Arbeit, Familie, Vaterland

Kaum hatte Nicolas Sarkozy die Präsidentschaftswahl gewonnen, kam es zu Straßenschlachten. Doch die Rekord-Wahlbeteiligung zeigt, dass er über eine breite gesellschaftliche Basis verfügt. von bernhard schmid, paris

Stau am Pariser Flughafen: Wo die einen Frankreich dringend verlassen möchten, zieht es die anderen ebenso dringend ins Land. So jedenfalls schilderte die satirische Polit-Puppensendung »Les Guignols de l’info« am Sonntag kurz vor Schließung der letzten Wahllokale die Situation. Der französisch-kamerunische Sänger und frühere Tennisspieler Yannick Noah etwa wird von den »Guignols« auf seinem Handy am Flughafen erreicht: Er wartet in der Schlange vor dem Abfertigungsschalter auf die Wahlergebnisse. Im wirklichen Leben hatte Noah angekündigt, er werde Frankreich verlassen, falls Nicolas Sarkozy die Präsidentschaftswahl gewinnen sollte. In der anderen Schlange wartet der alternde Rockstar und Schnulzensänger Johnny Halliday hingegen auf seine Einreise. Halliday, der aus steuerlichen Gründen seinen Wohnsitz in die Schweiz verlegt hat, zählt zu den prominentesten Unterstützern Sarkozys. Übrigens zusammen mit anderen Prominenten aus dem Showbusiness, die Probleme mit dem Fiskus haben und sich von Sarkozys Steuersenkungsprogramm begeistern ließen.

Wenige Stunden nach Ausstrahlung der Sendung animierte der echte Johnny Halliday ein Rockkonzert auf der Place de la Concorde, im Zentrum von Paris, wo Tausende Unterstützer Sarkozys zusammenströmten. Zwei Kilometer weiter, an der Bastille, fand eine linke Spon­tan­demonstration mit rund 5 000 Teilnehmern statt. Dabei kam es zu Straßenschlachten, Autos und Motorräder wurden in Brand gesteckt, es flogen Steine und Flaschen. Die Polizei löste die Spontandemo gegen 1.30 Uhr früh unter Einsatz von Tränengas auf. Auch in Toulouse, Marseille und Lyon kam es zu Protesten.

In den Banlieues, wo die meisten Spannungen erwartet wurden, war es dagegen ruhig. Aus dem 93er Bezirk, in der nördlichen Pariser Banlieue, berichtete Libération von einer »angespannten Atmosphäre«, Riots blieben dennoch aus.

Der Fußballspieler Lilian Thuram, ein gebürtiger Franzose dessen Eltern aus Guadeloupe stammen, ist nur einer der zahlreichen farbigen Prominenten, die Sarkozy wiederholt beschuldigt haben, Rassismus in der Gesellschaft zu begünstigen. Bei einer privaten Unterredung zwischen den beiden habe Sarkozy, Thuram zufolge, erklärt, »die Schwarzen und die Araber« seien, »wie wir doch beide wissen, für die Probleme in unseren Banlieues verantwortlich«.

Mit diesen Worten hätte sich Nicolas Sarkozy sicherlich nicht in die Öffentlichkeit gewagt, denn er wollte gewiss nicht riskieren, eine Bevölkerungsgruppe geschlossen gegen sich aufzubringen. Stattdessen warb er gezielt um Unterstützung auch unter den Minderheiten, indem er jeweils eigene Partikularinteressen anzusprechen versuchte. So hantierte er zeitweise mit dem Kommunitarismus in Teilen der muslimischen Bevölkerungsgruppe und wertete gerade die konservativ-reaktionären Strömungen innerhalb dieser auf. Seine Rechnung ging allerdings nicht auf, denn stärker als kulturelle Faktoren dürfte für das Wahlverhalten von Einwanderern, die meist Arbeiter oder Angestellte sind, ihre soziale Situation eine Rolle gespielt haben. Nur ein Prozent der französischen Muslime wählte Sarkozy.

Im ersten Wahlgang war insgesamt noch eine deutliche soziale Polarisierung bei den Wahlergebnissen festzustellen: Sarkozy lag bei Haushalten mit einem Monatseinkommen unter 1 500 Euro deutlich unterhalb seines Durchschnittsergebnisses. Hingegen wuchs sein Stimmenanteil in den oberen Einkommensgruppen explosionsartig an, und ab 4 500 Euro Monatseinkommen aufwärts betrug er schon im ersten Wahlgang 55 Prozent. Hingegen waren die Wahlergebnisse für Ségolène Royal, aber auch für Olivier Besancenot im linken und Jean-Marie Le Pen im rechten Bereich jeweils in den unteren Klassen stärker als in den oberen Segmenten.

Im zweiten Wahlgang schaffte es Sarkozy, auch einen Teil der Unterklassen für sich zu gewinnen. Dabei kamen ihm unter anderem die Stimmen der Wähler von Le Pen zugute, die oft aus den prekarisierten Unterklassen kommen. In der zweiten Runde stimmten zwei Drittel der Wähler von Le Pen für Sarkozy. Hingegen verteilten sich die Stimmen des Christdemokraten François Bayrou aus dem ersten Wahlgang gleichmäßig, zu jeweils 40 Prozent, auf Sarkozy und Royal, der Rest wählte die Enthaltung.

Die harten Attacken Sarkozys gegen die Ideen des Mai 1968, die er in den vergangenen Woche wiederholt zu »liquidieren« versprach, dürften stramm rechte Wähler begeistert haben. In dramatischen Worten beschwor der konservative Kandidat mehrfach den angeblich schädlichen Einfluss des »Kulturbruchs« von 1968: Seitdem habe man das Leistungsprinzip verteufelt, und die Arbeit sei »entwertet« worden. Die sozialdemokratische Regierung der Jahre 1997 bis 2002, so betonte er immer wieder, habe »eine Sinnkrise der Arbeit« ausgelöst, indem sie die Wochenarbeitszeit auf durchschnittlich 35 Stunden verkürzt habe. »Im Namen der individuellen Selbstbestimmung« spricht sich der künftige Staatspräsident für eine Verlängerung der Wochen- und der Lebensarbeitszeit »auf freiwilliger Basis« aus. Seine Zauberformel lautet »Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen«. Die Geringverdiener sollen, so Sarkozy, am Monatsende endlich auch auf einen grünen Zweig kommen dürfen. Aber nicht durch Lohnerhöhungen etwa beim Stundenlohn, sondern durch »früheres Aufstehen«, mehr Überstunden, Wochenendarbeit.

Offenkundig fanden viele Wähler dieses Angebot auch attraktiv. Wie bereits in der ersten Runde war die Wahlbeteiligung mit insgesamt 85 Prozent sehr hoch. Dies ist ein Rekord, seit der ersten Direktwahl des französischen Staatsoberhaupts 1965 war eine solche Quote nicht mehr erreicht worden. Das deutet darauf hin, dass dem Ausgang dieser Wahlen eine echte gesellschaftliche Basis zugrunde liegt.

Vor allem in kleinen und mittleren Betrieben der Privatindustrie und des privaten Dienstleistungsgewerbes, wo es faktisch kaum noch Gewerkschaften gibt, konnte Sarkozys Rechnung aufgehen. Kollektive Gegenwehr für bessere Löhne oder geringere Arbeitshetze ist hier nahezu undenkbar geworden, das dramatisch verschlechterte Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital hat man hier bereits verinnerlicht. Nun erhoffen sich viele Beschäftigte einen Ausweg durch »freiwillige Mehr­arbeit, um mehr zu verdienen«. Das dürfte in der Praxis schon bald Probleme geben, denn dort werden Überstunden durch den Betrieb angeordnet und nicht »auf freiwilliger Basis« entschieden. Probleme bei der Realisierung der von Nicolas Sarkozy angekündigten »Reformen« dürften also alsbald auftauchen. Vorsorglich hat er aber schon drastische Einschränkungen am Streikrecht angekündigt. Der Präsident baut vor.