Omar Everleny Pérez, Ökonom, im Gespräch über die desolate wirtschaftliche Lage Kubas

»Die Situation ist explosiv«

Das Rationierungssystem Libreta wurde 1963 in Kuba eingeführt, um die Versorgung der Bevölkerung gerechter zu gestalten. Es half den Menschen durch die eklatanten Entbehrungen nach Auflösung der Sowjetunion und des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe Anfang der neunziger Jahre. Die als »período especial«, als Sonderperiode in Friedenszeiten, bezeichnete Ära wird mit der heutigen tiefen Wirtschafts­krise verglichen, in der weniger rationierte Lebensmitteln verfügbar sind als damals. Das ist ein Grund, weshalb zwischen November 2021 und Januar 2024 rund 600.000 Menschen die Insel in Richtung USA verlassen haben.
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In Kuba wird die soziale Krise auf den Straßen der Hauptstadt Havanna immer sichtbarer: Menschen, die die Müllcontainer nach Verwertbarem durchstöbern, Rentner, die vor den Bauernmärkten auf verbilligte Lebensmittel gegen Marktende warten, aber auch die Kriminalität scheint auf dem Vormarsch. Täuscht der Eindruck?
Es gibt eine Zunahme von Kriminalität, aber nach wie vor auf niedrigem Niveau. Allerdings werden Raubmorde, um beispielsweise in den Besitz eines Elektrorollers oder Motorrads zu kommen, durch die sozialen Medien deutlich bekannter als früher. Derartige Fälle kommen in Kuba vor, aber vielleicht alle zwei Monate und damit nach wie vor deutlich seltener als in Mittel- oder Südamerika, wo sie alltäglich sind. Das ist ein immenser Unterschied.
Was in Kuba durch die sozialen Medien auch sichtbar wird, sind die Femizide. Deren Zahl ist hoch, steigt und ist alarmierend.

Gilt das auch für Selbstmorde? Gerüchten zufolge ist auch deren Zahl hoch?
Ja, die Gerüchte über Nachbarn oder Bekannte, die sich umgebracht hätten, kursieren, aber da gibt es keine belastbaren Zahlen und keine offiziellen Statistiken. Fakt ist: Die ökonomische ­Situation ist dramatisch, gravierender als in der Krise nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers Anfang der neunziger Jahre in der período ­especial. Anders als damals gibt es Probleme bei der Versorgung mit Produkten für die Rationierungskarte, die Libreta. Die Zuteilung von Hühnchen blieb in den ersten Monaten des Jahres mehrfach bis zur Mitte des Monats aus – viele Menschen sind darauf aber angewiesen. Auch bei den Grundnahrungsmitteln Bohnen und Reis kam es zu Verzögerungen. Bei Reis gab es mehrfach am Anfang des Monats eine Zuteilung von zwei bis drei Pfund und später erst die restliche Menge.

Die privaten Bauernmärkte hingegen sind gut bestückt. Es fehlt also nicht am Angebot?
Wer Geld hat, kann sich dort alles ­kaufen, aber das Problem ist, dass viele kein Geld haben und sich das nicht leisten können. Der Mindestlohn in Kuba beträgt 2.100 Kubanische Peso, ein Kilo Milchpulver kostet schon 2.300 Peso, ein Pfund Schweinefleisch rund 600 Peso – zwischen den Löhnen und den Lebenshaltungskosten klafft eine gigantische Lücke.

»Fast alles, was kleine und mittlere Unternehmen benötigen, müssen sie aus dem Ausland beschaffen. Selbst Devisen zum Import müssen sie auf dem Schwarzmarkt kaufen, denn die Banken verkaufen ihnen keine.«

Viele Produkte kann sich nur noch ein exklusiver Kreis leisten: Leute mit Zugang zu Devisen. 100 Euro entsprechen in Kuba derzeit mehr als 360.000 Peso. Die Inflation schreitet immer weiter voran und besonders benachteiligt sind die Rentner der Revolution. Sie erhalten eine Rente, die meist zwischen 1.500 und 2.500 Peso beträgt, viele leben in Armut, in totaler Hoffnungslosigkeit. Sie werden von den staatlichen Sozialprogrammen nicht oder zu wenig geschützt.

Kuba hat weltweit den Ruf eines Sozialstaats, auch der jüngste Haushalt wird als »sozialster der Welt« von der Regierung gerühmt. Müssen die Verantwortlichen da nicht gegensteuern?
Sicherlich, aber der Staat hat dafür nicht die nötigen Instrumente. Es ist richtig, dass der Haushalt in der Theorie hohe soziale Ausgaben vorsieht. Das Problem ist aber, dass es in den Hospitälern an Medikamenten fehlt, dass Operationen aufgrund von Mangel an Ausstattung wie Nahtmaterial nicht vorgenommen werden können, dass die Müllabfuhr nicht funktioniert, weil es an Benzin für die LKW fehlt. Damit einher geht ein hygienisches Problem – das hat es früher nicht gegeben.
Auch das Bildungssystem leidet unter der ökonomischen Situation, denn die Lehrer gehören zu jenen, die aus dem Land wegziehen, und ein Bildungssystem ohne ausreichend Lehrkräfte funktioniert schlicht nicht. Derzeit werden händeringend pensionierte Lehrer:innen gesucht und eingesetzt.

Zeigt sich die Erosion der Sozialsysteme auch in Zahlen?
Die Kindersterblichkeit, noch vor ein paar Jahren bei rund drei Promille, ist auf 7,7 Promille gestiegen. Die Zahl der Mütter, die bei der Geburt sterben, ist gestiegen, und die Lebenserwartung leicht gesunken. Dafür ist die anhaltende ökonomische Krise mitverantwortlich, die bereits vor der Covid-19-Pandemie einsetze. Synonym dafür ist auch das Haushaltsdefizit Kubas, das in diesem Jahr bei 18,5 Prozent des Etats liegt. Jede Erhöhung des Sozialetats muss gegenfinanziert werden, denn sie heizt nur die Inflation weiter an, wenn nicht parallel das Angebot steigt und mehr Produkte in Umlauf gelangen. Aber das ist nicht der Fall. Das ist das zentrale Dilemma und ein Teufelskreis, der die kubanische Wirtschaft seit Jahren prägt.

Im Dezember 2020 hat Kuba nach mehr als 25 Jahren mit einer doppelten Währung, dem Peso nacional und dem Peso convertible, dem Devisen-Peso, eine Währungsreform vorgenommen. Sind die positiven Effekte verpufft?
Die Inflation hat die positiven Effekte der Währungsreform aufgefressen. Das Grundproblem ist: Der kursierenden Geldmenge stehen zu wenige Produkte gegenüber, die Wirtschaft ist nicht produktiv genug. Derzeit liegt der Gegenwert des Mindestlohns umgerechnet unter sechs US-Dollar, Tendenz sinkend. Die Durchschnittsrente beträgt 1.528 Kubanische Peso – davon kann in Kuba niemand leben.

Bremst beispielsweise das staatliche Ankaufsystem für Agrarprodukte, Acopio, die Produktivität? Ergibt es noch Sinn, das Rationierungssystem, die Libreta, für alle zu gewähren, auch wenn nicht alle darauf angewiesen sind?
Seit Jahren plädieren Sozialwissenschaftler auf Kuba und außerhalb Kubas für die Reform dieser und auch anderer Systeme, wie das der staatlichen Fixpreise für bestimmte Produkte wie Benzin oder Düngemittel. Wir brauchen Reformen, müssen uns von staatlichen Unternehmen trennen, die rote Zahlen schreiben. Die Regierung subventioniert Unternehmen, die schon längst hätten stillgelegt werden müssen, aber es passiert nichts.

Ein Erfolgsmodell scheinen die seit 2021 erlaubten kleinen und mittleren Unternehmen zu werden, von denen derzeit rund 11.000 existieren, die seit Dienstleistungen und Produkte anbieten und immer wichtiger werden. Es kursiert der Vorwurf, dass viele den Kindern von hohen staatlichen Mandatsträgern gehören. Ein Problem?
Es gibt mittlere Unternehmen, die von Kindern von hohen Funktionären betrieben werden, zum Beispiel von Mariela Castro, der Tochter von Raúl ­Castro. Nur, warum ist das ein Problem? Dass sie die Möglichkeiten nutzen, die die Freigabe der kleinen Unternehmen Reformen eröffnen, ist legal. Die zen­trale Frage ist, woher kommt das Geld für diese Aktivität, und die kann ich nicht beantworten. Im Fall von Mariela Castro ist es wahrscheinlich, dass das Kapital von ihrem italienischen Ehemann stammt. Hinzu kommt, dass das Phänomen der mittelständischen ­Unternehmen in Händen von Kindern hoher Funktionäre sich auf Havanna konzentriert – in den Provinzen sieht es deutlich anders aus. Ich kenne etliche derartige Unternehmen, die rein gar nichts mit dem Staat und seinen Funktionären zu tun haben. Das wird auch gern aus politischen Motiven aufgebauscht.

Der Staat droht an Glaubwürdigkeit zu verlieren, wenn er der sozialen Misere tatenlos zusieht. Fehlt ein klares Konzept, eine Strategie, fehlt es an Reformwillen?
Definitiv. Der kubanische Staat ist nicht mehr der gleiche wie noch vor fünf, sechs Jahren. Die Kritik am Präsidenten Miguel Díaz-Canel ist immens, es wird unflätig über ihn gepöbelt und er hat viel Glaubwürdigkeit verspielt. Die Situation ist explosiv. Die Zahl der Proteste steigt, die Unzu­friedenheit der Menschen ist beinahe greifbar.

Welche Rolle spielt die Tatsache, dass viele Kubaner:innen Steuerschulden haben? Die Außenstände der Steuerbehörde Onat belaufen sich auf 1.577 Millionen Peso.
Zum einen führt die ökonomische ­Situation dazu, dass die Leute nicht zahlen können, zum anderen mangelt es dem Staat an Kontrollmechanismen. Eventuell gibt es auch einige unter den Steuersäumigen, die aus Protest nicht zahlen. Aber die Lage ist generell schwierig, denn fast alles, was kleine und mittlere Unternehmen benötigen, müssen sie aus dem Ausland beschaffen. Das ist teuer, kompliziert und langwierig. Selbst die Devisen zum Import müssen die Unternehmen auf dem Schwarzmarkt kaufen, denn die Banken verkaufen ihnen keine und machen auch Schwierigkeiten beim Abheben größerer Summen. All das kann dazu beitragen, dass die Steuermoral nicht sonderlich hoch ist.

Sind Reformen da nicht unausweichlich?
Priorität hat für mich die Produktion von Nahrungsmitteln. Deshalb muss das staatliche Ankaufsystem mit den latent unattraktiven Preisen als Erstes reformiert werden. Kuba ist abhängig von Nahrungsmittelimporten, rund zwei Milliarden US-Dollar werden dafür pro Jahr ausgegeben. Das gilt es zu ­reduzieren – genauso wie die internen Blockaden, die das kubanische Wirtschaftssystem seit Jahren prägen.

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Omar Everleny Pérez Villanueva, Sozialwissenschaftler aus Havanna

Omar Everleny Pérez Villanueva

Bild:
Knut Henkel

Omar Everleny Pérez Villanueva ist Sozialwissenschaftler aus Havanna. Er wurde 2016 als Professor für Wirtschaft an der Universität Havanna und Leiter des Studienzentrums für kubanische Wirtschaft (CEEC) entlassen, weil er tiefgehende strukturelle Reformen angemahnt hatte, die bis heute nicht initiiert wurden. Heute ist der Ökonom freier Analyst und arbeitet mit Universitäten und Medien.