In der Vorhölle brennt kein Licht

Das asiatische Kino formuliert eine überzeugende Kritik der kapitalistischen Transformationsprozesse. Die Filmreihe »Im Osten viel Neues« im Berliner Kino Babylon präsentiert Beispiele des neuen Realismus. von sulgi lie
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Blinder Schacht« heißt Li Yangs auf der Berlinale im Jahr 2003 preisgekrönter Film, und der Titel ist keine Metapher. In der ersten Einstellung fährt die Kamera mit einer Gruppe von Minenarbeitern in die Tiefe eines Bergwerks hinunter. Durch die offene Luke strömt anfangs noch das Tageslicht in den Aufzug, aber je tiefer der Weg ins Erdinnere führt, umso kleiner wird die Lichtöffnung, bis sie schließlich gänzlich von der Dunkelheit verschluckt wird.

Ganz unten: Mit diesem bewussten filmischen Gestus steht »Blinder Schacht« exemplarisch für die Ästhetitik einer Gruppe von asiatischen Filmen, die unter dem Titel »Im Osten nichts Neues« im Kino Babylon in Mitte laufen. Die von der Korea­nischen Frauengruppe Berlin organisierte Reihe rückt vor allem jene Filme in den Fokus, die ungesicherte, pre­käre Arbeitsverhältnisse unter globalisierten Bedingungen verhandeln.

Bereits an drei koreanischen Dokumentarfilmen wird das vielfältige thematische Spektrum der Beiträge deutlich: »Mamasang« von Kim Il-Rhan widmet sich Sexarbeiterinnen, die sich den stationierten US-Soldaten anbieten, »NoGaDa« von Mire Kim zeichnet das Schicksal von koreanischen und japanischen Tagelöhnern nach, »We are Not Defeated« von Lee Hye-Ran rekonstruiert die Geschichte der ersten koreanischen Frauengewerkschaft.

Neben diesen Arbeiten werden jedoch auch einige Filme aus dem Umfeld der so genannten Sechsten Generation chinesischer Filmemacher gezeigt, die trotz weltweiter Festivalerfolge noch immer nur sehr selten den Weg in die deutschen Kinos finden.

Während die beiden bekanntesten Regisseure der vorangegangenen »Fünften Generation« – Zhang Yimou und Chen Kaige – in ihren letzten Filmen ganz auf ornamentale Historienspektakel setzen, bewegt sich ein Film wie »Blinder Schacht« genau an jener Schnittstelle von Dokument und Fiktion, die den spezifischen Realismus der »Sechsten Generation« begründet.

»In China fehlt es an allem, nur nicht an Menschen«, heißt es an einer Stelle des Films. Mit grimmiger Iro­­nie bringt der Satz auf den Punkt, wovon die meisten Filme der »Sechsten Generation« zu berichten wissen: nämlich von der Freisetzung überflüssiger Bevölkerungsmassen unter dem Diktat eines verschärften kapitalistischen Transformationsprozesses. In »Blinder Schacht« machen sich die beiden Protagonisten, zwei Kohlebergarbeiter, den Umstand zu nutze, dass es unter den lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen in den chinesischen Minen immer wieder zu ungeklärten Unfällen und Todesfällen kommt. Die beiden Kompagnons nehmen junge Arbeiter unter ihre Obhut, geben sie unter falschen Namen als ihre Verwandten aus und töten sie im Bergwerk. Anschließend deklarieren sie das ganze als einen Unfall und kassieren vom Minenbesitzer eine Abfindung für die Geheimhaltung des Vorfalls. Ihr Kalkül gerät in dem Moment durcheinander, als sie einen naiven 16jährigen Provinzjungen als Opfer auswählen.

In der Tradition des italienischen Neorealismus führt Li Yang in der Unschuldsfigur eines Kindes ein Gegenmodell zur depravierten Asozialität der beiden Täter ein, aber dennoch enthält sich der Film jedes humanistischen Sentiments und erzählt die Erosion von Moralität als notwendigen Effekt einer gnadenlosen Ökonomisierung. Immer wieder werden die Körper der Arbeiter von der Düsternis der Minen gleichsam aufgesogen. Aus diesem Dunkel einer industriellen Vorhölle weist kein Weg mehr ins Licht. Am Ende scheint auch die naive Reinheit des Kindes von der Unerträglichkeit der Verhältnisse gebrochen. In einem visuellen Echo auf die erste Einstellung beraubt der Film den Jungen jeder Hoffnung: Der Junge schaut in den Himmel auf, doch er sieht nur den rauchenden Schlot eines Krematoriums.

Nicht ganz so pessimistisch nimmt sich die ebenfalls chinesische Dokumentation über »Die Taxischwestern von Xian« aus. Regisseur Fang Yu begleitet drei Taxifahrerinnen, die zehn Stunden am Tag und 356 Tage im Jahr durch die chinesische Metropole Xian fahren. Frau Wang muss ihren Sohn allein aufziehen, weil ihr Mann drogensüchtig ist, Frau Duan wurde bereits Opfer eines Raubüberfalls, und Frau Yu muss nach dem frühen Tod ihres Mannes ihre Schulden tilgen. Sie erzählen davon, wie ein Großteil des verdienten Geldes an die Taxiverwaltung geht und wie immer neue polizeiliche Vorschriften und Schikanen zu misslichen Situationen führen.

Alle drei Frauen trotzen ihrem mörderischen Arbeitsalltag mit einem unbedingten (Über-)Lebenswillen, mit dem sich der Film solidarisch zeigt. Im Gegensatz zu den koreanischen Filmen, die in eher konventioneller dokumentarischer Weise die betroffenen Personen als talking heads inszenieren, schmiegt sich der Film »Die Taxischwestern von Yuan« enger an den Erfahrungsraum seiner Heldinnen an. Er findet dabei eine Form der Kadrierung, die an die letzten Arbeiten von Abbas Kiarostami erinnert. Wie in »Ten« von Kiarostami ist die Kamera zumeist auf dem Beifahrersitz fixiert und gibt durch die Autofenster zugleich den Blick auf die Außenwelt frei. Durch diese Strategie einer doppelten Rah­mung wird die Aufmerksamkeit sowohl auf die sprechende Person als auch auf die durch­querten Räume gerichtet.

In diesem Sinne erschließt der Film nicht nur die existentielle Dimen­sion individuel­ler Schicksale, sondern auch die Topografie einer sich ver­än­dern­den urbanen Gegen­wart zwischen Kentucky-Fried-Chicken und Industrieruinen. Er endet mit einer wun­derbaren Totale des nächtlichen (Taxi-)Ver­kehrs von Xian: Jeder Taxifahrer, jede Taxifahrerin hätte wohl eine eigene Geschichte zu erzählen.

Von der verzweifelten Vitalität der Taxi­schwestern ist bei den beiden jugendlichen Protagonisten in Jia Zhangkes »Unknown Pleasures« (2002) nichts mehr zu spüren. Jia, mitt­ler­weile vielleicht der bedeutends­te chinesische Gegenwarts­regisseur, zeich­net in seinem dritten Film die lakonische Studie einer postsozialistischen wasted youth zwischen Rebellion und Lethargie. Die beiden 19jährigen Rumhänger Xiao Ji (Wu Quiong) und Bin Bin (Zhao Wei Wie) driften ziellos durch Datong, eine öde Industriestadt in der Provinz Shanxi. Während sich Xiao Ji erfolglos um die schöne Tänze­rin Quiao Quiao (Zhao Tao) bemüht, entfremdet sich Bin Bin, der gerade aus der lokalen Textilfabrik entlassen wurde, von seiner Freundin Yuan Yuan (Zhou Qing Feng), die ein Studium in Peking beginnen möchte.

In den für ihn typischen langen Kamera­schwenks fängt Jia-Zhang-Ke die Isolation seiner beiden Protagonisten in präzise komponierten Digitalbildern ein. Verloren stehen Xiao Ji und Bin Bin in periphe­ren Räumen und proben Gesten der Coolness, die immer wieder ins Leere laufen.

Ihr eigenes Leben scheint ihnen umso mehr zu entgleiten, je schneller die Modernisierungsprozesse ablaufen. In »Unknown Pleasures« ist die rapide Veränderung der Realität weniger sichtbar als hörbar: Virtuos entwirft Jia Zhang-Ke einen kakophonischen Tonraum aus Verkehrslärm, Industriegeräuschen, Fernseh- und Radiostimmen und Wer­be­jingles wie: »Try the lottery and make your leisure time pay!«

Von diesen medialen Adressierungen sind Xiao Ji und Bin Bin in ihrer fast schon katatonischen Starre völlig abgeschnitten. Als auf einem Marktplatz der Fernseher die Vergabe der Olympischen Spiele 2008 an Peking überträgt, jubeln alle, nur die beiden nicht. Am ehesten scheint noch die US-amerikanische Popkultur das Potenzial einer nonkonformen Subjektivität zu verheißen, aber auch dieses Versprechen scheitert am Ende des Films in einem tragikomischen Simulacrum der Rebellion. Xiao Jis und Bin Bins Obsession für Quentin Tarantinos »Pulp Fiction« wird ihnen letztlich zum Verhängnis. In einer irren Disco-Szene führt Jia Zhang-Ke die lässige Eleganz von John Travoltas legendärem Twist ad absurdum. Anstatt seine Uma Thurman zu verführen, handelt sich Xiao Ji Ohrfeigen von Quiao Quiaos zwielichtigem Lover ein. Die Projektionsflächen des Populären sind in »Unknown Pleasures« Symptome fehlgeschlagenen Lebens.

Aber Arbeit gibt es auch nicht.

Babylon, Berlin, 17. bis 22. Mai