Belagern und boykottieren

Die russische Regierung kritisiert den Abriss eines antifaschistischen Denkmals in Estland und nutzt den Konflikt, um eine nationalistische Stimmung zu erzeugen. von ute weinmann

Im Zentrum der estnischen Hauptstadt Tallinn war der Bronzesoldat nicht mehr erwünscht. Errichtet im Jahr 1947, wurde das antifaschistische Denkmal in der Nacht zum 28. April trotz heftiger Proteste aus der russischsprachigen Bevölkerung zerlegt und auf einem Militärfriedhof am Stadtrand wieder errichtet. »Es hat viele Leute gekränkt«, begründete der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves die Aktion, die wiederum viele russischsprachige Esten empörte. Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei kam ein 19jähriger ums Leben, zahlreiche Läden in der Innenstadt wurden geplündert und etwa 600 Menschen festgenommen.

Estland geht gegen Russland in die Offensive, und die Regierung in Tallinn hat die Europäische Union und die USA auf ihrer Seite. Die russisch-estnischen Beziehungen sind schon seit langem angespannt. In den vergangenen Monaten wurde in Estland immer wieder über die Demontage sowjetischer Kriegsdenkmäler debattiert. Die russische Regierung kritisierte diese Pläne, die erneute Zuspitzung könnte nun auch die Beziehungen Russlands zur EU belasten.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow kündigte nach den Zusammenstößen in Tallinn ernsthafte Folgen für die Beziehungen zu Estland an und erklärte: »Mir ist die Politik von Ländern unverständlich, die versuchen, die Schuld für historische Ereignisse irgendjemandem zuzuschieben, und noch unverständlicher ist es mir, dass versucht wird, den Kommunismus mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen.« Damit spielt er auf die in Estland nur allzu offensichtlichen Tendenzen an, die sowjetische Besatzung als das eigentliche Übel zu begreifen, während das Vorgehen estnischer Kollaborateure während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg als »Befreiungskampf« verharmlost wird.

Lawrows Kritik ist in der Sache berechtigt, doch die russische Regierung nutzte den Konflikt, um einen hysterischen russischen Nationalismus zu fördern. Regierungstreue Jugendorganisationen wie Naschi (»die Unsrigen«) hatten weitgehend freie Hand bei ihren Protesten. Tagelang belagerten sie die estnische Botschaft in Moskau, bis die Botschafterin Marina Kaljurand das Land verließ. Die Angehörigen der estnischen Diplomaten waren bereits zuvor evakuiert worden. Die »faschistische« Botschaft im Stadtzentrum solle komplett geschlossen werden, lautete die Forderung.

Die russische Eisenbahn stellte unterdessen die Verladung von Öl für den Export nach Estland ein. Juri Luschkow, der Bürgermeister von Moskau, und andere Politiker forderten die Beendigung sämtlicher Wirtschaftsbeziehungen mit dem baltischen Nachbarstaat, aus den Regalen einiger Supermarktketten verschwanden estnische Waren. Ein Warenboykott gehört in Russland bei Konflikten mit abtrünnigen ehemaligen Sowjetrepubliken zum patriotischen Standardprogramm. Die materiellen Verluste bleiben gering, georgischer Wein oder estnische Milch sind entbehrlich, der propagandistische Effekt solcher Boykottaktionen dagegen ist groß.

Sich gemeinsam unverstanden und von Feinden umzingelt zu fühlen – der so verstandene neue Nationalismus ist recht populär. Ihn zu propagieren, dürfte der russischen Regierung Sympathien in der Bevölkerung eintragen, selbst wenn sich die EU für die vom estnischen Außenminister Urmas Paet geforderten Sanktionen entscheiden sollte.

Weniger wachsam als gegenüber ehemaligen Sowjetrepubliken ist die Regierung im übrigen im eigenen Land. In einem Moskauer Vorort und im Peters­burger Umland werden derzeit sowjetische Kriegsdenkmäler demontiert, nicht weil sich jemand über ihre Existenz empört, sondern aus schlichten geschäftlichen Gründen. Sie stehen auf Grund und Boden, der sich mit der Errichtung von Bürogebäuden und teuren Wohnungen gewinnbringender nutzen lässt.