Mit den Mördern leben

Die Versöhnungspolitik nach dem Genozid in Ruanda wird von vielen Überlebenden kritisiert. Bei den Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag attackierte Präsident Paul Kagame die Rolle Frankreichs. von david schwarz, kigali

Eine Mischung aus Kalk- und Verwesungs­geruch hängt in den Klassenzimmern der ehemaligen Berufsschule in Murambi im Süden Ruandas. Nach dem Ende der zentralen Gedenkveranstaltung zum 13. Jahrestag des Genozids drängen sich mehrere tausend Menschen durch die Anlage und betrachten die in Kalk konservierten Leichen in den Klassenzimmern. Dutzende brechen zusammen, Traumaberater sind pausenlos im Einsatz.

Im April 1994 wurden in Murambi innerhalb von vier Tagen etwa 40 000 Menschen von Milizionären, Militärs und Anwohnern der umliegenden Hügel abgeschlachtet. In wenigen Wochen wurden im ganzen Land etwa 800 000 Menschen ermordet, bevor es den Guerilleros der von Paul Kagame geführten RPF (Rwandan Patriotic Front) gelang, die génocidaires zurückzudrängen.

An der Gedenkveranstaltung in Murambi nimmt auch Präsident Paul Kagame teil, kurz vor dem Besuch der Klassen­räume beendet er seine Rede. Wie seine Vor­redner aus den Reihen der Regierung spart der Präsident innenpolitische Aspekte weitgehend aus und konzentriert sich stattdessen auf die Rolle Frankreichs während des Völkermordes und die gegenwärtigen Ermittlungen gegen einige seiner engsten Vertrauten.

»Hätte ich damals die Mittel gehabt, so hätte auch Frankreich meine Wut zu spüren bekommen«, sagt der Präsident. Mehrfach bringt er mit derartigen martialischen Phrasen Teile des Publikums zum Lachen. Die Mienen der Botschafter sind jedoch erstarrt. Am zehnten Jahrestag hatte der Repräsentant Frankreichs wegen solcher Äußerungen die Veranstaltung verlassen. In diesem Jahr konnte er gar nicht erst kommen. Er war im November 2006 des Landes verwiesen worden, wenige Tage nachdem der französische Richter Jean-Louis Bruguière internationale Haftbefehle gegen neun enge Mitarbeiter Kagames aus den Reihen der RPF erlassen hatte. Die ruandische Regierung schloss daraufhin alle offiziellen französischen Einrichtungen im ganzen Land, antifranzösische Demonstrationen wurden organisiert, und die regierungstreuen Zeitungen berichten seitdem fast täglich über die Rolle Frankreichs im Genozid. Kagame selbst genießt als Staats­chef Immunität, empfindet aber die Anschuldigung nach eigener Aussage als persönlichen Affront.

Es geht um die Frage, wer am 6. April 1994 die Präsidentenmaschine beim Landeanflug auf Kigali abschoss. Neben den Präsidenten Ruandas und Burundis waren auch mehrere französische Staatsbürger an Bord. Unmittelbar nach dem Abschuss begannen der akribisch geplante Völkermord an den Tutsi und die Ermordung regierungskritischer Hutu. Kagame macht Hutu aus der damaligen, von Frankreich unterstützten Regierung verantwortlich und schließt auch eine französische Beteiligung an dem Attentat nicht aus. Bruguière dagegen behauptet, die Führung der RPF habe den Abschuss angeordnet.

Die Reaktion auf die Ermittlungen Bruguières halten viele Ruander für überzogen, denn auch zahlreiche entwicklungspolitische Organisationen wie das französische Team von »Ärzte ohne Grenzen« sind abgezogen worden. Die harte Linie Kagames ist vermutlich aber eine strategische Entscheidung. Ruanda hat sich bereits zuvor weitgehend vom französischen Einfluss gelöst und sich außenpolitisch an den USA und Großbritannien sowie den ostafrikanischen Nachbarstaaten orientiert.

Auch innenpolitisch ist der Abbruch der Beziehungen zu Frankreich von potenziellem Nutzen für die Regierung. Dass Frankreich die Hutu-Regierung, aus deren Reihen die génocidaires hervorgingen, unterstützt und die Flucht der Massenmörder durch eine Militärintervention gedeckt hat, ist im Land allgemein bekannt. Es bedarf keiner besonderen Anstrengung, antifranzösische Stimmungen zu wecken, und ein solches externes Feindbild ist angesichts der zahlreichen Konflikte in der ruandischen Gesellschaft recht nützlich.

Obwohl die Kategorien Hutu und Tutsi nach 1994 offiziell abgeschafft wurden, existieren sie im Denken der meisten Ruander nach wie vor. Ruanda ist das am dichtetsen besiedelte Land Afrikas, das Bevölkerungswachstum liegt bei 2,4 Prozent, 90 Prozent der Bevölkerung leben von der Subsistenzwirtschaft, und das fruchtbare Land ist bereits zum Großteil überwirtschaftet. Die Kluft zwischen den 60 Prozent der Bevölkerung, die unterhalb der Armutsgrenze leben, und der Mittel- und Oberschicht in der Hauptstadt Kigali wächst stetig. Hinter vorgehaltener Hand wird die soziale Ungleichheit von vielen als das Werk einer »Tutsi-Elite« interpretiert. Auch gegenüber Ausländern wird nicht selten der Wunsch geäußert, den Genozid zu vollenden. »Wenn wir die Möglichkeit bekommen, werden wir die Arbeit zu Ende führen«, sagte beispielweise ein Wachmann einer britischen Entwicklungshelferin. »Arbeit« bedeutete 1994 das Zerhacken von Tutsi und regimekritischen Hutu mit Macheten.

Fast jeden Monat kommt es zu Morden an Überlebenden, die gegen damalige Täter vor Gericht aussagen. Derzeit ist die Lage dank eines effizienten Sicherheitsapparates relativ ruhig. Unter den Überlebenden wächst jedoch die Unzufriedenheit mit der Regierung, die sich zum Großteil aus Tutsi rekrutiert, die 1994 im Exil lebten.

In der zweiten Aprilwoche finden im ganzen Land Trauermessen und Gedenkveranstaltungen statt. In Radio und Fernsehen werden fast nur Beiträge zum Genozid gesendet, Geschäfte und Betriebe schließen nachmittags, sportliche Aktivitäten finden nicht statt. An den größeren Veranstaltungen nehmen mehrere tausend Menschen teil, meist Überlebende und deren Angehörige. Die Reden der Regierungsvertreter wirken ritualisiert, doch Organisationen der Überlebenden nutzen die Trauerfeiern als eine seltene Gelegenheit für Kritik an der staatlichen Politik. So verurteilt ein Redner der NGO Ibuka den Präsidentenerlass vom März, durch den erneut mehrere zehntausend verurteilte Mörder in die Freiheit entlassen wurden. Die Regierung betrachtet derartige Maßnahmen als Schritte zur Versöhnung, die Überlebenden in den Dörfern müssen wieder Tür an Tür mit den damaligen Tätern leben.

Jael Dusabe, eine 31jährige Mitarbeiterin einer internationalen Organisation und Überlebende, erklärt bei der Fahrt zu einer Trauerfeier im Süden des Landes: »Hier wohnten wir. Die Leute links von der Hauptstraße hatten zu töten, die Leute rechts der Straße hatten zu sterben.« Derzeit leben zwar nur noch wenige der Davongekommenen in dem Dorf, dafür aber die meisten der damaligen Täter.

Nach einer einstündigen Fahrt über Schlaglöcher und Pisten kommt die Gedenkstätte in Sicht. Hier finden sich keine Regierungsvertreter ein, stattdessen drängen sich mehrere hundert Menschen in der brütenden Hitze unter einer provisorischen Plane. Überlebende berichten von ihren Erinnerungen, fast alle Anwesenden weinen, immer wieder brechen Menschen zusammen, schreien, manche schlagen um sich. Traumaberater und Sanitäter tragen sie nach draußen und versuchen zu helfen. Von Frankreich und der »internationalen Gemeinschaft« ist hier nicht die Rede. Es geht um das Verarbeiten der Erinnerungen und das Zusammenleben in den Dörfern. »Versöhnung und Gerechtigkeit verlangt die Regierung, aber mir würde schon eine langfristige friedliche Ko­existenz reichen«, sagt Jael Dusabe.