Für eine Hand voll Euro

Der »Aufschwung« bringt in erster Linie mehr Zeitarbeit und mehr schlecht bezahlte Jobs mit sich. Wer nicht für den »Standort Deutschland« arbeitet, gerät unter Druck. von lutz getzschmann

Ob es in die Geschichte eingehen wird, das deutsche »Jobwunder«? Zum 1. Mai konnte Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) die frohe Botschaft verkünden, dass die Zahl der Erwerbslosen erstmals seit langem wieder auf weniger als vier Millionen gesunken ist. Wie die Bundesagentur für Arbeit tags darauf ergänzte, sei dies vor allem auf den Zuwachs an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zurück­zuführen.

Dass wenig Wunderbares an dieser Entwicklung ist, wird deutlich, wenn man sich andere Zahlen anschaut. So ist die Anzahl der Vollzeitbeschäftigten in den vergangenen sieben Jahren um fast 1,5 Mil­lionen zurückgegangen, während die Teilzeitbeschäftigung zugenommen hat. Der Grund dafür ist keineswegs das Bestreben der Menschen nach mehr Freizeit. Bei einer Umfrage im Auftrag der Bundes­bank gab mehr als die Hälfte aller Teilzeitbeschäftigten an, nur deshalb weniger Stunden zu arbeiten, weil eine Vollzeitstelle nicht zu finden sei.

Trotz sinkender Erwerbslosenzahlen werden die Bezieher des Arbeitslosengeldes II (ALG II) zahlreicher. Die auf den ersten Blick paradoxe Tatsache bedeutet, dass wegen der sinkenden Reallöhne immer mehr Menschen sogar von einem Vollzeitjob nicht mehr leben können. Im April stieg die Zahl der Empfänger von ALG II auf 5,2 Mil­lionen, davon waren 2,6 Millionen als nicht Arbeit suchend gemeldet. Zieht man in Betracht, dass 4,5 Millionen Menschen inzwischen für einen Stun­denlohn von weniger als 7,50 Euro brutto arbeiten, davon 1,5 Millionen sogar für weniger als fünf Euro, erklärt sich der scheinbare Widerspruch von selbst.

Angesichts dieser Entwicklung ist es schon bezeichnend, wenn ausgerechnet in Nordrhein-Westfalen, wo die CDU mit der FDP regiert, ein gesetzlicher Mindestlohn für die 180 000 Beschäftigten im Hotel- und Gaststättengewerbe eingeführt wird. Das meldete die Frankfurter Rundschau am 4. Mai. Je nach Tarifgruppe sollen die Beschäftigten in 44 000 Betrieben zwischen 900 und 1 284 Euro monatlich erhalten.

Auch die Leiharbeit boomt weiterhin. Wie das »Institut für Arbeit und Qualifikation« feststellte, hat sich die Zahl der Beschäftigten bei Leiharbeitsfirmen zwischen 2003 und 2006 auf etwa 600 000 verdoppelt. Immer mehr Unternehmen, aber auch Einrichtungen wie Krankenhäuser und Pflegeheime greifen bei besonders guter Auftragslage oder für Urlaubsvertretungen auf Leiharbeiter zurück. Die drei Zeitarbeitgeberverbände haben inzwischen mit dem DGB Tarifverträge ausgehandelt, die durchschnittliche Stundenlöhne zwischen 6,22 Euro und 7,15 Euro vorsehen.

Hinzu kommt eine nicht unbeträchtliche Anzahl öffentlich geförderter Beschäftigungen. Wie der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA), Frank-Jürgen Weise, erklärte, sind von allen bei seiner Behörde gemeldeten Stellen nur 61 Prozent »normale«, also nicht geförderte, sozialversicherungspflichtige Jobs. 4,74 Millionen Personen in Deutschland halten sich mit Minijobs über Wasser, 284 200 als Ein-Euro-Jobber. Sie alle tauchen nicht in der Arbeitslosenstatistik auf. Hinzu kommt die beständige Entwicklung hin zu Scheinselbständigkeit und zu Jobs auf Honorarbasis, bei denen sämtliche Risiken auf den Beschäftigten lasten.

Viele der neuen Jobs sind im Bereich »unternehmensnaher Dienstleistungen« entstan­den, dort wuchs die Zahl der Arbeitsplätze um 8,5 Prozent. Diese allerdings sind, wie im Bericht der BA eingeräumt wird, zum größten Teil der Zeitarbeit zuzurechnen.

Insgesamt kann man feststellen, dass der Zuwachs an Arbeitsplätzen zum größten Teil auf der Vermehrung prekärer Beschäftigungsverhältnisse beruht. Damit scheint weitgehend verwirklicht zu sein, was vom Präsidenten der Bundesvereinigung der Deut­schen Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt, Politikern von CDU bis SPD und diversen »Wirtschaftsweisen« seit Jahr und Tag gefordert wurde, nämlich die Schaffung eines Niedriglohnsektors.

Offensichtlich ging es weniger darum, »Langzeitarbeitslosen und gering Qualifizierten Beschäftigung zu sichern bzw. zu bringen«, wie Hundt voriges Jahr in einer Presseerklärung behauptet hatte. Denn diese Personengruppen betrifft der Rückgang der Arbeitslosenzahlen kaum, ebenso wenig wie die Lohnabhängigen über 50 Jahre, die stattdessen immer mehr ausgemustert werden. Abgesehen hatte und hat man es vielmehr auf die bisher tariflich abgesicherten Beschäftigungsverhältnisse.

Ein Weg, um diese möglichst zu deregulie­ren, um Löhne und Beschäftigungsstandards drastisch abzusenken, ist wiederum die Aus­weitung der Leiharbeit. Konzerne gründen gleich ihre eigenen Zeitarbeitsfirmen: »Bank­power« (Deutsche Bank), »Vivento« (Deutsche Telekom), »Auto Vision« (VW), »DB-Zeitarbeit« (Deutsche Bahn) stellen von den Mutterkonzernen entlassene oder »outgesourcte« Beschäftigte zu deutlich schlechteren Konditio­nen ein, um sie wieder an diese Konzerne zu »verleihen«. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der BA drückte es um die Jahreswende so aus: »Der Aufschwung am Arbeitsmarkt ist nur um den Preis einer geringeren Beschäftigungsstabilität zu haben.«

Die »Agenda 2010«, die Hartz-Gesetze und andere Maßnahmen der vergangenen Jahre können als groß angelegte Kampagne zur Umwandlung der Lohnarbeit in der Krise analysiert werden. Ziel ist die radikale Senkung des Preises der Ware Arbeitskraft, die Aushebelung von Schutzmechanismen und Tarifbindungen, das Schließen der Nischen, in denen bisher noch vereinzelt ein Leben ohne die Unterwerfung unter das Diktat der Kapitalverwertung möglich war. Zugleich geht es auch um die schrankenlose Ausweitung der Lohnarbeit, einerseits durch die Aufhebung der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, die bei Tätigkeiten mit geregelter Arbeitszeit noch bestehen, andererseits durch die Steigerung der Produktivität.

Hier sind die Ergebnisse seit längerem sichtbar. Im Jahr 2006 stieg nach Angaben des Instituts für sozialökologische Wirtschaftsforschung (ISW) die Produktivität je Arbeitsstunde um 1,9 Pro­zent, je Erwerbstätigem um 1,8 Prozent. Dazu beigetragen hat der niedrige Krankenstand. Gerade einmal durchschnittlich 7,2 Arbeitstage bzw. 3,29 Prozent der Sollarbeitszeit gingen den Unternehmen 2006 durch Krankmeldungen verloren, das bedeutet eine Halbierung der Zahlen von 1980.

Natürlich heißt das nicht, dass die Menschen weniger krank wären. Im Gegenteil, der erhöhte Arbeitsdruck produziert eine Vielzahl an zusätz­lichen, vor allem psychischen Erkrankungen. Diese haben sich nach einer Studie der Betriebskrankenkassen seit 1976 nahezu vervierfacht.

Lohnarbeit wird also wieder zu einem größeren Gesundheitsrisiko. Gewisse Ausfälle scheinen von den Unternehmen aber durchaus einkalkuliert zu sein. »Bei den Stellenstreichungen sind die gesundheitlich Beeinträchtigten zuerst entlassen worden«, zitierte das ISW-Wirtschaftsinfo kürzlich den Berliner Sozialforscher Hans-Dieter Nolting und ergänzte: »Die Firmen haben sich verjüngte und gesündere Mannschaften zusammengestellt.« Erhöhung der Arbeitsproduktivität, Senkung der Löhne und Ausweitung der Arbeitszeiten – das bedeutet eine Intensivierung der Ausbeutung.

Eine Begleiterscheinung dieser Entwicklung ist die Renaissance einer Arbeits­ideo­lo­gie, die den Druck auf all jene verschärft, die nicht bereit sind, sich für einen Bruttolohn von fünf Euro in der Stunde ihre Gesundheit zu ruinieren oder ein Leben zu akzeptieren, das nur aus Lohnarbeit, Ar­beitshetze, Warenfetisch und Geldvergesellschaftung besteht. Mit vorerst ungebrochenem Elan wird wieder gearbeitet bis zum Umfallen, damit der »Standort Deutschland« auf dem Weltmarkt »attraktiv« bleibt. Wer da nicht mitmacht, wird schnell zum Problemfall, mit dem sich »Fallmanager«, Sozialarbeiter, gemeinnützige Beschäftigungsgesellschaften, Talkshowmoderatoren und Wahlkämpfer befassen. Und dabei kann nichts Gutes herauskommen.