Demokraten-Wettstreit

Die russische Regierung hat die Vorwürfe der EU während des Gipfels geschickt ­gekontert. Es entstand der Eindruck, die EU habe für Russland nicht mehr die außen- und wirtschaftspolitische Priorität. von ute weinmann

Deutschland hätte sich sicherlich gerne als EU-Ratsvorsitzender mit dem Erfolg seiner Russland-Diplomatie geschmückt. Allerdings hat sich während der Vorbereitungen auf den Russland-EU-Gipfel in der Wolgastadt Samara in aller Deutlichkeit offenbart, dass die Frage des Umgangs mit Russland zum Lackmustest innerhalb der EU geworden ist. Als Vermittlerin ist die Bundesregierung, die sich selbst gerne als wohlwollende Vertreterin osteuropäischer Interessen sähe, in dieser heiklen Frage jedoch weit weniger qualifiziert als von ihr gewünscht.

Der Gipfel am Freitag brachte zwar Verabredungen im Hinblick auf einzelne Verhandlungspunkte, wie beispielsweise die Einrichtung eines Frühwarnsystems, sollten Schwierigkeiten bei der Energielieferung auftreten, doch im Kern war er bereits im Vorfeld zum Scheitern verurteilt. Denn die EU hatte sig­nalisiert, dass es derzeit unmöglich sei, mit Russland über ein neues Partnerschafts­ab­kommen zu verhandeln, und hatte damit in dem Land für Miss­stimmung gesorgt.

»Die Weigerung, mit unserem Land Verhandlungen zu führen, ist ein Versuch, Druck auf Russland auszuüben«, erklärte der stellvertretende Vorsitzen­de des Dumakomitees für internationale Angelegen­heiten, Leonid Slutskij, in einem Radiointerview. Er stellte klar, dass die russische Regierung sich diesem Druck keinesfalls aussetzen werde. Gemeint war damit, dass die EU versuche, das im Jahr 2005 von Russland eingeführte Embargo gegen polnische Fleischimporte zu torpedieren.

Als Bedingung für den Start von Verhandlungen forderte Polen jedoch nicht nur die Einstellung des Fleischembargos, sondern eine Verpflichtungserklä­rung im Bereich Energiesicherheit für alle neuen EU-Staaten. Damit ist sichergestellt, dass es vor Ablauf des derzeit gültigen Grundlagenabkommens Ende dieses Jahres zu keiner Neuauflage kommen wird.

Auch Litauen hat sich nach dem Stopp von russischen Öllieferungen über die Drushba-Pipeline zur Offensive gegen Russland entschlossen. Präsident Valdus Adamkus versprach, die ursprünglich für den Gipfel vorgesehenen Verhandlungen über das neue Partnerschaftsabkommen so lange zu blockieren, bis die Lieferungen fortgesetzt würden.

Estland hingegen machte einen Rückzieher: Im Vordergrund stehe der Dialog mit Russland, die Regierung hoffe auf eine einheitliche Position der EU in der Frage des neuen Abkommens.

Dabei klangen zuvor wesentlich unversöhnlichere Töne an. Estlands Ministerpräsident Andrus Ansip be­gründete die Verlegung eines antifaschis­tischen Denkmals in Tallinn, die Ende April zu heftigen Un­ruhen und einem Todesopfer geführt hatte, mit der Notwendigkeit, das Abgleiten des Landes unter rus­si­sche Kontrolle zu verhindern. Die Nachrichten­agen­tur Interfax zitierte ihn mit den Worten: »Die Verle­gung der Skulptur war die einzige Möglichkeit zur Rettung der Wür­de unserer Republik, und auf länge­re Sicht, unseres Staats an sich.« Auch Polen be­rei­tet den Abriss einer Reihe sowjetischer Denkmäler vor.

Fast 20 Jahre haben Polen und die baltischen Staaten auf ihre Chance zur Revanche gegen Russland gewartet; sie versuchen nun, ihre durch die Mitgliedschaft in der EU gestärkte außenpolitische Posi­tion zu nutzen.

Allerdings sind dem auch Grenzen gesetzt. Polen wird sein Veto gegen die Ver­handlungen mit Russland überdenken müssen, sobald der Ratsvorsitz an Portugal übergeht, spätestens jedoch, wenn den Vorsitz ein weiteres osteuropäisches Land übernimmt, nämlich Slowenien. Denn derzeit demonstriert Polen nicht nur seine kritische Haltung gegenüber Russland, sondern will unter Beweis stel­len, dass nicht Deutschland für Polen be­stimmt, wie das Land sich gegenüber Russland zu verhalten habe. Darüber hinaus birgt ein angespanntes Verhältnis zu Russland für die ökonomisch schwächeren neuen Mitgliedsländer ein willkommenes Potenzial, auf ihre Interessen innerhalb der EU aufmerksam zu machen.

Auf der abschließenden Pressekonferenz in Samara erklärte der russische Prä­sident Wladimir Putin Polens Veto gänzlich zur innereuropäischen Angelegenheit und wies damit jegliche Verantwortung für die gescheiterten Verhandlungen von sich. Gleichzeitig warnte der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso Russland davor, die EU zu spalten. »Man kann den Eindruck gewinnen, dass Russ­land bestimmte Mitgliedstaaten – etwa Polen oder die baltischen Staaten – anders betrachtet als die anderen«, sagte er dem Nachrichtenmagazin Focus. Aber die rus­sische Regierung müsse wissen, dass die Interessen der Polen genauso legitim seien wie die der Franzosen, Deutschen oder Portugiesen.

Generell entsteht der Eindruck, dass für Russland ein neues Grundsatzabkommen mit der EU keine oder zumindest eine geringe Priorität besitzt. Je mehr Verbindlichkeiten, desto weniger Freiräume. Das russische Establishment ist zwar an Europa als strategischem Partner und noch viel mehr als Energierohstoffabnehmer interessiert, aber ein zu enges und partnerschaftliches Verhältnis fordert gegenseitige Zugeständnisse, die von russischer Seite gerne als Gänge­lei­en ausgelegt werden. Das Paradebeispiel hierfür sind die zahlreich eingehenden Klagen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, wo Russland inzwischen den wenig rühmlichen Spitzenplatz einnimmt.

Die nur allzu berechtigte Kritik an der Auslegung von Grundrechten durch die russische Regierung geriet in Samara allerdings zu einer wenig effektvollen Rüge. Angela Merkel kritisierte die Repressionen gegenüber der russischen Opposition, die für den 18. Mai einen »Marsch der Unzufriedenen« angemeldet hatte und dafür vom Bürgermeister in Samara sogar eine Genehmigung erhielt, was bisher noch nie der Fall war.

Sicherheitskräfte nahmen dennoch bekannte Oppositionelle bei der Anreise und an Ort und Stelle vorübergehend fest, beschlagnahm­ten Computer und sorgten dafür, dass statt der angekündigten 1 000 Unzufriedenen maxi­mal 400 ihren Unmut kundtun konnten. Oppositionsführer Garri Kasparow und seine Begleiter wurden in Moskau so lange unter dem Vorwand gefälschter Tickets festgehalten, bis das letzte Flugzeug nach Samara abgeflogen war. Ihn störe der Marsch nicht, erklärte Putin. »Aber ich denke, dass jede Aktion im Rahmen der gültigen Gesetzgebung erfolgen und andere Bürger nicht daran hindern sollte, ein normales Leben zu führen.«

Das skandalöse Vorgehen der Miliz in Samara unterschied sich kaum von dem Szenario vor dem G8-Gipfel in St. Petersburg im vergangenen Jahr. Doch waren damals im Wesentlichen linke Strukturen betroffen. Aber Merkel sorgt sich offenbar lieber um das Wohl­ergeben der liberalen Opposition einschließlich der dort vertretenen Nationalbolschewisten. Putin konterte die Vorwürfe Merkels mit Verweis auf die Razzien im Vorfeld des G8-Gipfels in Heiligendamm. Merkel erwiderte darauf: »Wenn jemand nichts gemacht hat und nur auf dem Weg zu einer Demonstra­tion ist, ist das aus meiner Sicht eine andere Sache.«

Dass Putin diese Unterscheidung nicht nachvollziehen wollte, rechtfertigt keinesfalls sein rücksichtsloses Vorgehen gegen Kritiker im eigenen Land. Nur muss man im Westen offenbar noch lernen, dass es mit der eigenen »lupenreinen Demokratie« auch nicht so gut bestellt ist wie gerne behauptet. Putin antwortete auf die Frage eines Journalisten, ob er ein »lupenreiner Demokrat« sei: Kein Land der Welt sei eine »lupenreine Demokratie«.