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Ansichten aus dem Leben im Plastikmeer von Almería. von francisco conde (text und fotos)

Die Geschichte von Adil

Bei Tagesanbruch sah Adil das gelobte Land zum ersten Mal, als schwarzen Schatten in gro­ßer Entfernung. Währenddessen schien der Mann am Außenborder allmählich die Nerven zu verlieren. Er sollte die 40 Passagiere an Bord seines Schlauchbootes im Schutz der mondlosen Nacht unbemerkt an Land bringen, doch ungünstige Bedingungen in Ufernähe ließen das Boot an der Küste entlangtreiben. Noch als der Strand deutlich zu sehen war, schien der Fünf-PS-Motor machtlos gegen die Strömung, sodass jeder mit einem baldigen Auftauchen der Küstenwache rechnete. Doch trotz der gebotenen Eile war Adil erstmals wieder entspannt, überwältigt von der enormen Erleichterung, das Meer hinter sich gelassen zu haben.

Zwei Tage zuvor, als die Reise in dem überfüllten Boot begonnen hatte, hatte er um sein Leben gebangt, ganz gleich, wie gut es um die Wettervorhersage und die Fähigkeiten des Mannes am Motor bestellt sein mochten. Dessen Aufgabe bestand darin, in Spanien an Land zu gehen, die Fähre nach Marokko zu nehmen und auf den nächsten Einsatz zu warten. Alles ganz einfach. Doch so gut sich das auch anhören mochte, wusste Adil von den vielen Menschen, die die gefährliche Überfahrt durch die Straße von Gibraltar nicht geschafft hatten.

Während der Überfahrt, als eine Gruppe Delphine das Boot begleitete und Adil ihren Sprüngen zusah, dachte er an seinen Vater. Der alte Fischer hätte das Auftauchen der Delphine sicher als Zeichen für kommendes Glück gehalten, dachte Adil.

Ihm war es nicht leicht gefallen, von zu Hause fortzugehen, doch er sah keine Alternative. Den ärmlichen Fischereibetrieb der Familie führten inzwischen seine beiden älteren Brüder, und die hatten geheiratet und ihre Kinder zu versorgen. Nachdem Adil seine Freundin kennen gelernt hatte, verließ er die Fachoberschule und fand im nordmarokkanischen Nador einen Job als Lieferant. Er transportierte Waren aus der nahe gelegenen spanischen Enklave Melilla nach Marokko – ein Knochenjob für 50 Dirham pro Tag, also umgerechnet etwa 4,50 Euro.

Dass diese Tätigkeit dennoch lukrativ war, lag an den Möglichkeiten, die mit dem Transportvisum für spanisches Hoheitsgebiet verbunden waren: Adil konnte alkoholische Getränke und Feinkost schmuggeln, um sie in Marokko an Hotels und Bars zu verkaufen. Doch ein Streit über die Höhe der fälligen Schmiergelder an der marokkanischen Grenze brachte ihn für einige Monate ins Gefängnis. In dieser Zeit reifte seine Entscheidung, nach Europa zu gehen, und sein Vater gab ihm 6 000 Dirham (umgerechnet etwa 530 Euro) für eine Überfahrt im Schlauchboot.

Adil trug weder einen Ausweis noch sonstige Dokumente bei sich. Sollte er von der Polizei aufgegriffen werden, würde er, um eine Abschiebung zu umgehen, angeben, aus Algerien zu stammen. Bei sich hatte er nur etwas Trinkwasser, trockenes Essen und die Telefonnummer eines entfernten Cousins in Barcelona, von dem es hieß, dass es ihm gut ginge. Zudem hatte ihm der Mann, dem er in Nador das Geld gegeben hatte, noch eine Kontaktadresse in Almería genannt.

Als das Schlauchboot den Grund berührte, sprang Adil ins flache Wasser und rannte Hals über Kopf an Land. Er lief durch ein bewaldetes Gebiet und fand sich bald inmitten eines Labyrinths kleiner Wege wieder. Diese waren gesäumt von Wänden, die gleißend die Morgensonne reflektierten: das gewaltige Plastikmeer von Almería, die größte An­samm­lung von Gewächshäusern auf der Welt. Einzig die Sonne und der blaue Himmel sprachen dafür, dass er sich noch immer auf dem Planeten befand, den er kannte.

Der Steuermann des Bootes hatte erzählt, dass sich die Stadt Almería östlich der Lan­dungs­stelle befände. Dort angekommen, traf Adil einen Landsmann, der einen Friseurladen führte und von dem er erfuhr, dass eine Busfahrt nach Barcelona knapp 100 Euro kosten würde. Falls Adil aber das Geld nicht habe und einen Job suche, hätte er einen Tipp für ihn.

Adil ließ sich den Weg beschreiben, doch als er sein etwa 50 Kilometer außerhalb der Provinzhauptstadt gelegenes Ziel erreichte, traute er seinen Augen kaum: ein baufälliges andalusisches Landhaus mitten im Nichts, umgeben von Müll und Trümmern, in dem schattenhafte arabische Jugendliche mit ruinierter Haut und braunen Zähnen lebten. Strom gab es nicht, auch kein Fließendwasser, und als Toilette diente ein stinkendes Loch im Boden. Der Schlafplatz war ein Verschlag mit Fetzen von Gewächshausfolien, von dreckigen Matratzen mit löchrigem Bezügen. Dazwischen stand ein Stuhl, dem ein Bein fehlte. »Willkommen in Europa«, begrüßte einer der Bewohner Adil mit einem schiefen Grinsen.

Immerhin bekam er einen Job in der Melonenernte. 45 Grad Hitze herrschte unter den Plastikplanen, die Arbeitsbedingungen waren hart. Der Lohn von 30 Euro am Tag ermöglichte Adil aber schon nach einer kurzen Zeit, den Bus nach Barcelona zu nehmen. Auf dem Weg dachte er darüber nach, was für ein Auto seine Verwandten haben mochten. Doch der entfernte Cousin hatte kein Auto und empfing ihn ziemlich kühl. Seinem Laden, einem Internetcafé in unmittelbarer Nachbarschaft zu vielen weiteren Internetcafés, fehlte es an neuen Stühlen, modernen Computern und vor allem: an Kunden.

Der Cousin wohnte in einem kleinen heruntergekommenen Appartement weit vom Stadtzentrum entfernt. Die Wohnung war voller schreiender kleinen Kinder, und der Cousin verbrachte dort die Nächte beim Pokern. Es dauerte nicht lange, bis Adil mit gewagten Einsätzen sein gesamtes Geld verspielt hatte. Er schlief auf dem Korridorboden und zog oft in der Stadt umher. So nahe war er den schicken Autos und reichen Frauen noch nie gekommen, zugleich lagen seine Träume von einem besseren Leben noch nie in so weiter Ferne. Schließlich forderte sein Cousin ihn zum Gehen auf. Gleich hinter der französischen Grenze, in Perpignan, würde er eine Beschäftigung finden.

Die fand er tatsächlich. Allerdings eine andere, als er angenommen hatte, nämlich als Dealer. Einmal wurde er mit 50 Gramm Kokain von der Polizei erwischt. Auf der Wache wurde er geschlagen, doch obwohl die Menge nicht gerade gering war, beließ es die Polizei dabei, den Stoff zu beschlagnahmen.

Dennoch zog Adil aus dieser Erfahrung seine Lehren. Er fühlte sich so erschöpft, dass er beschloss, nach Hause zurückzukehren. Doch dann überbekamen ihn Zweifel. Sicher wollte er seine Leute in Nador eines Tages wieder sehen, aber doch nicht in diesem Zustand, nicht als Versager, der es in Europa zu nichts gebracht hatte! Schon der Gedanke daran, die Erwartungen seines Vaters enttäuscht zu haben, ließ ihn erschaudern, ebenso die Aussicht darauf, Morgen für Morgen mit der Gewissheit auf einen neuen hoffnungslosen Tag neben seiner Frau aufzuwachen. Er blieb bei seiner Entscheidung zurückzukehren, allerdings nicht nach Marokko, sondern in den dreckigen Verschlag am Rande des Plastikmeers.

Das Ende der Hoffnungen

Ich treffe Adil während des Ramadan. Mitt­lerweile lebt er seit fünf Jahren in dem maroden Landhaus und teilt sich mit drei Kollegen ein Zimmer mit gemauerten Wänden und einem stabilen Dach im Hauptflügel des Gebäudes. Alle sind Mitte Zwanzig, genau wie er. Die Wände sind fast völlig verdeckt von Postern aktueller Automodelle, BMW, Porsche und Maserati. Das Fasten macht schläfrig und lässt die Tage langsam vergehen. Die Bewohner vertreiben sich die Zeit damit, Geschichten aus ihrer Kindheit und ihre Erlebnissen in Europa zu erzählen, während sie ungeduldig auf den Sonnenuntergang warten, um ihre Marlboros unter der Matratze hervorziehen zu können.

Ihre Biografien gleichen der Adils: ein Leben voller Hoffnungslosigkeit, von Mü­ßig­gang in der Heimat, viel Kabelfern­sehen, wenig Arbeit. Dann die Überfahrt im Boot und das Umherziehen auf der iberischen Halbinsel, manche sind auch darüber hinaus gekommen, aber stets getrieben von der Hoffnung, das große Geschäft zu machen oder zumindest eine einheimische Frau zu heiraten, schließlich die enttäuschte Rückkehr nach Alme­ría.

Keiner der 80 Bewohner des Landhauses hat je Arbeitspapiere besessen oder konnte auf welche hoffen, und den­noch verdienen sie in den Treibhäusern genug, um sich während der Fastenzeit einen Monat Auszeit auf der Matratze zu leisten. Sie sorgen sich nicht einmal, dass sie gefeuert werden könnten, wenn der Ramadan beendet ist. Und das nicht zu Unrcht. Denn egal wie aufgebracht El Jefe, der Chef, auch über die ungewöhnliche religiöse Unterbrechung sein mag, haben sie ihm etwas zu bieten: gute Arbeit, keine Versicherung, kein Aufsehen.

Das Angebot von Almería

Die Agrarwirtschaft unter Plastikplanen, die das »Wirtschaftswunder von Almería« ermöglicht hat, ist enorm auf die illegale Arbeit von Immigranten angewiesen, ebenso auf Behörden, die diese Praxis stillschweigend dulden. Daher haben die spanischen Unternehmer keine Veranlassung, Zeit und Geld in die Legalisierung ihrer afrikanischen Helfer zu investieren. Sie mit einer Arbeitserlaubnis auszustatten, birgt zudem das Risiko, dass sie sofort aufbrechen könnten, um in den Städten des Nordens ihr Glück zu machen.

Die Lebensmittelproduzenten haben andere Sorgen. Bis Mitte der neunziger Jahre konnten sie sich darauf verlassen, dass in der Europäischen Union alle ihre Erzeugnisse abgenommen wurden. Solange sie nur billig waren, fragte niemand nach den Produktionsbedingungen oder der chemischen Kontamination der Produkte. Doch inzwischen hat die EU-Kommission die Bestimmungen für toxische Rückstände in Obst und Gemüse verschärft, zugleich wächst die Nachfrage nach Qualitätsware. Der müsse auch die Produktion in Almería gerecht werden, meint der Großhändler Manuel Canton, selbst wenn dies einen großen Umbau erfordere.

Qualität bedeutet nach Standards der EU giftfreie und optisch einwandfreie Nahrungsmittel. Noch vor zehn Jahren hätten die Produzenten von Almería mit solchen Vorgaben wohl nichts anzufangen gewusst, doch allmählich geht dort eine neue Generation ans Werk. Dazu gehört Lola Gomez Ferron, eine junge Landwirtin, die ihr 1,7 Hektar großes Anwesen als Schaubetrieb für Touristen und Studenten benutzt, um die weit verbreitete Ansicht zu widerlegen, bei Gemüse aus Almería handele es sich immer um eine gefährliche Mogelpackung.

Bei der hochmodernen Anlage komme es darauf an, durch eine völlige Abschottung von der Außenwelt Krankheiten fernzuhalten und ein genau definiertes Klima zu schaf­fen, erläutert sie. Der Einsatz von fleischfressenden Insekten gegen ihre vegetarischen Kollegen ermögliche es, auf Pestizide zu verzichten; der Einsatz von Industrie­bienen zur Anregung der Pollenbildung mache die Benutzung von Hormonen hinfällig. Und die Verunreinigungen der Erde ließen sich durch Aufzucht auf Würfeln aus Kokosfaser vermeiden, die über Schläuche mit einer Nährlösung versorgt würden. Im Wortsinne »natürlich« sind diese Verfahren selbstredend nicht, dennoch wird ein Teil der auf diese Weise hergestellten Laborware als »Bio« ausgewiesen und so in Discountern wie Lidl und Plus verkauft.

Insgesamt hat die Agrarindustrie von Almería im vergangenen Jahr Waren im Wert von 1,3 Milliarden Euro auf den euro­päischen Markt exportiert und bemüht sich gegenwärtig darum, auch auf dem russischen Markt Fuß zu fassen. Die Gewinne fließen nicht nur in die Modernisierung der Anlagen, sondern auch in aufwändige Stadtentwicklungsprojekte an der Küste, um gut situierte Investoren aus Westeuropa, den USA oder Japan anzulocken, die hier Ferienhäuser erwerben sollen. Dies seien klare Zeichen für den rasant gestiegenen Wohlstand der Bevölkerung von Almería, freut sich Antonio Amat, der langjährige Bürgermeister des Küstenortes Roquetas de Mar.

Adil und seinen Kollegen aber – Schätzungen zufolge sind in der Provinz Almería derzeit rund 90 000 Ausländer beschäftigt, davon mindestens die Hälfte illegal – spüren kaum etwas von dieser Entwicklung. Ihnen nutze keine der Investitionen, sagt die Soziologin Ana Hernandez, die sich mit den Arbeitseinwanderern beschäftigt. Mehr noch, die Betriebe würden dazu übergehen, massenhaft osteuropäische Arbeiter einzustellen, um der Kritik der EU an den irregulären Beschäftigungsverhältnissen und der Sorge vor der stetig wachsenden Zahl von illegalen Einwanderern aus Afrika zu begegnen. Prachtvolle rote Tomaten zu jeder Jahreszeit wird es in Europa auch in Zukunft geben. Unsicher scheint nur, ob sie auch weiterhin jungen Männern wie Adil ein Auskommen bescheren, deren Träume vom schönen Leben in Europa unerfüllt geblieben sind.

Aus dem Englischen von Stefan Brausch