Brüder, ins Dunkel!

Trotz ihrer schlechten Lage will die SPD nicht von ihrer unsozialen Reformpolitik abrücken. Diese soll sogar zum Programm erhoben werden. von stefan wirner

Auch Meinungsforscher müssen sich zuweilen überraschen lassen. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, gestand Manfred Güllner, der Leiter von Forsa, kürzlich ein. Eine Umfrage seines Instituts hatte gezeigt, dass Angela Merkel unter den Wählern der SPD mehr Zustimmung erhält als Kurt Beck, der Vorsitzende der Sozialdemokraten. »Beck hat kein Charisma, und die Leute wissen nicht, wofür er steht«, interpretierte Güllner die Ergebnisse.

Das schlechte Image hat Beck mit seiner Partei gemein. In den meisten Umfragen erreichte sie zuletzt nur noch rund 27 Prozent, außerdem verliert sie seit Jahren an Mitgliedern. Seit dem Amtsantritt der ersten Regierung von Gerhard Schröder verließen 200 000 Menschen die SPD, 570 000 Mitglieder zählt sie heute noch. »Wegen ihrer Schwäche kann sich die SPD im Augenblick keinen Bruch der Großen Koalition leisten, bei anschließenden Wahlen würde sie zerrieben werden«, sagte Güllner der Saarbrücker Zeitung.

Diese Lage aber lässt die jüngsten Angriffe Becks auf die CDU/CSU etwas plump erscheinen. Wegen des Streits um die Erbschaftssteuer drohte er mit dem »Casus belli«, dem Kriegs­fall, also einem Ende der Koalition. Aber was käme danach? Mit wem wollte die SPD regieren: mit den Grünen, die sich in Richtung CDU orientieren, und der Linkspartei samt dem verhassten Oskar Lafontaine? Oder will die Partei in die Opposition? So richtig ernst zu nehmen sind die Drohungen wahrscheinlich nicht.

Becks Frühjahrsoffensive kann auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Beschlüsse der Koalition große finanzielle Verluste für die angestammte Klientel der SPD mit sich bringen, sei es die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Gesundheitsreform oder die Rente mit 67. Die Unternehmensteuerreform hingegen entlastet die Unternehmer nach Schätzung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung um rund 100 Milliarden Euro.

In solchen Zeiten fängt wie auf Knopfdruck die so genannte Linke in der SPD das Nörgeln an. In der vorigen Woche war es nicht wie für gewöhnlich Ottmar Schreiner, sondern Rudolf Dreßler, der frühere Fachmann für Sozialpolitik der SPD, der sich besorgt zeigte. »Zu glauben, dass die augenblickliche Politik neuen Zulauf bringt, ist – höflich formuliert – lächerlich«, sagte er der Nachrichtenagentur DDP. Er kritisierte vor allem die Rente mit 67, die »nichts anderes als eine Rentenkürzung« sei.

Aber die folgenlose Meckerei der Parteilinken beeindruckt auch kaum jemanden mehr. Die Anhänger des früheren Bundeskanzlers Schröder, die in der SPD das Sagen haben, kümmert solche Kritik jedenfalls herzlich wenig. Unverdrossen halten Finanzminister Peer Steinbrück und Arbeitsminister Franz Müntefering an ihrer Politik fest, egal wie tief die SPD im Ansehen der Wähler sinkt. Sie wollen die von Schröder seinerzeit verordnete Reformpolitik sogar im neuen Parteiprogramm, das im Oktober auf einem Parteitag verabschiedet werden soll, als Leitbild festschreiben.

Anfang des Jahres stellte der Parteivorstand den »Bremer Entwurf« für das Programm vor. Er erhebt die sozialdemokratische Realpolitik zum Nonplusultra, und zwar in einer Sprache, die das Unsoziale daran vernebeln soll. So ist von der »Beschäftigungsfähigkeit« der Menschen die Rede, die verbessert werden müsse. Gemeint ist wohl, dass sie jederzeit und überall verwertbar sein sollen. »Wirtschaftskultur« ist der beschönigende Begriff für die Freiheit der Unternehmen, ausgiebig und ungestört Profit zu machen. Und der »vorsorgende Sozialstaat« soll offenbar dafür sorgen, dass die Menschen gar nicht erst in die Lage kommen, auf der faulen Haut zu liegen und Geld vom Staat einzustreichen.

Eingeleitet wird das Pamphlet mit einem Lobgesang auf die Globalisierung. Sie schaffe »Wachstum und Zukunftsperspektiven für die Menschen in reichen und armen Ländern«. Der wachsende Welthandel bringe »unzäh­ligen Menschen lang ersehnte Arbeit in neu entstandenen Fabriken und Labors«. Aber nicht alles ist rosig, das wissen selbst die Sozialdemokraten in ihrem Sweatshop an der Wilhelmstraße in Berlin, im Willy-Brandt-Haus. »Der globalisierte Kapitalismus darf jedoch nicht sich selbst überlassen werden«, heißt es. »Anonyme Fondsmanager kaufen und verkaufen Firmen wie Händler ihre Ware auf dem Großmarkt.« Es wird auf eine Art Kritik geübt, dass man sich an den Antikapitalismus der dreißiger Jahre erinnert fühlt.

Gegen die Finanzmärkte stellen die Sozialdemokraten die »neue Wertschöpfung und gute Arbeit«. Jede Beschäftigung, »auch einfachere Dienstleistungstätigkeit, verdient Respekt und Anerkennung«, meinen die Verfasser des Entwurfs. Jede und jeder soll was zu tun finden im Niedrig­lohnsektor, darauf dürfte die angestrebte »Politik für Vollbeschäftigung« hinauslaufen. Überraschend ist in dieser Passage nur, dass ganz am Ende sogar noch das Wort »Arbeitszeitverkürzung« fällt.

Für diejenigen, die nicht mal im Niedrig­lohnsektor ihre Ausbeuter finden, haben sich die Sozialdemokraten den »vorsorgenden Sozialstaat« ausgedacht: »Er befähigt die Menschen, ihr Leben selbstbestimmt zu meistern, indem er aktivierende, präventive und investive Ziele in den Mittelpunkt stellt.« Denn »aktiviert« müssen sie werden, die trägen, unrasierten Arbeitslosen. Und auch für die Lohnabhängigen ist mehr Bewegung vorgesehen, denn die »Arbeitszeitpolitik der Zukunft muss den berechtigten Interessen der Unternehmen an der Stärkung von Innovation und Wettbewerbsfähigkeit gerecht werden«. »Zeitautonomie« und »Arbeitszeitkonten« heißen die Zauberworte, mit denen den Wählern der Dauerstress im Arbeitsleben schmackhaft gemacht werden soll.

Die Parteilinke übt zaghafte Kritik an diesem Sammelsurium von verklausulierten Drohungen an Lohnabhängige und Arbeitslose und umfangreichen Hilfsangeboten an die Wirtschaft. Andrea Nahles, die im Präsidium der Partei sitzt, stellte in der vorigen Woche den Band »Linke Programmbausteine« vor, mit dem die Diskussion über das Parteiprogramm belebt werden soll. Zu den Autorinnen und Autoren gehören u.a. die Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul und die hessische Landesvorsitzende Andrea Ypsilanti.

Aber die Unterschiede zum »Bremer Entwurf« sind nur für disziplinierte Leser sozialdemokratischer Textwüsten erkennbar. In der Einleitung heißt es zwar, es brauche »nach wie vor kollektive solidarische Sicherungssysteme«, aber auch die SPD-Linken wollen »die Individuen vor allem dazu befähigen, für sich selbst zu sorgen«. Beklagt werden die »Entmachtung der Nationalstaaten«, der »Macht­zuwachs der Marktkräfte«, »bestimmte Anlageformen an den Finanzmärkten«, gleichzeitig aber wünscht man sich »eine wachstumsorientierte Politik, die daran ansetzt, durch Investitionen Arbeitsplätze zu schaffen«. Kurz gesagt: Ein guter Kapitalismus in einem netten Nationalstaat muss her!

Und wenn nichts mehr geht, bleibt die symbolische Politik. So wird moniert, dass im »Bremer Entwurf« nur ein einziges Mal vom »demokratischen Sozialismus« die Rede sei und stattdessen die Formel »soziale Demokratie« verwendet werde. Das aber kann man dem Parteivorstand nun wirklich nicht vorwerfen. Die Politik der »Agenda 2010« auch noch als »demokratischen Sozialismus« zu bezeichnen, wäre der blanke Hohn.

Am Ende ist es ohne Belang, welche Reklameslogans die SPD verwendet. Solange sie ihre eigene Klientel schröpft, um den Unternehmern Milliardenbeträge zu überlassen, dürfte die sozialdemokratische Reise ins Dunkel weitergehen.