Die Letzten beißen die Hunde

Zum ersten Mai haben die Niederlande ihren Arbeitsmarkt für die meisten osteuropäischen EU-Staaten geöffnet. Polen arbeiten nun legal, Bulgaren und Rumänen lösen sie auf dem illegalen Sektor ab. von tobias müller, amsterdam

Das Frühjahr hatte für Urszula* frustrierend begonnen. Wieder war es nichts geworden mit dem erhofften Leben ohne Stress wegen der benötigten Arbeitsvisa und der vielen Ablehnungen bei der Jobsuche. Zum wiederholten Mal hatte die niederländische Regierung Mitte März verschoben, was schon lange fällig war: die Öffnung des Arbeitsmarktes für Arbeitnehmer aus den osteuropäischen Ländern, die im Jahr 2004 der EU beigetreten waren. Zunächst hatte es geheißen, der Arbeitsmarkt werde zum 1. Mai 2006 geöffnet, dann wurde der Termin immer wieder verschoben, genau ein Jahr später ist es nun endlich so weit. Am Dienstag voriger Woche ist eine Regelung in Kraft getreten, die das Parlament, das Arbeitsministerium und die Gewerkschaften unter großen Mühen ausgehandelt haben und die den Arbeitern aus den betreffenden osteuropäischen Ländern einen freien Zugang zum niederländischen Arbeitsmarkt ermöglicht. Zuvor hatten die rund 150 000 Polen in den Niederlanden in einer prekären Situation zwischen Hoffnung und Resignation gelebt.

Bezahlte Sklaverei

Urszula hat die Situation satt gehabt. »Natürlich vertraue ich ihnen nicht mehr«, entrüstet sie sich im Hinblick auf die politisch Verantwortlichen. »Es ist unmöglich, es alle zwei Monate wieder aufzuschieben. Das ist nicht fair für die Menschen, die hier leben, die die Sprache lernen und sich eine Existenz aufbauen wollen.« Genau darum bemüht sich die 26jährige bereits seit dem Jahr 2002. Damals führte die polnische Arbeitsmigration noch in eine Richtung, nach Deutschland. Urszula war eine Pionierin, sie hatte sehr genaue Vorstellungen von ihrer Zukunft: Eine Weile in den Niederlanden arbeiten, um dann in Polen ihr Studium der Internationalen Beziehungen abschließen und einen guten Job finden zu können. Stattdessen arbeitete sie als Au Pair, zwei Jahre lang. »Geld sparen ist unmöglich mit 300 Euro im Monat. Und das war schon viel zu diesen Zeiten. Elf Stunden am Tag, fünf Tage die Woche arbeiten. Manchmal denke ich, es ist wirklich gut bezahlte Sklaverei.« Mit dem EU-Beitritt zehn osteuropäischer Staaten 2004 sollte sich alles ändern. Doch in den westlichen Mitgliedsstaaten produzierte die Mischung aus Existenzangst und ausländerfeindlichen Ressentiments das Gerede von den »polnischen Klempnern«.

Während Urszula große Hoffnungen in die neuen Verhältnisse setzte und ihren Au-Pair-Job an den Nagel hängte, beschloss die EU kurz vor der Erweiterung eine zweijährige Schonfrist zum »Schutz« einheimischer Arbeitskräfte. Erst danach sollte jedes Land für sich entscheiden, wann die Beschränkungen aufgehoben würden. Urszula bekam dadurch den nächs­ten Dämpfer: »Ich dachte, ich hätte eine Chance. Aber ich bekam nur einen Job in einer Bar. Schreck­licher Laden. Natürlich wollten alle Bars in Amsterdam polnische Mädchen, die illegal arbeiteten. Der Boss sagte uns zu, wir würden quasi legal mit Steuernummern arbeiten. Aber als ich die Steuerbehörde anrief, stellte ich fest, dass ich illegal arbeitete und dafür eine massive Strafe hätte zahlen müssen. Da habe ich gekündigt. Viele Mädchen sind aber geblieben, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Doch wie willst du das machen, für nur sechs Euro pro Stunde, tags wie nachts?«

Im Jahr 2006 entschieden die Niederlande ebenso wie Belgien, Frankreich, Luxemburg und Dänemark, innerhalb der nächsten drei Jahre die Zugangssperren aufzuheben. Dies machte das Land endgültig attraktiv für polnische Arbeiter, zumal Deutschland ankündigte, damit erst nach 2009 zu beginnen. Doch je näher der anvisierte Stichtag rückte, desto stärker wurden im niederländischen Parlament Zweifel an der Öffnung des Arbeitsmarktes geltend gemacht. Bevor, wie es in Medienberichten so regelmäßig wie irreführend hieß, die »Grenzen für Polen geöffnet« würden, sollten soziale und tarifliche Standards garantiert werden. Der Gewerkschaftsdachverband FNV begann eine Kampagne unter dem Motto »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«. Die Verantwortlichen im Arbeitsministerium verwiesen dagegen auf die Vielzahl freier Stellen, die sinkende Arbeitslosenquote und prophezeiten das Ende des Aufschwungs, wenn die Lücken auf dem Arbeitsmarkt nicht bald gefüllt würden.

In den Schlupflöchern der Nischenökonomie

Diese Konstellation hat sich bis heute gehalten. Linke, Sozialkonservative und national Gesinnte eint die Furcht vor »unehrlicher Konkurrenz«, während die Befürworter der Öffnung zuversichtlich auf ihre so genannte »flankierende Politik« verweisen.

Damit sind im niederländischen politischen Diskurs eine Reihe von Maßnahmen gemeint, die die Öffnung des Arbeitsmarkts sozial begleiten sollen, dazu gehören beispielsweise verbindliche Tarife auch für Osteuropäer, empfindliche Bußgelder für Arbeitgeber, die das neue Mindestlohngesetz unterlaufen, und eine zentrale Meldestelle für Verstöße, die umgehend verfolgt werden sollen. Dazu kommen bessere Kooperationsmöglichkeiten zwischen Arbeits-, Steuer- und Versicherungsbehörden sowie der Datenaustausch zwischen niederländischer und polnischer Gewerbeaufsicht. Um windigen Zeitarbeitsfirmen das Handwerk zu legen, sollen Betriebe nur noch mit anerkannten Leihfirmen zusammenarbeiten. Diese müssen ihrer osteuropäischen Belegschaft nun auch eine annehm­bare Unterkunft zur Verfügung stellen.

Zudem soll gesetzlich festgelegt werden, dass die Arbeitgeber zur Verantwortung gezogen werden können. Im Jahr 2006 hatte für Aufsehen gesorgt, dass der Inhaber eines Betonbetriebes die Verantwortung für den Tod eines polnischen Arbeiters auf den ebenfalls polnischen Subunternehmer abwälzen konnte. Urszula kennt all die Berichte über katastrophale Sicherheitsbedingungen. Sie imitiert den Tonfall eines imaginären Zeitarbeits­managers und gibt ihn mit den Worten wieder: »Du kennst die Polen, sie arbeiten so oder so.«

Bereits seit dem vergangenen Sommer wurden in 39 Sektoren Arbeitserlaubnisse wesentlich leichter erteilt. Dazu gehören die Landwirtschaft, die Binnenschifffahrt, die Metallindustrie und das Transportwesen. Dennoch haben zahlreiche Polen den Weg in die Selbstständigkeit angetreten. Die deutliche Zunahme der Einmannbetriebe in den vergangenen Jahren ist auch den vielen neu gegründeten polnischen Handwerksunternehmen geschuldet.

Martin lacht: »Morgens vor dem Baumarkt siehst du nur polnische Autos.« Eigentlich ist der 31jährige aus der Stadt Hilversum Fliesenleger. Aber auch Dacharbeiten, Anstriche und Renovierungen gehören zu seinem Standardprogramm. Von »unehrlicher Konkurrenz« kann er ein Lied singen: »Meine Kunden erwarten bessere Qualität als von einem Niederländer, aber für weniger Lohn. Im Internet findest du problemlos Angebote für 12 Euro pro Stun­de. Mein Preis liegt bei etwa 19,20 Euro. Für einen Einheimischen wären das um die 30 Euro, beim Fliesenlegen auch 40. Ich nehme dafür dann 25 oder 27 Euro.« Immer noch besser als die Stationen seines ersten Jahres in den Niederlanden: Tätigkeiten im informellen Bausektor, harte Arbeit unter Zeitdruck, fünf Euro pro Stunde. Ein Angebot, dasselbe in Mosambik zu tun, für 6,50 Euro, schlug er aus. Stattdessen machte er Zeitarbeit. Wieder Bau, Renovierungen. Wie üblich hatte die Leihfirma alles geregelt: Unterbringung in einem Haus mit zehn, zwölf polnischen Kollegen. Von 6,50 Euro pro Stunde gingen jeden Monat 200 für die Miete drauf, während die Firma dadurch jeweils 1 000 Euro zusätzlich einnahm.

Auch seine Frau Beate, die in Polen als Sales-Managerin tätig war, kann mit der klassischen Erwerbsbiographie polnischer Arbeitsmigranten aufwarten. Anfangs trug sie mit kurzfristigen Restaurant- und Küchenjobs zum Überleben bei, später mit Kinderbetreuung. Mit Hilfe eines polnischen Freundes gründete sie vor zwei Jahren ihren eigenen Betrieb. Mundpropaganda und Internetinserate bringen Martin Aufträge im Umkreis von 150 Kilometern ein, Beate erledigt die Buchhaltung. »Am Anfang war es schwierig, aber nun läuft es immer besser.«

Optimismus kann gebrauchen, wer die Widrigkeiten des Arbeitsmarkts im Wandel nicht nur täglich erfährt, sondern auch noch die Schuld für diese zugeschoben bekommt. Als Grundvoraussetzung für eine Öffnung galt in den Niederlanden, dass »die Polen sich an die Tarife halten«. Auf der Website der Sozialistischen Partei, seit jeher besorgte Anwältin des »autoch­thonen« Arbeiters, fanden sich zahlreiche Warnungen vor osteuropäischen Lohndrückern. Insbesondere in den bereits geöffneten Segmenten des Arbeitsmarkts, in der Grauzone der Scheinselbstständigkeit oder begünstigt durch illegale Arbeitsvermittlung wurden die Billigarbeiter vermutet. Vor allem im Frühjahr 2006 lieferten zudem selbst seriöse Medien mit dem Bild Wodka saufender Krawallbrüder Material für aufgebrachte Leserbriefschreiber.

»Kleinwarschau« in Den Haag

Kein Wunder, dass Journalisten erst einmal kritisch beäugt werden in »Kleinwarschau«. Der Norden Den Haags gilt als der polnische Kiez in den Niederlanden. Anders als traditionelle Migrantenmilieus in den Großstädten, wie etwa türkische oder surinamesische, fällt die polnische Infrastruktur im Alltag bisher kaum auf. In dem Den Haager Kiez jedoch sind auf den Straßen PL- Länderkennzeichen auf Autoheckscheiben und polnische Wortfetzen stets gegenwärtig. Es gibt ein polnisches Delikatessengeschäft, eine Bäckerei und eine Bar.

Dort läutet Leszek* mit seinen Freunden das Wochenende ein. Der Mittvierziger ist einer von der alten Garde, die sich eingerichtet hat in den Schlupflöchern der Nischenökonomie. Zwei bis vier Wochen lang erledigt er Aufträge als Handwerker, dann geht es für eine Woche zurück nach Hause zu seiner Familie. Wie viele andere hat auch er in Deutschland gearbeitet, bevor die Aussicht auf mehr Beschäftigung und weniger Kontrollen ihn weiter nach Westen zog. Den kargen Stundenlohn bessert er mit der Vermietung von Apartments auf. Seine Kunden sind Arbeiter aus Polen.

Dass die flüchtigen Elemente des halbformellen Sektors sich zu festigen beginnen, zeugt von einer neuen Dynamik. Die nächsten osteuropäischen EU-Beitritte sind bereits Geschichte, und wieder wird das in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Bulgaren und Rumänen, munkelt man bei der Sozialistischen Partei und den Gewerkschaften, seien derzeit noch nicht in Europa tätig. Irrtum. Auch ohne Aussicht auf baldige Zugangserleichterungen zum Arbeitsmarkt befinden sich Menschen aus diesen Ländern bereits in den Arbeitsmarktsegmenten, die vor drei Jahren noch das Terrain von Urszula, Beate, Martin und Leszek waren.

Wer festen Grund unter den Füßen erreicht hat, beginnt, um diesen zu fürchten. Martin jedenfalls blickt der neuen Konkurrenz aus dem Südosten skeptisch entgegen: »Das ist nicht gut. Sie arbeiten für weniger Geld, die Preise gehen runter. Dann können wir auch nach Polen zurück.«

* Namen geändert