Das Kopftuch der Frau Gül

Der symbolische Konfliktstoff von ezgi ahçik

In einer Tradition der Missachtung, der Ignoranz und der Verständnislosigkeit stol­pern wir durch die Zeit. Niemand erträgt den anderen, was uns in Malatya wieder vor Augen geführt wurde. So wie es in die­sem Land Leute gibt, die verlangen, dass jeder dieselbe Sprache sprechen oder dem­selben Glauben anhängen soll, gibt es welche, die keine Kopftücher dulden wol­len. Doch die damit verbundene Ignoranz wird irgendwann zum gleichen Ergebnis führen wie der extreme Nationalismus und der religiöse Fundamentalismus. Davon künden die Stechschritte der Militärs. Davon kündet leider auch der quasireli­giöse Eifer, mit dem so manche Demon­stranten um das Atatürk-Mausoleum ziehen.

Bei der Kundgebung in Istanbul ist die nationalistische Stimmung ebenfalls deutlich. Auch unter vielen Frauen. »Nie war ich so stolz darauf, Türkin zu sein«, ruft die betagte Sängerin Ayten Alpman. Warum denn? Welchen Grund gibt es, auf einer Demonstration gegen die Sharia dem türkischen Nationalismus zu frönen? Handelt es sich etwa bei den kopftuch­tragenden Frauen ausschließlich um Kurdinnen und Armenierinnen? Eine junge Frau kreischt: »Wir wollen keine verhüllten Frauen mehr sehen!« Warum nicht? Was wird sie sagen, wenn sich morgen ein anderer hinstellt und ruft: »Wir wollen keine unverhüllten Frauen mehr sehen«? Ist es so schwer zu begreifen, dass Zwang zu Zorn, Zorn zu Hass und Hass zum Wunsch nach Ausmerzung führen?

Vor kurzem durften wir für einen Augenblick die so oft vermisste Empathie erleben, als nach der Ermordung von Hrant Dink Abertausende riefen: »Wir alle sind Armenier!« Sei es, weil ich für sie keine solche Empathie aufzubringen vermag oder weil mir ihre Überzeugungen nicht behagen, fiele es mir schwer zu sagen: »Wir alle sind Kopftuch-Frauen.« Mich beunruhigt es, dass das Kopftuch zu einem Banner gemacht wird und sich mehr und mehr verbreitet hat. Doch ob es uns gefällt oder nicht, müssen wir uns dem stellen, dass ein bedeutender Teil der Frauen dieses Landes eines trägt. Wir müssen uns mit ihnen auseinandersetzen, anstatt sie aus dem sozialen Leben zu drän­gen. Und junge Frauen, die nicht brav zuhause bleiben, sondern studieren möchten, von den Universitäten abzuweisen, ist eine Missachtung ihrer Menschenrechte.

Eine von vielen, denen dies widerfuhr, ist Hayrünnisa Gül. Sie zog darum zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, musste ihre Klage aber zurückziehen, weil ihr Mann Minister geworden war. Ist das nicht erstaunlich? Da ist jemand die Gattin eines Ministers und Aspirantin auf das Amt der First Lady, bleibt aber benachteiligt. Warum? Weil das Kopftuch nicht nur ein religiöses Symbol ist, sondern ebenso eines von Klassenzugehörigkeit. Ein Symbol dafür, dass ein beachtlicher Teil der Bevölkerung die verordneten Prinzipien der Republik nicht akzeptiert.

Ich hätte nichts dagegen einzuwenden, wenn Hayrünnisa Gül First Lady würde. Davor bräuchte sich niemand zu fürchten, und unserer Demokratie könnte dies vielleicht sogar nutzen. Und nach den miesepetrigen Gesichtern einer Nazmiye Demirel oder Semra Sezer kann ihre sympathische Erscheinung diesem Amt nur gut tun. Mehr nicht. Mehr ändert sich bei uns ohnehin nicht.

Dieser gekürzt wiedergegebene Text erschien zuerst in feministischen Zeitschrift Pazartesi.