Zahlen für die Amnestie

In den USA wird über ein neues Einwanderungsgesetz debattiert. Die Beteiligung an den Migrantenprotesten gegen die Illegalisierung war jedoch geringer als im vergangenen Jahr. von fabian frenzel, los angeles

Die unzähligen Fahnen der USA und diverser lateinamerikanischer Staaten, die Trommel- und Tanzgruppen, Essensstände und eine ausgelassene Atmosphäre erweckten den Eindruck, es handle sich um ein großes Fest. Es war das LAPD, die Polizei von Los Angeles, die diesen Eindruck korrigierte.

Plötzlich begannen die Polizisten, den MacArthur-Park und die umliegenden Straßen zu räumen, weil es sich bei der Abschlussfeier der Mayday-Demonstration, wie sie von einem Hubschrauber aus kaum verständlich mitteilten, um eine unangemeldete Veranstaltung handelte. Das harte Vorgehen der Polizei, die Gummigeschosse und Schock­granaten auf die perplexen Parkbesucher, Demonstranten und Journalisten schoss, überraschte selbst erfahrene Aktivisten. »Dabei hatten sie sich zunächst Mühe gegeben, gut auszusehen, und offensichtlich möglichst viele nicht weiße Beamte rekrutiert, um die Demo zu begleiten«, urteilte Hamid Kahn von der Migrantenorganisation South Asian Network. Auch Presseverbände und der Stadtrat von Los Angeles verurteilten den Polizeieinsatz und verlangten unabhängige Untersuchungen.

In Los Angeles demonstrierten am 1. Mai 30 000 bis 50 000 Menschen auf zwei separaten Demonstrationen für eine liberale Einwanderungspolitik, im vergangenen Jahr waren es Hunderttausende. Auch in anderen Städten der USA war die Beteiligung deutlich geringer. Im vergangenen Jahr hatten Millionen von Migranten einen Tag gegen den Sensenbrenner-Gesetzentwurf gestreikt, der eine Kriminalisierung von undokumentierten Immigranten, also von Einwanderern ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, vorsah. Schüler und Studenten unterstützten die Proteste, zu denen auch viele prominente Hispanics aufgerufen hatten.

Der unerwartet große Protest trug dazu bei, das Sensenbrenner-Gesetz zu verhindern und zeigte, wie viele Migranten dazu bereit sind, sich zur Wehr zu setzen . Dass ein so klarer politischer Kritikpunkt wie das Sensenbrenner-Gesetz in diesem Jahr fehlte, erklärt teilweise, warum viel weniger Menschen den Aufrufen folgten.

Für die March 25th Coalition, die sich zum Protest gegen das Sensenbrenner-Gesetz im Winter 2005 zusammengeschlossen hatte, stand in diesem Jahr die Forderung nach einer Legalisierung der neun bis zwölf Millionen undokumentierten Immigranten in den USA im Vordergrund. Der zweite Marsch wurde vom Multi-Ethnic Immigrant Workers Organizing Network (Miwon) organisiert, das eine bedingungslose Amnestie für die Illegalisierten fordert, aber auch den Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft kritisiert und die globalen Zusammenhänge der Migrationsbewegungen in den Vordergrund stellt. Die Demonstrationen fanden nacheinander statt, sodass man an beiden teilnehmen konnte.

Es war die Abschlusskundgebung der radikaleren, vom Miwon organisierten Demonstration, die von der Polizei attackiert wurde. Das LAPD wurde einmal mehr seinem Ruf gerecht, eine brutale, von Rassisten durchsetzte Truppe zu sein. Der Einsatz ist jedoch auch symptomatisch für die Tendenz, undokumentierte Migranten vornehmlich als Sicher­heitsproblem zu sehen. Die Kontrolle der Grenzen ist zu einem zentralen Thema im »War on terror« geworden.

Präsident George W. Bush befürwortet eine regulierte Einwanderung, die den Unternehmen einen stetigen Zustrom an billigen Arbeitskräften sichern soll. Er steht jedoch unter dem Druck des rechten Flügels der Republikaner und reaktionärer Bürgerbewegungen gegen die Immigration. Die Minutemen-Milizen patrouillieren eigenmächtig und häufig bewaffnet an der Grenze zu Mexiko, Anfang des Jahres haben sie begonnen, undokumentierte Tagelöhner an ihren Sammelpunkten in Los Angeles und anderen Städten zu attackieren. Auch bei den Mayday-Demonstrationen wagten sich Minutemen und andere Gegendemonstranten in die Nähe der Märsche.

Offenbar um sich die Sympathie dieser Grup­pen zu erwerben, hat die US-Regierung in den vergangenen zehn Monaten wiederholt das Immigration and Customs Enforcement (ICE) gegen undokumentierte Migranten eingesetzt. Bei einem dieser Einsätze in New Bedford in Massachusetts wurden im März 300 Arbeiter in einer Textilfabrik verhaftet. Ihr Job war es, Uniformen für die US-Armee zu nähen. Die 300 Arbeiter wurden unmittelbar nach dem Polizeieinsatz in jüngst von der Firma Halliburton im Auftrag der Regierung errichtete Abschiebegefängnisse im 4 000 Kilometer entfernten Texas gebracht und harren dort der Abschiebung.

Der Einsatz in Massachusetts kam so überraschend, dass die Kinder der Migranten in den Kindergärten oder Schulen zurückblieben, zunächst ohne etwas über den Verbleib ihrer Eltern zu erfahren. Der Einsatz löste Empörung aus. Deval Patrick, der demokratische Gouverneur von Massachusetts, distanzierte sich umgehend und bedauerte, dass er keine Möglichkeit habe, sich gegen die nach dem Bundesrecht legale Aktion zu wehren.

Abschiebungen sind in den USA relativ selten, undokumentierte Migranten können in vielen Bundesstaaten einen Führerschein und sogar ein Universitätsstipendium bekommen. Da ihre in den USA geborenen Kinder automatisch die Staatsbürgerschaft erhalten, würde eine konsequente Abschiebungspolitik die Familien auseinanderreißen. Für die rechten Verfechter der family values ist das ein Problem, zumal Berichte über weinende Kinder, die sich um ihre Eltern sorgen, im Wahlkampf ungelegen kommen.

Dass etwas geschehen muss, um den Status der undokumentierten Immigranten zu regeln, steht daher außer Frage, und in der jüngeren Geschichte gab es etwa alle zehn Jahre eine Amnestie für Illegalisierte. Die Chancen einer politischen Annäherung zwischen den Demokraten, die die Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus stellen, und den Republikanern vor den Präsidentschaftswahlen ist allerdings gering.

Der Strive Act (Security through Regularized Immigration and a Vibrant Eco­nomy), über den seit Anfang des Jahres im Kongress debattiert wird, soll die Migration durch die Einführung eines neuen Visums regulieren. Auch für die bereits in den USA lebenden undokumentierten Immigranten bietet er eine Chance zur Einbürgerung, allerdings soll die Amnestie nicht umsonst sein. Die Abkürzungen für Gesetzesvorlagen werden gerne symbolisch gewählt. »To strive« bedeutet »sich bemühen«, von den Migranten wird eine Gegenleistung erwartet. Und tatsächlich versuchen viele Illegalisierte, sich darauf vorzubereiten, dass der Strive Act oder ein ähnliches Am­nes­tie­gesetz in näherer Zukunft in Kraft treten wird.

Bei den Mitte April fälligen Jahressteuererklärungen verzeichnete der Inland Revenue Service (IRS) einen verstärkten Zufluss von Steuerzahlungen, die über die »Individuelle Steuerzahlernummer« abgerechnet werden. Auf diesem Weg können in den USA auch ohne eine Sozialversicherungsnummer, die nur erhält, wer eine Arbeitserlaubnis hat, Steuern eingezahlt werden. Undokumentierte Immigranten brachten vor Ablauf der Frist Geld teilweise in Koffern zum IRS, berichtete die New York Times. Denn im Strive Act ist die Zahlung von Steuern während des illegalen Aufenthalts in den USA eine der zentralen Bedingungen für eine Amnestie.