Blaues Jobwunder

Die Wirtschaft boomt und entzieht sich dabei selbst die Grundlage allen Profits. Weil menschliche Arbeitskraft überflüssig wird, könnte der Aufschwung schneller als erwartet vorbei sein. von ernst lohoff

Die Bild-Zeitung war begeistert: »Jobwunder – 832 000 Arbeitslose weniger«. Mit dieser Schlagzeile wartete sie nach dem Tag der Arbeit auf. Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) verkündete, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie so viele Beschäftigungsverhältnisse gegeben habe wie heutzutage.

Jürgen Thumann vom Bundesverband der Deutschen Industrie sieht den Hauptgrund für das Mirakel in der günstigen internationalen Konjunktur. Kurt Beck hat auch eine Erklärung parat: »Die Reformen beginnen zu wirken.« Was die wundersame Jobvermehrung angeht, so hat er damit nicht ganz Unrecht. Über 90 Prozent der im vorigen Jahr neu entstandenen Beschäftigungsverhältnisse sind Teilzeitjobs.

In der öffentlichen Debatte gelten die Arbeitsmarktreformen der vergangenen Jahre als Stückwerk. Tatsächlich enthält jede Einzelmaßnahme bereits den Keim für die nächsten »Nachbesserungen«. Nur ist das, anders als die diversen marktradikalen Scharfmacher suggerieren, keineswegs der mangelnden Reichweite der Reformen geschuldet. Seit den Tagen der Bismarckschen Sozialgesetzgebung war die Arbeitsmarktordnung stets auf das Normalarbeitsverhältnis hin ausgerichtet. Hartz IV markiert einen Systembruch in der Geschichte des deutschen Sozialstaats. Nur noch für die Kurzzeitarbeitslosen bemisst sich die Unterstützung am früheren Lohn, allen droht das schnelle Abrutschen auf die Minimalversorgung. Zwischen die Unverwertbaren und die privilegierte Kernarbeiterschaft hat sich mitt­lerweile eine wachsende Schicht überausgebeuteter working poor geschoben.

Im Gegensatz zu den Hochkonjunkturen der Vergangenheit geht mit der aktuellen keine Verbesserung der Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft einher – von wenigen, stark exportorientierten Sektoren einmal abgesehen. Das durchschnittliche Reallohnniveau ist hierzulande allein im Jahr 2006 um 2,1 Prozent gesunken.

Von seiner Führungsposition im innereuropä­ischen Lohndumpingwettbewerb profitiert der »Standort Deutschland« derzeit zwar. Viel wichtiger für das »deutsche Wirtschaftswunder« als derartige relative Wettbewerbsvorteile ist indes die weltwirtschaftliche Gesamtentwicklung. Diese aber beruht seit der Ära Reagan auf der Dynamik des fiktiven Kapitals, also von Spekulation und Kredit, und auf der Beschleunigung der globalen Verschuldungskreisläufe. Die Weltwirtschaft wächst, weil das überschüssige Kapital, das in der Realwirtschaft keine Anlagemöglichkeiten mehr findet, in den Sektor spekulativer Geldvermehrung eingespeist werden kann. Solange gleichzeitig die USA immer mehr Schulden machen, um die gigantischen Importe zu finanzieren, ohne die der Boom in China und Fernost nicht möglich wäre, expandiert die Weltwirtschaft weiter. Egal wie tief das Lohnniveau noch gedrückt wird, egal ob die Wochenarbeitszeit auf 60 oder auf 168 Stunden angehoben wird – der Wirtschaftswunderzauber wäre im Handumdrehen vorbei, wenn sich im größeren Stil Spekulationskapital in Luft auflösen würde, von den verheerenden Folgen einer Umkehr der transnationalen Geldflüsse ganz zu schweigen.

Dennoch ist der brutale Druck auf die Einkommen der Lohnabhängigen und die globale Verschärfung der Ausbeutungsbedingungen von erheblicher Bedeutung. Die realwirtschaftliche Projektionsfläche für die Kapitalisierung von Zukunftserwartungen, ohne die keine Aktienhausse auskommt, hat gewechselt, und das verändert wiederum den Rückkoppelungsmechanismus zwischen Finanzüberbau und Realökonomie.

Der Börsen-Hype der späten neunziger Jahre basierte auf der spekulativen Vorwegnahme märchenhafter Profite im expandierenden Kommunikations-, Biotech- und Internetsektor. Das gelobte Phantasieland satter Profite lag, zeitlich betrachtet, in der Zukunft; was die Branchen angeht, in den neuen Fertigungszweigen im Hightech-Bereich; sozial in privilegierten Hochlohn-Segmenten; und geographisch im US-amerikanischen Silicon Valley.

Die Hoffnung auf astronomische Gewinne löste in den einschlägigen Branchen teils umfangreiche Vorinvestitionen aus. Gleichzeitig sorgten der kollektive Rausch und die damit einhergehende Kreditgeldschöpfung auch branchenübergreifend für zahlungsfähige Nachfrage und entsprechende Wachstumsimpulse. Dabei schien die starke Stellung von US-Firmen in den Zukunftssektoren die Bonität des Weltgeld­emittenten zu garantieren und damit die Sta­bilität der Welt-Defizit-Ordnung. Wie bereits in den achtziger Jahren trieben gerade große Spekulationsschübe trotz der eklatanten US-Defizite den Dollarkurs nach oben.

Beim gegenwärtigen Boom hat China, der Inbegriff eines von blankem Vandalismus gegen Mensch und Natur gekennzeichneten Kapitalismus, die USA als Land der Verheißung abgelöst. Der Noch-Exportweltmeister Deutschland nimmt derzeit primär als Ausrüster der Sonderwirtschaftszonen-Ökonomie am globalen Boom teil. Der tiefe Glaube an die Zukunftsindustrien ist mit dem Crash der New Economy verschwunden. Heute knüpfen die spekulativen Träume an die quer durch alle Branchen stattfindenden Spar- und Abstoßorgien an, mit denen es vielen Unternehmen gelungen ist, ihre Profit­raten in den vergangenen Jahren immens zu steigern.

Dadurch ist aber die Grundlage der Verwertung, die Vernutzung lebendiger Arbeitskraft, keinesfalls erweitert worden. Im Gegenteil, das Abschmel­zen der Arbeitssubstanz ist durch rasante Rationalisierungen in den Kernsektoren der Weltmarktproduktion mit beschleunigtem Tempo weitergegangen. Die gigantischen Profitraten verdanken sich im Wesentlichen nur einer Umverteilung zugunsten des Kapitals auf einer insgesamt schrumpfenden Grundlage der globalen Wertmasse.

Der landläufigen Sichtweise stellt sich dieser Zusammenhang jedoch genau umgekehrt dar. Die Gewinnsteigerungen werden als Versprechen auf einen neuen selbsttragenden Akkumulationsschub gewertet, und immer noch mehr zu sparen, erscheint als geeignetes Mittel, diese Entwicklung zu befördern. Genau diese absurde Vorstellung trägt wesentlich die neue spekulative Welle, die wiederum für die offiziellen Wachstumsziffern sorgt.

Wir erleben derzeit den seltsamsten Boom der kapitalistischen Geschichte. Vermittelt über die Dynamik des fiktiven Kapitals wird die große Downsizing-Bewegung, das Auszehren der industriellen und infrastrukturellen Substanz, einstweilen zum Ausgangspunkt von Wachstum. Früher war die Vernichtung von Realkapital das Ergebnis von Finanzmarktkrisen, heutzutage ist sie der zentrale Grund des Booms. Die steigenden Aktienkurse kapitalisieren vorab die herbeihalluzinierten positiven weltwirtschaftlichen Ergebnisse der nächsten radikalen Diätkuren. Mit der Neugestaltung der Arbeitsmarktordnung und ihren Sozialstaatsreformen leistet die Regierung ihren Beitrag, um die Basisfiktion des gegenwärtigen Booms fortzuschreiben und aufrechtzuerhalten.

Aber jeder Boom geht einmal zu Ende. Wenn die Einzelkapitale ihre Extraprofitraten unter der Bedingung erwirtschaften, dass gesamtgesellschaftlich die Möglichkeiten der Profitrealisation untergraben werden, führt sich dieser Prozess letztlich ad absurdum. Hier reift ein grundlegender Widerspruch heran, der in absehbarer Zukunft offensichtlich werden muss.

Gleichzeitig wachsen auch die finanzkapitalistischen Widersprüche. Die Weltkonjunktur steht und fällt nach wie vor mit der Aufrechterhaltung der Geldflüsse Richtung USA, ohne dass es noch eine Zukunftserwartung gäbe, welche die US-Bonität stützt. Deshalb wird sie zunehmend in Frage gestellt. Dass der Dollarkurs im Gegensatz zu allen früheren Boomphasen bereits in der Hochkonjunktur drastisch sinkt, ist ein Alarmzeichen. Das proklamierte »Jobwunder« könnte sich daher bald als blaues Wunder entpuppen.