Die Angst vor dem Kontrollverlust

Verdi hat mehr Angst vor den eigenen Mitgliedern als vor der Deregulierung des Arbeitsmarkts. Im T-Com-Streik zeigen sich die Grenzen des Gewerkschaftsapparats. von lutz getzschmann

Während Verdi angesichts der kompromisslosen Haltung des T-Com-Managements Durchhalteparolen ausgibt und Optimismus mimt, ist schon jetzt absehbar, dass dieser Streik für die Beschäftigten ungut enden wird. Im besseren Fall mit einem Kompromiss, den die Verdi-Führung über die Köpfe der Streikenden hinweg und zu ihren Ungunsten aushandeln wird. Denn allen kämpferischen Tönen zum Trotz ist Verdi gar nicht in der Lage, diesen Kampf mit den Mitteln zu führen, die angemessen wären, um gegen einen Konzern wie T-Com etwas auszurichten. Was hier sichtbar wird, ist eine Krise der Großgewerkschaften, die teilweise ein Ergebnis der in den vergangenen Jahren drastisch vorangetriebenen Deregulierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, teilweise aber auch selbst verschuldet ist.

Die Gewerkschaft Verdi hat sich durch ihre Haltung zu allen wesentlichen sozialen Kon­flikten der vergangenen Jahre bereits gründlich diskreditiert und ihre eigene Kampfposition geschwächt. Ob es um die Hartz-Gesetze ging, die man erst in den dafür eingerichteten Kommissionen mit vorbereitete, um sich dann hinterher halbherzig an den Protesten dagegen zu beteiligen, oder um die Einführung des Tarifvertrags im Öffentlichen Dienst (TVÖD), die Verdi – inklusive Einkommensverlusten von mehreren hundert Euro für neu Angestellte – mitgetragen hat: Fast nirgendwo hat Verdi es fertig gebracht, sich von der »konstruktiv-kritischen« Mitgestaltungspolitik zu lösen und konsequent quer zu schießen. Dass die Gewerk­schaft damit systematisch ihre eigenen Möglichkeiten untergraben hat, eine Gegenmacht gegen Lohndumping und Prekarisierung aufzubauen, wird jetzt deutlich.

Die schlechteren Tarifverträge für die T-Com-Tochterfirmen, an die die neuen Servicegesellschaften mit den dort dann ausgelagerten Beschäftigten nach dem Willen des T-Com-Chefs René Obermann angedockt werden sollen, hat Verdi selber ausgehandelt. Ebenso wie die Gewerkschaft durch die »konstruktive Mitgestaltung« der Privatisierung und Liberalisierung der Telekommunikationssparte den Druck mit­aufgebaut hat, der jetzt von privaten Telefongesellschaften mit Lohndumping und längeren Arbeitszeiten auf die Telekom ausgeübt und an die Beschäftigten weitergegeben werden soll. Der Einsatz von Leiharbeitern als Streikbrecher in Kassel und Eschborn – den Verdi inzwischen akzeptiert hat – ist geradezu ein Symbol für die neuen Arbeitsverhältnisse, durch die die gewerk­schaft­liche Kampfkraft gemindert wird.

Offenkundig führt Verdi den Streik, trotz täg­licher Erfolgsmeldungen über die Streik­beteiligung, nur mit halber Kraft und unter Rücksichtnahme auf Geschäftskunden und Großprojekte. Obwohl Anfang voriger Woche vorübergehend 100 Monteure rund um Heiligendamm in den Ausstand traten, hatte die Verdi-Führung bereits frühzeitig angekündigt, den G8-Gipfel nicht gezielt bestreiken zu wollen. Genau dies aber wäre nötig, um den Druck tatsächlich wirksam zu erhöhen. Ebenso wie das Lahmlegen von T-Punkten und der Kundendienste. Dazu aber würde die Bereitschaft gehören, ein Unternehmen durch einen Streik ernsthaft zu schädigen. Sie ist jedoch zumindest in den mittleren und höheren Funktionärsetagen bei Verdi nicht vorhanden.

Und so hat der Verdi-Verhandlungsführer Lothar Schröder dem Focus bereits am 19. Mai erklärt, mit den neuen Service-Gesellschaften der Telekom könne die Gewerkschaft sich abfinden, nur nicht mit Lohnsenkungen. Wie das funktionieren soll, behielt er für sich. Abseits der Streikkundgebungen wird also schon heftig der »Mitgestaltungswille« angedeutet, und nicht anders dürfte Frank Bsirs­kes Auftreten beim diskreten Dreiergespräch mit Obermann und Peter Struck im Bundesfinanzministerium Mitte voriger Woche gewesen sein.

Für die Gewerkschaft Verdi geht es um viel in diesem Streik, die Telekom ist mit einem gewerkschaftlichen Organisationsgrad von 60 bis 70 Prozent eines ihrer Standbeine, und genau das will das Management des ehemaligen Staatskonzerns, abgesehen von Lohn­senkungen und Arbeitszeitverlängerungen, ändern – wohl auch als Signal an Investoren wie Blackstone und den russischen Sistema-Konzern, die längst seit einiger Zeit über einen Ausbau ihrer Beteiligungen verhandeln. Nachdem der Konzern bereits 32 000 Stellen abgebaut hat, ist dies die letzte Chance, etwas zu unternehmen. Die neuen Beschäf­tigungsgesellschaften könnten durchaus der erste Schritt auf einem Weg sein, der durch das Verhalten des Siemens-Konzerns bei der BenQ-Abwicklung vorgezeichnet ist. T-Com ist dabei, sich in rasanten Schritten zu internationalisieren, zwischen 2000 und 2005 haben sich die Umsätze des Konzerns im Ausland verdoppelt, auch die Anzahl der dort Beschäftigten ist deutlich gestiegen und lag bereits 2005 bei knapp 32 Prozent. Die Ausgliederung der Servicebereiche und die damit verbundene Entmachtung der Ge­werkschaft würde ein wesentliches Hindernis für die Fortsetzung dieses Wegs wegräumen.

Für Verdi wiederum würde das bei T-Com das Ende bedeuten. Verliert Verdi diesen Streik, wäre dies ein wei­teres Zeichen des Niedergangs der Dienst­leistungsgewerkschaft, deren Mitgliederzahl von über drei Millionen bei ihrer Gründung inzwischen auf 2,3 Millionen zurückgegangen ist. Neben den dramatischen Veränderungen der Beschäftigungsstrukturen und der mindestens ambivalenten Rolle von Verdi in den sozialen Auseinandersetzungen hat dies auch strukturelle Gründe.

Die einstige Großgewerkschaft hat alle Grundfehler ihrer größten Fusions­teile ÖTV, HBV und DAG übernommen, und sie haben sich teilweise noch verschlimmert. Während man sich in Berlin für 72 Millionen Euro eine neue Gewerkschaftszentrale baute, wurde mehr als die Hälfte der Bildungsstätten geschlossen. Der Mitgliederschwund führte zur Zusammenlegung von Bezirken und Fachbereichen, überlastete Hauptamtliche bilden das Gerüst einer kleiner werdenden Organisation mit tausend Vorständen und nur sehr wenig Spielraum für die Selbstorganisation der Basis. Eine Gewerkschaft, die funktioniert wie der ADAC, nur mit schlech­terem Service, hört nun einmal irgend­wann auf, eine Gewerkschaft zu sein.

Wie in einer Versicherungsgesellschaft werden dann eben auch die Mit­glieder behandelt, die bei Arbeits­kämp­fen als Manövriermasse herhalten müssen. So wurden in den vergangenen Jahren auch schon mal in Rundbriefen Versicherungen des Allianz-Konzerns, mit dem Verdi kooperiert, zu Sonderkonditionen angeboten. Und während im von Verdi zusammen mit der Bertelsmann- und der Hans-Böckler-Stiftung ins Leben gerufenen »Pots­damer Forum« Führungskräfte umgarnt wer­den, mit denen auf Tagungen artig über »Human Ressource Management«, »Mitarbeiterführung« und »Benchmarking« parliert wird, sind die Möglichkeiten für prekär Beschäftigte, die Gewerkschaft für die eigenen Interessen zu nutzen, äußerst begrenzt. Konzentration auf das Kerngeschäft nennt man das wohl.

T-Com gehört zum Kerngeschäft einer Dienstleistungsgewerkschaft, das hat man im Verdi-Bundesvorstand begriffen, nur zeigt dieser Streik eben auch die Grenzen einer institutionell verflochtenen Apparatstruktur auf. Um sich auf die neuen Bedingungen einzustellen, müsste die Gewerkschaft ihre gesamte Struktur umkrempeln, Betriebsgruppen und Basisarbeit stärken, auf ehren­amtliches Engagement ihrer Mitglieder setzen, also etwas tun, was diesen Apparat in Frage stellt. Das aber würde die Gewerkschaft unberechenbar machen, für die Arbeitgeber, aber auch für ihre eigene Führung. Größere Angst als vor den Konsequenzen der Auslagerung von 50 000 Beschäftigten hat man im Zweifelsfall vor der Renitenz der eigenen Mitglieder und vor »Chaoten«, die dafür sorgen könnten, den Streik zu radikalisieren und damit aus dem Ruder laufen zu lassen. Das bekamen am 20. Mai auch Mitglieder der Münchener Freien Arbeiter-Union (FAU) und der unabhängigen Betriebsgruppe Amperkliniken zu spüren, die auf Betreiben der Versammlungsleitung mit polizeilichen Mitteln aus einer Verdi-Demonstration entfernt wurden.

Diese Angst vor Kontrollverlust ist neben der institutionellen Fesselung ein wesentliches psychologisches Hemmnis. Selbst bei noch so gutem Willen: Sie könnten einfach nicht anders, selbst wenn sie wollten. Und ob sie überhaupt wollen, bleibt auch in der vierten Streik­woche unklar. Was bleibt, ist, Solidarität mit den Streikenden zu zeigen, zugleich eine kritische Distanz zur domestizierten Streikorganisation der Verdi-Führung zu wahren und am Aufbau unabhängiger Basisstrukturen innerhalb wie außerhalb der DGB-Gewerkschaften zu arbeiten.