Eins zu Null fürs Kapital

Die aktuellen Wirtschaftsdaten deuten darauf hin, dass die Unternehmer eine Runde im Klassenkampf gewonnen haben könnten. von georg fülberth

Bis vor kurzem sah es so aus, als unter­scheide sich der gegenwärtige Aufschwung von den vorangegan­genen hauptsächlich dadurch, dass er von einem gewaltigen Medienhype begleitet ist. Schon zu Weihnachten und Silvester des Jahres 2005 verkündeten der Bundespräsident und die Kanzlerin, im darauf folgenden Jahr werde es aufwärts gehen und Deutsch­land werde Weltmeister. Den Titel zu holen, gelang zwar nicht, aber die Stimmung blieb prima, und neun Monate nach der Fußballweltmeisterschaft gab es einen Babyboom, womit man sogar dem angesagten Ziel kurzfristig näher kam, die Geburtenrate zu steigern.

Da Psychologie das Investitionsverhalten beeinflusst, können ökonomische Folgen der Reklame nicht völlig ausgeschlossen werden. Tatsächlich ist die Phase des gedämpften Wachs­tums und der Rezession erst einmal vorbei. Das lässt sich an der Entwicklung des Bruttoinlands­produkts ablesen. Nach mehreren ­mageren Jahren (2001: +1,2 Prozent, 2002: +0,1 Prozent, 2003: -0,2 Prozent, 2004: +1,6 Prozent, 2005: +1,0 Prozent) geht es wieder aufwärts. Im vergangenen Jahr wuchs das Bruttoinlandsprodukt um 2,7 Prozent, für dieses Jahr wird ein Plus von 2,5 Prozent vorhergesagt.

Das entspricht zunächst einmal dem üblichen zyklischen Verlauf. Dass es im Kapitalismus ohne Krisen abgehe, war eine Illusion derjenigen, welche die goldene Zeit zwischen 1948 und 1973 erlebt haben. Die Jüngeren wissen es besser. Alle paar Jahre (1967, 1975, 1983, 1993, 2003) gibt es ein so genanntes Minuswachstum, danach geht es wieder aufwärts, es folgen aufeinander Rezessionen, Aufschwünge, Booms und Abstürze. Beruhigend mag daran für manchen Beobachter sein, dass per Saldo ein deutliches Wachstum zu verzeichnen ist, da die Wirtschaft mehr und höhere positive Zahlen zu bieten hat als negative.

Derzeit findet ein Aufschwung statt, wie es ihn auch im vorigen Jahrzehnt, nach der Flaute des Jahres 1993, gab. Er wird andauern, aber nicht für immer. Selbst die Wirtschaftsforschungsinstitute und Koalitionspolitiker machen vorsorglich darauf aufmerksam, dass es nicht ewig so weitergehen werde.

Das Wachstum hat frühere Höhen bisher nicht erreicht. Im Jahr 2000 betrug es 3,2 Prozent, nach jeweils zwei Prozent in den Jahren vorher. Die »Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik« (»Memorandumgruppe«) behauptet, der Boom habe seinen Höhepunkt bereits über­schritten. Denkbar ist jedoch auch, dass zum Ende des Jahrzehnts der richtige Boom erst noch kommt, bevor dann wieder eine Rezession zu verzeichnen sein wird. Ohne die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent zum 1. Januar würde vielleicht in diesem Jahr ein höherer Wachstumswert erwartet als im vergangenen.

Eine Erfahrung aus der Entwicklung des Kapitalismus lautet, in der Krise steigt die Arbeits­losigkeit, im Aufschwung sinkt sie. Allerdings gibt es seit 1975 eine beunruhigende Abweichung: jobless growth. Das heißt, in den Phasen des Wachstums steigt die Beschäf­tigung allenfalls geringfügig, manchmal gar nicht. Deshalb war die Arbeitslosigkeit in jedem Boom höher als im vorangegangenen, und für die Krisen galt das gleiche. Bei der Zahl der Erwerbslosen verzeichnete man in den vergangenen Jahrzehnten ein paar Aufs und Abs, insgesamt aber stieg sie in etwa treppenförmig.

Mag sein, dass sich diese Tendenz auch beim gegenwärtigen Aufschwung nicht entscheidend verändert. Allerdings: Betrug die Arbeitslosenquote im Jahr 2005 noch 13 Prozent, so sank sie 2006 immerhin auf durchschnittlich 10,8 Prozent (vorläufige Zahl). Das ist schon ein kräftiger Ruck, und über das Jahr gesehen ging der Trend nach unten. Schon lesen wir da und dort die Vermutung, es bahne sich eine überzy­kli­sche Wende an, hin zu ­einem Typ von ­Arbeitsmarkt, wie er bereits seit längerem in den USA, in Großbritannien und in den Niederlanden zu beobachten sei. Dort ist die Erwerbslosigkeit weit niedriger als in Deutschland und in Frankreich, zugleich sind die Beschäftigungs­verhältnisse unsicherer und die Löhne niedriger. Falls das wirklich so ist, hät­ten wir es tatsächlich mit einer Abweichung vom bisherigen Typ Aufschwung zu tun.

Der Erfolg hat zwar bekanntlich viele Mütter und Väter, aber diesmal sind sie untereinander besonders zerstritten. Die SPD behauptet, der Aufschwung sei von Rot-Grün herbeireformiert worden, die Union schreibt die guten Zahlen ihrer Kanzlerin zu.

Aber vergessen wir zunächst die Tat­kraft der Unternehmer nicht. Es ist ih­nen gelungen, Flächentarife und bisherige Regulierungen des Arbeitsmarktes durch erfolgreiche Erpressungsversuche auszuhebeln. Entlassungen und die Androhung der Verlagerung von Werken mach­ten Be­triebs­räte und Belegschaften weich. Die Arbeitszeiten wurden verlängert, die Löhne gesenkt. Die Zahl der prekären Beschäftigungsverhältnisse steigt. Viele der gefeierten neuen Jobs entstehen in der Zeit- und Leiharbeitsbranche. Unter solchen Bedingungen macht das Investieren wieder mehr Spaß, zumal die Auslandsnachfrage gestiegen ist und die Kunden mit Preisen bedient werden können, die wegen niedriger Lohnstückkosten (sie sanken in den vergangenen Jahren ständig) sehr günstig sind.

Die Politik hat sich in derselben Zeit nicht lumpen lassen. Rot-Grün senkte die so genannten Lohnnebenkosten durch die Hartz-Gesetze, die Praxisgebühr, die Zuzahlungen bei Medikamenten und Krankenbehandlun­gen, die Teilprivatisierung der Rentenversicherung und die Verlängerung der offiziellen Lebensarbeitszeit. Kurzfristig sind zwar dadurch auch die Abzüge vom Lohn geringer geworden, langfristig aber profitieren die Unternehmer, während die Lohnabhängigen spätestens im Alter mit kräftigen Einbußen zu rechnen haben.

Wichtig für die gute Investitionslaune sind auch Ermutigungen durch die Fiskalpolitik der Großen Koalition. Einerseits die Erhöhung der Mehrwertsteuer, andererseits die für 2008 geplante Senkung der Unternehmenssteuern: Das nennt man Umverteilung. Bekanntlich belastet die Mehrwertsteuer als Verbrauchssteuer die ärmeren Haushalte stärker als die reicheren. Die gegenwärtig hohen Staats­einnahmen sind zu einem erheblichen Teil auf sie zurückzuführen. Da die öffentliche Hand zurzeit ein wenig mehr investiert, ergibt sich zusätzlich noch ein keynesianischer Neben­effekt, finan­ziert vor allem mit den Mehr­wertsteuer­beiträgen derer mit geringeren Einkom­men.

Wird dieser Kurs fortgesetzt, ist der Konjunkturzyklus dennoch nicht aufgehoben und die nächste Krise nicht vermieden. Auch die Arbeitslosenzahlen werden weiterhin in der Rezession steigen und im Aufschwung fallen. Denk­bar ist aber, dass dies auf niedrigerem Niveau geschieht. Die Voraussetzung dafür ist ein Sieg des Kapitals über die Arbeiterklasse, der letztgenannte zwingt, sich auf die neuen Bedingungen einzustellen. Dabei wird es auch unter den Lohnabhängigen selbst Gewinner und Verlierer geben. In den exportorientierten Branchen dürften die (insgesamt kleiner werdenden) Stammbelegschaften zumindest im Aufschwung kampfstark bleiben – so wie derzeit in der Metall­industrie. Die Mehrheit wird sich mit immer weniger zufrieden geben müssen.

Die kombinierte rot-grüne und schwarz-rote Operation wäre dann gelungen. Der Patient Kapitalismus lebt, und dies nicht schlecht.