Wo Pommes Horni trifft

Wie hat sich der Titel bei der Handball-WM eigentlich auf den Alltag in der Liga ausgewirkt? christian helms hat beim HSV nachgeschaut.

Gerade einmal zwölf Wochen ist es her, dass ein Grüppchen erwachsener Männer mit fal­schen Schnauzbärten, goldenen Pappkronen und reichlich Sekt durch die Köln-Arena taumelte. Deutschlands Handballer waren durch einen 29:24-Sieg über Polen zum dritten Mal Welt­meister geworden, und Bundespräsident Horst Köhler lächelte während der anschließenden Zeremonie glückselig wie schon lange nicht mehr. Ein Gemütszustand, den er an diesem Sonntagnachmittag mit mehr als 20 Millionen Deutschen teilte, die vor den heimischen Bildschirmen der DHB-Auswahl die Daumen gedrückt hatten.

»Das waren Dimensionen im Fernsehbereich, mit denen keiner rechnen konnte«, resümierte der Nationalspieler Torsten Jansen wenige Tage nach dem großen Triumph. »Auf einmal war jeder Handball-Fan und kramte die Deutschland-Flagge aus dem Sommer noch mal hervor.« Diese neu entfachte Begeisterung, da waren sich alle Beteiligten sehr rasch einig, müsse man nun unbedingt nutzen, um den Handballsport dauerhaft populärer zu machen. Aber eine Idee, wie der WM-Titel den Vereinen neue Mitglieder und Zuschauer bringen könnte, hatte niemand so recht.

Und so ist längst wieder der Alltag eingekehrt. »Das ist nun mal ein sehr schnelllebiges Geschäft. Und wenn man ehrlich ist, hat diese absolute Euphorie rund um den Handball inzwischen auch schon wieder etwas nachgelassen«, sagt Jansen im Gespräch mit der Jungle World eine Dreiviertelstunde, nachdem sein Verein, der HSV Handball, im Bundesliga-Spitzenspiel gegen den SC Magdeburg gewonnen hat.

Die »absolute Euphorie«, von der er spricht, bezieht sich natürlich nicht auf die Tage nach dem Endspiel von Köln, als sich die Helden aus dem »Wintermärchen« zünftig betrinken, von allerlei Bal­konen winken und schließlich durch diverse Talkshows tingeln durften. Er denkt vielmehr an die ersten Ligaspiele in fremden Hallen: »Teilweise haben dort sogar die gegnerischen Zuschauer applaudiert, wenn man ein Tor erzielt hat. Das war schon seltsam.«

Dann formuliert er diesen einen unscheinbaren Satz, der aber wohl am besten die enorme öffentliche Anerkennung verdeutlicht, die den deutschen Weltmeistern unmittelbar nach dem Turnier zuteil wurde. »Es ist eine schöne Erfahrung, wenn man in Kiel einläuft – und nicht ausgepfiffen wird.« Zum jetzigen Saisonzeitpunkt nicht mehr vorstellbar, denn die Hamburger haben sich mittlerweile zum ärgsten Verfolger des THW entwickelt und scheinen als einzige Mannschaft einen neuerlichen Triumph des Kieler Serienmeisters noch abwenden zu können.

Ein wenig Beifall, dazu etwas Wertschätzung – sollen sie das also sein, die Folgen des viel beschwo­renen WM-Aufwindes, der doch eine ganze Sport­art beflügeln sollte? Stefan Schröder, Jansens Team­kollege nicht nur im Nationalteam, sondern auch in Hamburg, widerspricht. Er will ein anhaltendes Stimmungshoch bei den Zuschauern ausgemacht haben. »Das sind jetzt bestimmt 20 bis 30 Prozent mehr auf den Rängen.« Ähnlich sieht es Magdeburgs Allrounder Christoph Theu­erkauf, der sich nicht wundert, dass an einem Mitt­woch­abend mehr als 11 000 Zuschauer in die moderne Mehrzweckhalle im Westen der Hansestadt fanden. »Handball boomt. Durch die WM sind etliche Menschen neugierig geworden auf unseren Sport. Sie wollen sich die Geschichte halt einmal anschauen.«

Was bekommen sie geboten? Vor dem Beginn der Partie sprintet ein plüschiges Zwei-Meter-Insekt um das Spielfeld und animiert die Menge. Maskottchen »Horni« lächelt einigermaßen debil, trägt dabei aber zumindest eine Hose – und wer es dennoch nicht mag, erhebt sich in diesem Moment und erwirbt einen weiteren Hot Dog. Der Handball hat seinen einstigen Turnhallencharakter abgelegt und ist statt­dessen zum mit Musik untermalten »Event« avanciert. Videowürfel, Scheinwerfer, Nebel­maschine und ein ins Mikrofon quäkender Hallensprecher gehören längst zum Standard. Auch am Ende des Abends wird es in dieser Arena nicht nach Männerschweiß duften, nicht einmal nach Popcorn oder Bier, denn die Klimaanlage arbeitet ebenso leise wie zuverlässig.

Mancher Traditionalist heult an dieser Stelle ganz sicher auf, muss sich aber die Frage nach der Alternative gefallen lassen. Nostalgische Erinnerungen an unkomfortable Bänke irgendwo in der Provinz sind dabei alles andere als förderlich, der Wechsel in die großen Städte ist nur konsequent, will man die Sportart für ein größeres Publikum, für Sponsoren und das Fernsehen attraktiv machen. Dazu kommt, dass es eben auch Besucher gibt, die nicht bemerken, wann eine Mannschaft in der Deckung umstellt oder welcher Spieler in einem Angriff die entscheidende Lücke schafft, und die sich einfach nur an der Dynamik des Geschehens berauschen oder an den spektakulären Würfen. Sie betrachten den großen Rahmen ganz selbstverständlich als dekorativen Teil des Werks. Trotz der bunten Show bleibt der Sport dabei angenehmerweise im Mittelpunkt. Mit anderen Worten: Sobald das Spiel läuft, hat »Horni« Pause.

Über das sportliche Niveau der Handball-Bundesliga lässt sich ohnehin kaum streiten. Mit Kiel, Flensburg, Hamburg und Magdeburg stehen gleich vier deutsche Vereine in den drei Endspielen des Europacups, selbst die spanischen Eliteclubs sind derzeit neidisch auf die deut­schen Handballer. Erfolge, die mit der WM allerdings wenig zu tun haben und eher Folge des vergleichsweise soliden Wirtschaftens der großen Vereine sind.

Dennoch graut es Bundestrainer Heiner Brand vor der Zukunft: »Es kann nicht angehen, dass Kiel oder Flensburg im Europapokal spielen und kein deutscher Spieler auf der Platte steht. Die dürfen meist erst ran, wenn die Spiele entschieden sind. Das entspricht nicht meiner Vorstellung vom deutschen Handball.«

Den Mann mit dem Schnauzbart treibt in erster Linie die Sorge um die Einsatzzeiten seiner Auswahlspieler, um die Gelegenheit deutscher Nachwuchskräfte, sich auf höchstem Niveau zu beweisen und stetig zu verbessern. Seiner Forderung nach einer Quote für einheimische Spieler – in Spanien beispielsweise längst üblich – wurde jüngst von der Ligaversammlung eine klare Absage erteilt. Zwischen »So schlecht können die deutschen Spieler nicht sein, wir sind schließlich Weltmeister geworden« (Brand) und »So schlecht kann die bisherige Regelung nicht sein, wir sind schließlich Weltmeister geworden« (Vereine) kann man sich nicht entscheiden und beraubt sich damit unter Umständen einer großen Chance.

Die Bundesliga muss halten, was die Weltmeis­terschaft versprochen hat. Handball funktioniert zweifellos auch ohne Nationalflaggen, nicht aber ohne die etablierten Identifikationsfiguren. Um das zu verstehen, reicht der Anblick der gewaltigen Menschentraube, die sich nach der Schluss­sirene in der Color-Line-Arena um Pascal Hens bildet. »Pommes«, der Zwei-Meter-Schlaks mit dem gelben Irokesenschopf, kommt noch besser an als »Horni«. Insbesondere die ganz jungen Auto­grammjäger sind weniger daran interessiert, ob die besseren Dänen, Franzosen und Kroaten nun für Flensburg oder Kiel spielen, sie wollen schlicht und ergreifend ihre WM-Helden sehen. Und vielen Erwachsenen, die in diesen Tagen erstmals ein Handballspiel besuchen, geht es nicht anders.

Als 1985 ein rothaariger Junge aus Leimen in Wimbledon triumphierte, stürmten die Deutschen anschließend in die Tennisclubs. Als 1997, damals konnten nur Dopingexperten etwas mit der Abkürzung »Epo« anfangen, ein sommersprossiger Junge aus Rostock auf seinem Fahrrad schneller als all seine Konkurrenten die Pyrenäen erklomm und im Gelben Trikot die Champs Élysées hinabrollte, stiegen die Verkaufszahlen für Rennräder. Wer weiß, vielleicht wird der WM-Sieg von 2007 irgendwann als ähnlich epochales Ereignis für den Handballsport angesehen werden. »Das muss man jetzt abwarten«, sagt Torsten Jansen, zuckt mit den Schultern und verschwindet kurz darauf hinter der Kabinentür.