Zwischen zwei Castros

Die Kubaner warten. Die einen auf die Rückkehr des Comandante, die anderen auf Reformen seines Bruders. Zufrieden sind weder die einen noch die anderen, denn trotz eines beispiellosen Wirtschaftsbooms verbessern sich die Lebensbedingungen auf der Insel nicht. von daniel diegerich (text und fotos)

Der Blick des alten Mannes geht ins Leere. Auf einer Bank in der Calle Galeano sitzt der ganz in Weiß gekleidete kahlköpfige Rentner. Neben sich hat er Zeitungen, Zigaretten und kleine in Plastik verpackte Kaffeetüten ausgelegt, die er zum Verkauf anbietet. Fast alle Bänke in dem an der Ecke zur ehemaligen Prachtstraße Galeano liegenden Park im Herzen Ha­vannas sind besetzt. Dem Alten gegen­über sit­zen drei Männer, die über die Baseball­spiele am kommenden Wochenende philo­sophieren, daneben einige Jugendliche, die darauf warten, dass die Kasse des um die Ecke liegenden »Teatro Ameríca« aufmacht.

Es ist früher Nachmittag, und in dem alt­ehr­würdigen Bau soll am Abend Eddy-K auf­treten, eine der derzeit populären Reggaeton-­Kapellen der Insel. Ein Ereignis für die Jugend des Landes, denn in Havanna ist derzeit wenig los. Das kulturelle Angebot ist genauso beschei­den wie das Warenangebot in den umliegenden Geschäf­ten. Plastikbecher und Teller, Kleiderbügel, klei­ne Farbeimer und einige wenige Klei­dungsstücke sind in der Welt des Peso Nacional, der Lan­deswährung, käuflich zu erwerben. Einige Ecken weiter gibt es für den harten Peso Convertible, die Devisenwährung, D & G-T-Shirts, Nike-Sneakers, Beck’s-Bier, Speiseöl und Milchpulver.

Das Angebot in den Devisenläden steht im eklatanten Widerspruch zur morbiden Aura der Calle Galeano, wo verblichene, ros­tige Blechschilder an abgeschabten Fassaden hängen. Hier und da, wo sich früher Fens­ter und Türen befanden, gähnen einem leere Löcher entgegen. Die ehemalige Vorzeigestraße ist heruntergekommen, einige Balkons, aber auch ganze Fassaden werden von abenteuerlichen Holzkonstruktionen ge­stützt. Normalität in Kuba und noch mehr in Centro Habana, dem verlotterten Stadtteil der kubanischen Hauptstadt, der als ziemlich gefährlich und verrucht gilt. Kaum jemand hat es hier eilig. Die Leute verweilen an jeder zweiten Straßenecke, halten ein Schwätzchen und gehen dann weiter, um sich ums Abendessen zu kümmern. Das tägliche Organisieren der Lebensmittel und der dazu nötigen Pesos ist ein wesentlicher Bestandteil des Alltags. Kaum ein Kubaner verdient genügend, um von seinem Lohn und komplett legal über die Runden zu kom­men.

Wirtschaftsboom ohne Folgen

Ein seltsamer Kontrast zu dem Wirtschafts­boom, den die offiziellen Statistiken ausweisen. Um 12,5 Prozent ist die kubanische Wirtschaft 2006 gewachsen, so stark wie in keinem anderen Land der Region. Und auch 2005 war mit 11,8 Prozent Zuwachs bereits ein echtes Boomjahr. Doch zu sehen ist davon in den Straßen der kubanischen Haupt­stadt wenig. Einzig am Malecón, der Uferpromenade, und in der Altstadt wird kräftig saniert und renoviert; in Centro Habana und der Calle Galeano lässt sich hingegen keine Baubrigade sehen.

Auch die Busse, die die breite Avenida befahren, wirken antiquiert. Auf einem rot-weiß lackierten Exemplar, das sich scheppernd einer Haltestelle nähert, prangt das Schild »Arnhem«, womit klar ist, dass es sich um einen gespendeten Bus aus Holland handelt. »Ein echter Veteran«, lacht Iván García Quintero und blickt dem Gefährt, das sich klappernd und quietschend auf der löchrigen Straße entfernt, hin­terher. Der große massige Mann mit dem dunkelblauen Basketballtrikot nimmt den alltäglichen Verkehrsinfarkt in Havanna mit Humor. Neue Busse werden derzeit nur im Überlandverkehr zwischen den Städten ein­gesetzt, in Havanna rollen die zerbeulten Reste einer aus aller Herren Länder stammenden Busflotte. Aus Spanien, Holland, Frankreich und auch Deutschland kommen die dort ausrangierten Modelle, die nun durch die Stadtteile der 2,5-Millionen-Metropole kurven. »Der Nahverkehr ist ein echtes Problem und steht kurz vor dem Zusammenbruch«, sagt Iván García.

Lange Jahre hat der 36jährige Jour­na­list für die unabhängige Nach­rich­ten­agentur Cuba Press gearbeitet. Erst an der Seite von Raúl Rivero und seiner Mutter Tanía Quintero, bis zu deren Ver­haftung beziehungsweise Ausreise im März 2003, und dann allein. Aber seit einem guten Jahr hat auch Iván nichts mehr veröffentlicht. Erst akzeptierten die Redaktionen im Ausland seine telefonisch übermittelten Berichte nicht mehr, dann warnte ihn der kubanische Geheimdienst mehrfach eindringlich. Doch irgendwann will Iván García wieder anfangen, über den Alltag der Bevölkerung in Kuba zu berichten. Einen Laptop hat er bereits. »Und der Internet-Anschluss ist in Kuba, wie so vieles andere, eine Frage des Geldes«, sagt der Mann mit dem dunklen, bronzefarbenen Teint und dem altmodischen Schnauzer.

Um die chavitos, so wird der Peso Convertible in Kuba spöttisch genannt, dreht sich alles. Wer keine Devisenpesos hat, muss zusehen, welche zu bekommen, denn viele Pro­duk­te finden sich nur in den Devisenläden der Regierung und kaum mehr in den herunter­gekom­menen Bodegas, wo die Kubaner die Produkte der libreta, der subventionierten Rationierungskarte, einkaufen. »Speiseöl muss man oft im Devisensupermarkt kaufen«, schildert Iván eine typische kubanische Alltags­erfahrung.

Daran hat sich auch mit dem wirtschaft­lichen Boom im Zeichen der weißen Kittel nichts geändert. Den Ärzten und Krankenschwestern hat Kuba den Wirtschaftsboom in erster Linie zu verdanken, denn dank ihrer Arbeit im Bruderstaat Venezuela flossen 2006 schätzungsweise sechs Milliarden US-Dollar in Form von Erdöl und Devisen nach Havanna, so die jüngsten Schätzungen der Experten des Forschungsinstituts der kubanischen Wirtschaft (CEEC).

Auch Ingenieure, Agrartechniker und Lehrer werden nach Venezuela geschickt. Äthanol­anlagen, Zuckerrohrmühlen und andere Indus­trieanlagen werden dort von den kubanischen Brigaden aufgebaut. Dafür sollen die Venezolaner beim Bau eines Nickelbergwerks in Kuba helfen und eine alte Raffinerie wieder flott machen. Längst ist der »zweite Comandante«, wie Venezuelas Präsident Hugo Chávez auch genannt wird, Kubas wichtigster Handelspartner und Investor.

Vorrang für Venezolaner

Doch einen wahrnehmbaren Schub haben die Milliarden aus dem an Erdöl reichen Land von Hugo Chávez der Inselwirtschaft und den kubanischen Haushalten bisher nicht beschert. »Die Lebensmittelpreise sind eher gestiegen, und die staatlichen Gehälter reichen hinten und vorne nicht, um davon zu leben«, kritisiert Gabriel Calaforra. Der ehemalige Diplomat wohnt nur wenige Häuserblöcke von der Calle Galeano entfernt, seine Wohnung ist ein beliebter Treffpunkt für Studenten und Intellektuelle. Mit diesem Missverhältnis zwischen Lohn und Lebenshaltungskosten leben die Kubaner seit Beginn der neunziger Jahre. Für die Folgen und die derzeitige Situation im Land macht Calaforra die kubanische Regierung verantwortlich. »Wir leben in einer Situation ohne klares Ziel. Niemand weiß, in welche Richtung es geht, und alle warten auf Signale«, sagt der kleine Mann mit seinen milchigen Augen.

Calaforra, einst Botschafter in Däne­mark, wartet auf eine Augenopera­tion, die ihm zumindest einen Teil der Sehkraft wiederbringen soll. Doch wie viele andere Kubaner muss auch er warten.

»Derzeit haben die Leute aus Venezuela Vorrang«, erklärt William, ein junger Student, der fast jeden Montag­abend in der Wohnung Calaforras vor­beischaut. Missbilligend legt er die Stirn in Falten. Der alte Mann liegt ihm am Herzen, und außerdem kann er nicht begreifen, weshalb die Kubaner im eigenen Land, in den eigenen Kran­kenhäusern und bei den eigenen Ärzten keine Priorität genießen. Das geht nicht nur ihm so, doch geklagt wird über »das Fehlen von Respekt gegenüber der eigenen Bevöl­kerung«, wie es in Kuba vornehm heißt, nur hinter vorgehaltener Hand. Aus Venezuela, Bolivien, aber auch aus Haiti und Nicaragua kommen Men­schen mit Augenkrankheiten, um sich in Kuba behandeln zu lassen. Unentgeltlich, wie Fidel Castro es versprochen hat. Ein recht kostspieliger Propagandaerfolg für das kubanische Gesundheitssystem. Viele Kubaner fra­gen sich, wann der Wirtschaftsboom bei ihnen in der Lohntüte und in den eigenen vier Wänden spürbar wird. Trotz des Wirtschaftswachstums ist für die meisten Kubaner nicht mehr herausgesprungen als ein chinesischer Reiskocher, ein Dampfkochtopf und zwei Pfund Reis zusätzlich pro Monat auf der Rationierungskarte.

Raúl wird’s schon richten?

»Alles unverändert«, lautet denn auch die lakonische Antwort auf die Frage, ob sich etwas zum Besseren verän­dert habe. Dabei wird von der Regierung durchaus investiert. »In den Neubau von Schulen und Krankenhäusern zum Beispiel und in die Infrastruktur. Doch das registrieren nur die Kubaner, die diese Infra­struk­tur auch nutzen«, erklärt der kuba­nische Ökonom Oscar Almeda. Er hat sich schon vor längerer Zeit selbständig gemacht als privater Zim­mer­vermieter und lebt davon vergleichsweise gut. Er kann sich die Fahrt mit dem Überlandbus aus chinesischer Produktion in seine Herkunftsstadt Pinar del Río durchaus leisten. Doch für viele seiner Freunde sind die 33 Peso schlicht zu teuer.

Aber Almeda hofft, dass sich die Verhältnisse bald ändern werden. Er hofft auf Raúl Castro. Der steht in Kuba für Effizienz, und die wird auch mehr und mehr gefordert. In der kubanischen Presse häufen sich die Ar­tikel über schlechten Service im staatlichen Sektor, Betrug, Korruption und Selbstbedienungsmentalität. Und der fünf Jahre jün­gere Bruder Fidel Castros hat im Dezember vor dem Parlament darauf hingewiesen, dass nicht nur er es leid sei, Ausflüchte zu hören. »Raúl will Ergebnisse, und das Wort Effizienz ist in den letzten Monaten wieder in den kubanischen Wortschatz aufgenommen worden«, sagt Almeda optimistisch. Für ihn scheint das genauso ein Indiz des Fortschritts wie das Anfang des Jahres er­lassene Gesetz, wonach Unternehmen Mitarbeiter wegen fehlender Effizienz entlassen können. Zudem sollen im Juni die verantwortlichen Ministerien Reformen für die Landwirtschaft präsentieren. Die wird selbst in der Wochenzeitung Bohemia als »un­produktives Martyrium« bezeichnet.

»Die hohen Lebensmittelpreise sind neben dem Wohnungsmangel und dem Nahverkehr die zentralen Probleme der Kubaner«, sagt Armando Nova. Der Agronom vom Forschungszentrum der kubanischen Wirtschaft spricht offen über die desaströse Agrarpolitik und meint, dass man an der Ei­gentumsfrage nicht vorbeikommt, wenn man die Produktivität im Agrarsektor erhöhen wolle. Die Zentralisierung der vergangenen Jahre ist aus Sicht vieler Wissenschaftler des Instituts nicht gerade nach vorn losgegangen, und die Kubaner auf der Straße haben sich längst legale, halblegale und illegale Nebenbeschäftigungen gesucht, um über die Runden zu kommen.

Mehr ökonomischen Freiraum erwarten viele Kubaner vom Übergangsstaatschef Raúl Castro. Leise und ohne das politische Brimborium seines Bruders regiert der jüngere Castro, angeblich ein Anhänger des chinesischen Wirtschaftsmodells, das Land. Für mehr Effizienz, und nicht wie sein großer Bruder für Charisma, steht er, und in Kuba gilt die Armee, der Raúl vorsteht, als die einzige perfekt funktionierende Orga­nisation des Landes. Deshalb traut nicht nur Oscar Almeda ihm zu, die Wirtschaft des Landes zu reorganisieren. Sollte das gelingen, könnte das Raúl Castro viel Rückhalt einbringen, denn die Entbehrungen sind so groß, dass auch kleinste Verbesserungen schnell registriert werden.

Desillusionierung und Auswanderung

Doch großen Illusionen gibt sich kaum jemand hin in Kuba. Auch der ehemalige Botschafter Calaforra nicht: »Vor allem die jungen Leute unter 30, die gut ausgebildet sind, ­suchen nach Perspektiven«, erklärt er. Er kennt viele Studenten, die ­neben dem Studium in einem privaten kubanischen Café oder einem ­paladar, so werden die Restaurants genannt, arbeiten, um über die ­Runden zu kommen. »Alle wissen nur zu gut, dass die Ausbildung eine Voraussetzung ist, um im Ausland Fuß zu fassen«, sagt William, der Psychologie-Student. Und den Traum von der emigración, der Auswanderung, träumen viele junge Ku­baner, wie auch die Statistiken zeigen. 250 000 Kubaner verließen die In­sel legal oder auch illegal in den vergangenen sieben Jahren – 35 000 Menschen im Jahresdurchschnitt. »Mehr als in jeder anderen Auswanderungswelle«, haben die CEEC-Wissenschaftler analysiert. Und das Gros dieser Auswanderer war jung und gut ausgebildet. »Die junge Generation hat immer weniger Lust auf den erhofften Wandel, auf Reformen zu warten, bis sie alt ist«, erklärt Iván García, der vor einigen Jahren beinahe selbst ausgewandert wäre.

Die fehlenden Perspektiven schlagen sich auch in der niedrigen Geburtenquote nieder. Die liegt nur wenig höher als die spanische oder deutsche. Ein Grund für die erstmals seit der Revolution sinkende Einwohnerzahl auf der Insel. Um 3 715 Menschen ging sie 2006 zurück. Und darüber wird nicht nur in der politischen Führung gesprochen, sondern auch in den Straßen von Havanna. »Die demographische Zeitbombe tickt auch in Kuba, hier sind nicht nur Kinderwagen Mangelware«, betont Iván García. Und wie zum Beweis deutet der Vater einer dreijährigen Tochter auf die breite Calle Galeano. »Trotzdem glaube ich an den Wandel«, sagt er lächelnd. Ein kurzer Händedruck, dann geht er zur gegenüberliegenden Bus­hal­testelle und reiht sich in die Schlange der Wartenden ein.