Die Hamas will Gaza

Die Einheitsregierung ist politisch gescheitert. Die Hamas führt Krieg gegen die Fatah und Israel gleichzeitig. Israels Süden befindet sich im Ausnahmezustand. von ivo bozic
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Als sich Hamas und Fatah im Februar in Mekka unter dem Eindruck einer zugesagten Milliarde US-Dollar aus Saudi-Arabien auf die Bildung einer Einheitsregierung verständigt hatten, war international die Freude groß. Von einer »einmaligen Chance« war die Rede und von neuen Hoffnungen. Inzwischen dürfte es so manchem Optimisten jener Tage dämmern, dass es kein großer Fortschritt ist, wenn statt einer zwei Terrororganisationen an der Regierung sind. Statt der ersehnten Einigkeit ist unter der Koalitionsregierung von Hamas und Fatah der Bürgerkrieg ausgebrochen.

Die Eskalation der Gewalt ist offenbar eine geplante militärische Offensive der Hamas im Streit um die Kontrolle der Sicherheitsdienste. Als vor zwei Wochen 450 Fatah-Sicherheitskräfte, die in Ägypten ausgebildet worden waren, mit Genehmigung Israels in Gaza einzogen, kam es zu ersten Straßenschlachten. Die Hamas will den in Gaza ohnehin geringen Einfluss von Präsident Mahmoud Abbas mit allen Mitteln zurückdrängen. Nach Angaben der Fatah hatte die Hamas sogar geplant, Abbas bei einem Besuch des Gaza-Streifens zu ermorden. Am Dienstag voriger Woche hatten Hamas-Kämpfer einen Jeep der Leibwache von Abbas gestoppt und acht Männer regelrecht hingerichtet. Am folgenden Tag stürmten 200 Hamas-Kämpfer unter Einsatz von Granaten und Raketen das Haus des Fatah-Sicherheitschefs und erschossen mindestens vier Leibwächter. Die Fatah befand sich bei den meisten Auseinandersetzungen in der Defensive. Insgesamt sind in der vergangenen Woche mindestens 54 Menschen bei den innerpalästinensischen Kämpfen ums Leben gekommen.

Die Strategie der israelischen Regierung und auch Europas und der USA, Abbas und seine Fatah offensiv zu unterstützen, um den Einfluss der Hamas einzudämmen, hat bei der Hamas offenbar zu dem Eindruck geführt, dass man mit der Fatah den Feind im eigenen Haus hat. In Hamas-nahen Medien wurden Anhänger von Abbas beschuldigt, mit Israel gemeinsame Sache zu machen. Die Illusion, dass man dem Frieden näher komme, wenn man nur alles auf die gemäßigteren palästinensischen Kräfte setze, hat die Hamas mit ihrer Militäroffensive nun wohl nachdrücklich zerschlagen. Auch wenn die Mehrheit der 80 000 Sicherheitskräfte in der Westbank und Gaza der Fatah nahe steht, hat die Hamas mit ihrer 6 000 Mann starken Miliz eine schlagkräftige eigene Armee.

Eine Alternative zur Politik des Teilens und Herrschens bietet sich der israelischen Regierung allerdings kaum, so lange jedenfalls, wie sie auf einen Frieden durch direkte Verhandlungen mit der Autonomiebehörde setzt. Denn auch wenn man nüchtern feststellen muss, dass es den Menschen im Gaza-Streifen zur Zeit der israelischen Besatzung besser ging als seit dem Rückzug, wird dies kaum dazu führen, dass Israel jenen historischen Schritt zurücknehmen wird. Die Folge wäre mit Sicherheit ein furchtbares Blutvergießen auf beiden Seiten.

Die israelische Regierung zeigte angesichts der aktuellen Gewaltwelle in Gaza nicht die Absicht, sich in den Bürgerkrieg hineinziehen zu lassen. Obwohl die innerpalästinensischen Kämpfe von massiven Raketenangriffen auf Israel begleitet waren, hielt sich die Regierung in Jerusalem lange zurück. Die Absicht der Hamas, durch den verstärkten Qassam-Beschuss, der gleichzeitig mit der Offensive gegen die Fatah einsetzte, Israel zu einer Intervention zu provozieren, die die Palästinenser wieder einigen würde, war allzu offensichtlich. Erst am Donnerstag begann die IDF, mit Luftschlägen gegen Hamas-Stellungen und -Fahrzeuge zu reagieren. Dabei kamen mindestens 20 Palästinenser, größtenteils Hamas-Kämpfer, ums Leben.

Der Süden Israels befindet sich seit Sonntag im Ausnahmezustand. Seit dem 15. Mai gab es über 120 Qassam-Einschläge auf israelischem Gebiet, mindestens 21 Menschen wurden verletzt. Viele Bewohner stehen unter Schock. Auch eine Synagoge wurde getroffen, nur eine halbe Stunde nachdem ein Gottesdienst mit 200 Personen zu Ende gegangen war. Zwar wurden in den letzten sechs Jahren fast täglich Qassams auf Israel abgefeuert, insgesamt rund 4 500 Stück, doch die Frequenz der Angriffe der vorigen Woche hatte eine neue Dimension.

Für die israelische Regierung ist die Situation heute besonders schwierig. Da ist derzeit niemand auf palästinensischer Seite, mit dem man einen Waffenstillstand oder ähnliches aushandeln könnte. Selbst wenn man sich mit Abbas verständigen würde, hätte das keinerlei Einfluss auf die Hamas. Zumal nicht einmal klar ist, inwiefern der Krieg gegen die Fatah von der Gaza-Hamas initiiert wurde oder ob nicht vielmehr der in Damaskus unter dem Schutz Syriens lebende Hamas-Auslandschef Khaled Meschaal der Anstifter der Offensive ist. Dafür könnte unter anderem der Rücktritt des Innenministers Hani Kawasmeh von der Hamas sprechen.

Zuschauen, wie die eigene Bevölkerung in den Städten Sderot, Ashkelon und den benachbarten Kibbuzim einem täglichen Raketenhagel ausgesetzt wird, kann die israelische Regierung dennoch nicht. Durch ihr langes Zögern konnte sich der russisch-israelische Milliardär Arcadi Gay­damek sehr zum Ärgernis der Regierung erneut als Retter inszenieren. Er mietete für Sderot-Flüchtlinge 600 Zimmer in einem Hotel in Be’er Sheva an und leitete damit eine teilweise Evakuierung der Stadt ein. Erst danach beschloss auch die Regierung, Bürger aus Sderot, die über keinen Schutzraum in ihrem Haus verfügen, vorübergehend aus der 23 000-Einwohner-Stadt zu bringen. Das Vertrauen in die Regierung schmilzt in Sderot zunehmend dahin. Man fühlt sich im Stich gelassen. Daran ändert es auch nichts, dass Ministerpräsident Ehud Olmert nach Sderot fuhr und zusagte, ab sofort jeden Monat 200 Schutzräume in Wohnhäusern einbauen lassen zu wollen. Verzweifelte Bewohner der Stadt stürmten das Büro des Bürgermeisters und verlangten, in Sicherheit gebracht zu werden. Tausende Einwohner haben Sderot aus eigener Initiative verlassen, die Schulen sind seit Mittwoch voriger Woche geschlossen, die Produktion in den Betrieben und Fabriken steht größtenteils still.

Im nahe Sderot gelegenen Sapir-Col­lege ging der Betrieb jedoch weiter, nur die Regierung kann die Schließung der Hochschule anordnen. »Wir haben Glück, dass seit einem Monat ein Studentenstreik läuft und ohnehin viele Studenten gar nicht zur Uni kommen«, erklärte Simon Tamir, Sprecher des College, der Jungle World. Viele der 8 000 Studenten bleiben derzeit allerdings auch aus Angst vor den Raketen zuhause. Auf dem und rund um den Campus schlugen sechs Qassams ein, eine davon traf die auf dem Gelände liegende Highschool, zwei Personen wurden leicht verletzt. »Das größte Problem ist psychologischer Natur«, meint Tamir. »Wenn man vier oder fünf Mal pro Tag Todesangst haben muss, weil wieder der Alarm losgeht und irgendwo in der Nähe eine Detonation zu hören ist, dann überfordert das die Menschen nach und nach.«

In der israelischen Politik werden die Stimmen lauter, die ein drastisches militärisches Vorgehen gegen die Hamas fordern, man glaubt, dass die Zeit gegen die gemäßigtere Fatah arbeitet. Mit Luftschlägen wird dies jedoch kaum gelingen, eine groß angelegte Invasion des Gaza-Streifens will man nach den schlechten Erfahrungen im letzten Libanon-Krieg jedoch möglichst vermeiden. Als Ausweg aus diesem Dilemma wird inzwischen auch die Möglichkeit von UN-Friedenstruppen in Gaza diskutiert. Zwar ist man in Jerusalem mit dem Einsatz der Unifil im Südlibanon nicht besonders zufrieden, allerdings herrscht zumindest im Moment Ruhe im Norden, so dass eine Debatte über eine Internationalisierung des Gaza-Konflikts zumindest in Teilen der israelischen Gesellschaft auf Akzeptanz stößt. Italiens Außenminister Massimo D’Alema erklärte bereits, sollte eine entsprechende Anfrage von der palästinensischen Autonomiebehörde eingehen, würde Italien über die Entsendung von Friedenstruppen nachdenken. Solch eine Anfrage ist allerdings nicht zu erwarten.