Tauchen und vergessen

Ein Jahr nach den Anschlägen im ägyptischen Urlaubsort Dahab ist kaum etwas über die Attentäter bekannt. In Dahab will man es auch nicht so genau wissen, sondern zur Normalität zurückkehren. von carl melchers (text und fotos)

Yahya* arbeitet in einem kleinen Gewürzladen gegenüber dem Ghazala-Supermarkt, unweit der Strandpromenade von Dahab. Er trägt einen Ver­band an seiner linken Hand. Auf die Frage, was passiert sei, antwortet er: »Ein kleines Feuer.« In Wirklichkeit war das Feuer alles andere als klein und hat Yahyas Haut an Armen, Beinen und Oberkörper in einen Narben­teppich verwandelt. Ein Jahr nach dem »Unfall« ist der Heilungsprozess noch nicht abgeschlossen. Als der Muezzin zum Abendgebet ruft, rollt Yahya seinen Teppich in Richtung Meer aus. Tagsüber kann man von dort bis Saudi-Arabien blicken.

Auch am 24. April des vorigen Jahres saß er vor seinem Laden. Abends gegen halb acht explodierten nahezu gleichzeitig drei Bomben in Dahab. Spuren sind heute kaum zu sehen, nur wer genau hinschaut, entdeckt auf der Promenade und am Haus gegenüber von Yahyas Laden merkwürdige kleine Löcher, die die Bombensplitter hinterlassen haben.

Dahab ist dort aufgeblüht, wo nichts wächst: am Golf von Akaba, wo das Rote Meer auf die felsige Sinaiwüste trifft. Der Ort liegt mitten im Nichts, auf halber Strecke zwischen dem Nobel­ferienort Sharm el-Sheikh im Süden und der an der israelischen Grenze gelegenen Stadt Taba im Norden. Dahab heißt auf Arabisch »Gold«, und der Ort wird seinem Namen gerecht. Tausende hat es hierhergezogen. Horden von Westeuropäern, Russen, Koreanern, Japanern und Kanadiern schnorcheln und tauchen in den Korallenriffen oder im »Blue Hole« außerhalb der Stadt. Andere kamen, um an den Urlaubern Geld zu verdienen. Aus Deutsch­land, Indien, Australien oder Korea, vor allem aber aus dem dicht bevölkerten Nildelta.

So wie Ussama. Er arbeitet im Strandlokal »Al Capone«. Direkt davor explodierte die zweite Bombe, die vier Angestellte tötete. »Sie waren meine Freunde«, sagt Ussama, der an diesem Tag bei seinen Eltern in Kairo war. Er denkt ungern an solche Dinge, außerdem ruft das Geschäft. Ussama ist eine professionelle Nervensäge. Er bietet allen potenziellen Gästen einen »guten Preis« und präsentiert eine Auswahl bunter Fische. Zu gut darf der Preis nicht sein, für jede erfolgreiche Werbung bekommt er zehn Prozent Kommission. Das Geld spart er für sein großes Ziel: »Eine Greencard für die USA kostet 35 000 ägyptische Pfund. Aber mir reicht das Arbeitsvisum für 10 000.« Listig fügt er hinzu: »Ich heirate dort eine Frau.« Nur der Umstand, dass er seinen Vornamen mit dem am meisten gesuchten Terroristen der Welt teilt, bereitet ihm Sorgen. »Nicht dass die mich nach Kuba verschleppen.«

Vor dem Friedensabkommen zwischen Ägypten und Israel von 1982 stand hier nur ein Beduinendorf. Seit der Sinai wieder zu Ägypten gehört, ist Dahab zu einer Kleinstadt mit 10 000 Einwohnern ge­wach­sen. Der Stromverbrauch, berichtet Amr*, der in der Stadtverwaltung arbeitet, sei von 200 Kilowatt auf 15 Megawatt gestiegen. »Hier war nichts, außer ein paar Camps«, erzählt er zufrieden über seine Brille blickend. Von der Wand seines Büros schaut das Konterfei des ägyptischen Staatspräsidenten Hosni Mubarak zustimmend auf ihn herab.

Dahab ist eine Erfolgsstory, auf die man in Ägypten stolz ist. Die Neuankömmlinge haben hier Restaurants, Hostels oder Tauch­schulen eröffnet und sich ein neues Leben aufgebaut. Aus dem früheren Beduinendorf ist der Stadtteil Assalah geworden, der aus wenig mehr besteht als einer langen Aneinanderreihung von Hostels und Restaurants am Strand. Über 60 Tauch­schulen liefern sich erbitterte Preis­­kämpfe. Immer größere Ferienressorts entstehen am Stadtrand.

Die kiffenden Hippies, die sich bis in die neunziger Jahre hier tummelten, sind verschwunden. Dabei sind die Feriensiedlungen ziemlich leer. Wegen der Bomben im vorigen Jahr? Die Meinungen gehen auseinander. Und bei der Stadtverwaltung will man von einem Rückgang des Tourismus nichts wissen.

»In den verlassenen Urlaubskomplexen sieht man das etwas anders«, meint Joanna* aus Kanada, die hier seit über 15 Jahren ein Hostel betreibt. In diesem Jahr seien deutlich weniger Besucher gekommen. »Die Israelis kommen ja seit dem Anschlag in Taba schon nicht mehr. Das war doch, Moment … 2004?« fragt sie. »Dann war 2005 der Anschlag in Sharm el-Sheikh. Das alles hat Auswirkungen.« Aber we­niger für sie selbst. Die spartanischen Zweibetthütten und der Schlafsaal, die sie vermietet, sind ausgebucht. Doch die Hotels, die in den vergangenen Jahren ihrem kleinen Anwesen immer näher gerückt sind, tun sich damit schwer, ihre Zimmer zu vermieten.

Darüber, wie viele Menschen bei den Anschlägen in Dahab starben, gibt es unterschiedliche Angaben. Es war nicht leicht, die zerfetzten Körperteile zuzuordnen. Im örtlichen Krankenhaus spricht man von 26 Toten und 150 Verletzten.

Im neuen Krankenhaus werden bereits Patienten behandelt, doch die Bauarbeiten sind noch nicht beendet. Durch die Korridore rennen brüllende Bauarbeiter, dazwischen bringt ein Krankenpfleger jemanden mit einer Kopfverletzung in ein provisorisches Behandlungszimmer.

Imad* ist 26 Jahre alt und arbeitet seit einem knappen Jahr dort. Obwohl er zur Zeit der Anschläge noch in Kairo studierte, schildert er die Ereignisse so, als sei er dabei gewesen. Seine Kollegen haben ihm immer wieder erzählt, wie alles abgelaufen ist. »Sie sind traumatisiert«, sagt Imad. Zum Gespräch weicht er auf das kleine, etwas heruntergekommene Nebengebäude aus, das alte Krankenhaus. »Schon der Transport war ein Problem: Die drei Kran­kenwagen reichten gar nicht aus.« Die Toten und Verletzten seien von den Taxifahrern auf ihre Pick-Ups geladen worden. Acht Ärzte hatten sich um 150 Verletzte zu kümmern. »Jedes Zimmer wurde zur Notaufnahme umfunktioniert.« Imad zeigt im Vorbeigehen, wo nach dem Anschlag Erste Hilfe geleistet wurde.

Ein besonderes Problem sei die Aufbewahrung der Toten gewesen. »Es gab keine entsprechende Einrichtung. Nach ein paar Tagen … « Er macht eine vielsagende Geste. »Es gab großen Druck, vor allem aus dem Ausland. Aber das war ganz gut.« Danach habe man endlich mit dem Bau des neuen Kran­ken­hauses begonnen, der seit Jahren geplant gewesen, aber immer wieder aufgeschoben wor­den sei. Die Anzahl der Ärzte hat sich inzwischen auf 25 gut verdreifacht. Besonders beeindruckt ist Imad von der Reaktion der Be­völ­kerung. »Es gab eine Demonstration. Die Ge­schäfts­leute und die Ausländer haben gezeigt, dass sie sich nicht vertreiben lassen.« Wer das organisiert hat? »Das war spontan, glaube ich.«

Über die Attentäter dagegen weiß er eben­so wenig wie die anderen in Dahab. Angeblich waren es zwei junge Männer. Selbst gebastelt sollen die Bomben gewesen sein. »Die holen sich das aus dem Internet«, weiß Khaleb*, der das Attentat nur dank eines Zufalls überlebte. »Männer zwischen 18 und 25 – das sind doch noch Kinder! Die haben nur Scheiße im Kopf. Dann werden sie verheiratet und vernünftig.«

Khaleb besitzt einen Reitclub, der aus fünf Pferden und einem Pony besteht. Er bietet den Touristen einstündige Ausritte für 40 ägyptische Pfund an, umgerechnet rund sechs Euro. Eine Viertelstunde, bevor die dritte Bombe hoch ging, keinen Meter von seinem üblichen Standort an der Brücke von Assalah entfernt, war er mit einer Gruppe ausgeritten. Ein Kollege hatte weniger Glück und starb mitsamt seinen Pferden. »Keiner kann den Moment seines Todes bestimmen«, sinniert Khaleb, als ginge es um einen Ver­kehrs­unfall.

Am hölzernen Brückengeländer sind noch Spuren sichtbar, ganz so, als habe jemand mit einem Eispickel darauf eingeschlagen. Am Straßenrand erinnert ein anderthalb Meter ­hoher Quader an die Eröffnung der Brücke durch Präsident Mubarak im Frühjahr 2003. Kein Wort vom Anschlag. Am Sockel liegen drei Marmorplaketten. Eine ist zerbrochen, die zweite mit einem Filzstift beschriftet. Die dritte erinnert an den beim Anschlag ermordeten schweizerischen Tauchlehrer Marc. Er ist das einzige Opfer, dem in Dahab namentlich gedacht wird. Unter den Toten waren nur fünf Ausländer, die übrigen waren Ägypter. Dass Ägypter ihre Landsleute getötet haben, macht die Leute besonders wütend.

Marc verdankt die Aufmerksamkeit vermutlich seinen Freunden von der Tauchschule »Safari Divers«. In deren schattigem Büro arbeitet die Kölnerin Maja. Marc und seine Freunde kannte sie nicht. »Ich arbeite erst seit etwas we­niger als einem Jahr hier. Damals hat die gesam­te Belegschaft gewechselt. Die haben das wohl nicht verpackt.«

Man sagt, die Bomben seien mit einem Gemüsewagen in den Ort geschmuggelt worden. Zwei Attentäter sollen ums Leben gekommen seien, allerdings seien die Bomben früher als geplant explodiert, keine Selbstmordattentäter also. Von even­tuellen Mitwissern oder Auftraggebern weiß hier niemand etwas. Immerhin glaubt man zu wissen, dass es sich bei den Attentätern um Beduinen handelte. Die halten die meisten Leute aus dem Nildelta, wo der Großteil der Bevölkerung des Landes lebt, für keine »richtigen« Ägypter. Aber auch der Taxifahrer Mahmoud, der sich als Beduine bezeichnet, spricht von den »Ägy­ptern«, als wolle er nicht zu ihnen gehören.

Zumindest die Ausländer, die schon lange auf dem Sinai leben, erzählen, dass es den Beduinen unter der israelischen Besatzung zwischen 1967 und 1982 besser gegangen sei. Die Krankenversorgung sei besser gewesen, und fast alle Straßen auf dem Sinai würden aus dieser Zeit stammen. Die Beduinen gelten vielen Ägyptern als Kollaborateure. Und vielleicht macht man sie darum ebenso gerne für die Anschläge verantwortlich, wie man den Mossad für die Anschläge vom 11. September 2001 verantwortlich macht. Solche Verschwörungstheorien hört man oft in Ägypten. Noch im Jahr 2002 strah­lte ein staatlich kontrollierter Fernsehsender eine Art Verfilmung der »Protokolle der Weisen von Zion« aus.

»Die Schuld den Beduinen anzulasten, ist ein plumper Versuch, um vom eigentlichen Problem abzulenken«, meint Ahmad*, ein 30jähriger Ingenieur aus Marseille. Er ist Franzose und Kommunist, seine Eltern stammen aus Algerien, weshalb er nicht wie ein Ausländer wirkt. »Mir will keiner Kamelritte verkaufen«, sagt er grinsend. »Ich würde in einem arabischen Land nie offen sagen, dass ich Atheist bin. Es gibt Leute, die dich dafür umbringen würden«, sagt er mit gesenkter Stimme. »Die Muslimbrüder sind wie die Islamische Heilsfront in Algerien. Die Bomben im letzten Jahr, das waren Islamisten. Die sagen, dass sie keine Russinnen in Bikinis wollen.« Vor allem aber ginge es ihnen darum, das Regime dort zu treffen, wo es schmerze.

Was aber ist »das eigentliche Problem«? »Der Konflikt zwischen den regierenden Nationalisten und den Muslimbrüdern«, meint Ahmad. Seit der Grün­dung der Republik befehden sich beide Gruppen. Präsident Anwar al-Sadat wurde von einem Islamisten ermordet, sein Nachfolger Mubarak regierte das Land 26 Jahre lang im Ausnahmezustand. Zum Amtsantritt ließ er Tausende Islamisten verhaften und etliche hinrichten. Im März dieses Jahres ließ er durch ein Referendum eine Verfassungs­ände­rung annehmen, die viele Bestimmun­gen des Ausnahmezustands in den Normal­zustand überführte, einige sogar verschärfte und Mubaraks Sohn Gamal den Weg als Nachfolger im Präsidentenamt ebnete. Offiziellen Angaben zufolge betrug die Wahl­beteiligung 27,1 Prozent, von nur sechs bis neun Prozent sprach die Ägyptische Organisation für Menschen­rechte.

»Mubarak spielt sich im Westen als Bollwerk gegen den Islamismus auf«, meint Ahmad. »Vor der eigenen Bevölkerung mimt er hingegen den Fuchs, der den Westen und Israel an der Nase herumführt.« Doch allzu viele scheint er damit nicht über­zeugen zu können. Trotz eines unvermindert harten Vorgehens gegen die islamistische Opposition hält deren Popularität an. »Gäbe es in Ägypten freie Wahlen, die den Namen auch verdienten, wären die Muslimbrüder die stärks­te Partei im Land«, spekuliert auch Ahmad. Mubarak regiert mit den Mitteln eines Polizeistaats, der Staatsapparat und die öffentliche Verwaltung gelten als korrupt und ineffizient. »Beamte müssen nach Dienstschluss Taxi fahren, um die Familie zu ernähren. Wenn du ein Papier brauchst, musst du Bakschisch zahlen. Von den Millionen Dollar, die die USA jährlich an Wirtschaftshilfe zahlt, sieht keiner etwas.«

Auch mit den Amerikanern hat Ahmad seine Probleme. »Natürlich nicht mit allen«, sagt er. »Aber sie haben den falschen Präsidenten gewählt.« »Ich nicht«, entgegnet Backpacker Sean* aus Berkeley. »Ich habe den anderen gewählt.« Genau genommen, ergänzt er, hätte er für den anderen gestimmt, wenn er daran gedacht hätte, zur Wahl zu gehen. Von einer Stimmung gegen Amerikaner kann er nicht berichten. Er hält sich aber auch an die Regeln. Bei der abendlichen Runde gibt er Witze über seinen Präsidenten zum Besten. Das kommt an. Insbesondere der Witz, in dem George W. Bush den Geist Abraham Lincolns fragt, was er tun solle, um seine Popularität zu verbessern. Er möge ins Thea­ter gehen, lautet die Antwort. »Lincoln wurde in einem Theater erschossen«, erläutert Sean seinem verdutzten Publikum die Pointe. »Darf man solche Witze bei euch erzählen?« fragt er in die Runde. Lieber keine, die Mubarak schlecht aussehen lassen, gibt ihm Ahmad zu verstehen.

Für den durchschnittlichen Touristen sind die gesellschaftlichen Konflikte ebenso wenig ersichtlich wie Spuren des Massakers. Vermutlich wollen die Touristen solche Din­ge auch nicht sehen, sondern sich von ihrem Alltag erholen. Den Menschen in Dahab ist das recht. Man fürchtet um den Ruf und ums Geschäft.

Allein die allgegenwärtige Polizei und die vielen Checkpoints der Armee deuten darauf, dass etwas nicht stimmt. Aber dort werden nur die Einheimischen gefilzt. »Inzwischen haben sie auch Sprengstoff­hunde«, bemerkt Henry*, ein britischer Offizier und leidenschaftlicher Taucher. Er war im Irak und hat ein berufliches Gespür für solche Dinge: »Schau dir die Jungs an! Ihre Uniformen sind verwahr­lost, ihre Stiefel haben oft nicht einmal Schnürsenkel.« Der Berufssoldat meint, dass das schlecht für die Moral der Soldaten sei. Am Checkpoint am Ortsausgang winkt ein junger Mann mit Kalaschnikow Henrys Auto durch. »Pure Kosmetik«, brummt dieser. »Wenn jemand etwas vorhat, wird man ihn damit nicht abhalten können.«

*Name von der Redaktion geändert.