der Islamisten gegen die Menschheit.

Trotzdem bin ich weiterhin dafür, den Palästinensern die rationalen Gründe für den Krieg zu nehmen. Die Mehrheit der Israelis hat bei den letzten Wahlen jene Parteien unterstützt, die den Rückzug und eine Teilung befürworten. Doch wir haben nur weitere Gewalt geerntet, und die israelische Wählerschaft hat, für eine Weile wenigstens, ihr Interesse an einseitigen Lösungen verloren. Dennoch werden wir irgendwann dahin zurückkehren, weil es der einzige rationale Weg ist – es sei denn, die Palästinenser entscheiden sich für Frieden, woran ich nicht glaube.

Ich habe aber die Hoffnung, dass, wenn wir auf Dauer keine direkte Herrschaft über die Palästinenser ausüben, eine Generation von ihnen heranwachsen wird, die nicht mehr direkt mit uns konfrontiert ist. Wenn diese Menschen groß sind, werden sie sich fragen: Wozu das Ganze? Wenn die Seiten sich also aus dem Weg gehen, gibt es vielleicht Hoffnung auf Frieden – später.

Und vorher gibt es keine Hoffnung?

Es sind zweieinhalb Szenarien denkbar. Das erste ist ein undemokratisches, aber es ist das wahrscheinlichste. Es kann sein, dass die Palästinenser einen starken Mann finden, der die Macht übernimmt und entscheidet, mit uns Frieden zu schließen. Das ist nicht demokratisch, und Palästina wird deshalb auch nicht demokratisch werden.

Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass die Palästinenser demokratisch entscheiden, uns zu akzeptieren. Damit ist auf absehbare Zeit nicht zu rechnen, aber vielleicht irgendwann einmal.

Die zweieinhalbte Möglichkeit ist, dass Saudi-Arabien eine entscheidende Rolle spielt. Die Saudis haben erkannt, dass ihr größter Feind der Iran ist, nicht Israel. Um gegen den Iran etwas unternehmen zu können, braucht man aber die Amerikaner und deshalb Ruhe bei den Palästinensern. Ob Saudi-Arabien in der Lage ist, die Palästinenser zu Kompromissen mit uns zu bewegen, weiß ich nicht; ich kann es nur hoffen. Es ist alles sehr kompliziert, weil die Hamas über gute Verbindungen zum Iran verfügt. Die Saudis wollen gegen den Iran handeln und werden deshalb Druck auf die Palästinenser ausüben, und jene Palästinenser, die dem Iran näher stehen, werden sich dagegen wehren. Große Hoffnungen sollte man also nicht haben.