The Blockade

Vor dem Zaun in Heiligendamm und hinter ihm wurde Weltgeschichte geschrieben. Grund genug für die Jungle World, ihren Reporter david reed aus Baltimore, USA, nach Deutschland zu schicken und die Überreste der G8 einsammeln zu lassen

4. Juni 2007, 23 Uhr, in der Luft über Maryland

Bisher ist es kein besonders glatter Start: Acht Stunden nachdem ich zum Flughafen losgefahren bin, fliege ich erst über die süd­lichen Vororte von Baltimore. Durchschnittsgeschwindigkeit der Reise bis zu diesem Zeitpunkt: 5 km/h. Die Hauptprobleme waren (angeblich) eine wetterbedingte Verspätung und ein Wechsel von Flügen und Flughäfen und auch Fluggesellschaften. Aber was mir am meisten Sorgen bereitet, ist mein Rucksack, der in ein Flugzeug nach New York geladen wurde. Die Angestellte von Delta sagte, es sei unmöglich, ihn dort wieder herauszubekommen.

Weniger schlimm ist, dass ich keinen Fensterplatz bekommen konnte, insbesondere weil sich in jeder Rückenlehne ein Bildschirm befindet und man das Vorankommen des Flugzeugs am Bildschirm verfolgen kann. Endlich fliegen wir auf den Atlantik hinaus (# 1), wo wir die vorgesehene Reisehöhe und -geschwindigkeit erreichen und uns Berlin mit 937 km/h nähern.

5. Juni, 15 Uhr, Flughafen Tegel, Berlin

Frage am Lost-Luggage-Schalter von Air France nach. Was immer man mir gestern gesagt haben mag, mein Gepäck hat Baltimore nie verlassen. Das Problem ist jetzt, dass Air France nicht dafür bezahlen will, es mir nach­zuschicken, weil ich mit einem Delta-Ticket eingecheckt habe. Werde an Delta verwiesen, wo mir ein Angestellter mitteilt, Air France sei verantwortlich, weil ich mit Air France geflogen bin.

Aber das G8-Pressezentrum wartet nicht, bis Delta und Air France die Zuständigkeiten geklärt haben, also rufe ich Russell an, der mich mit einem Zugticket, einem Schlafsack und einem Handy versorgt und mich auf den Weg nach Bad Doberan schickt.

22.30 Uhr, Bad Doberan

Kiki hat freundlicherweise eine Unterkunft in Michaels wunderbar renoviertem Altbau für mich organisiert, ein Paradies für Fotografen, komplett mit drahtlosem Internetzugang, guter Gesellschaft und reichlich fließendem Rotwein.

Doch leider finde ich zwischen Wein und einem späten Abendbrot heraus, dass ich nicht nur die Ankunft von George W. Bush verpasst habe, sondern wahrscheinlich die besten Fotomotive überhaupt, weil sich die Dinge seit den rauen Straßenkämpfen am Samstag wieder beruhigt haben.

6. Juni, 10.30 Uhr, Kühlungsborn

Hole meine Akkreditierung ab, gehe zum Medienpool-Schalter im Pressezentrum, wo ich hoffe, einen oder zwei Pässe für Fotogelegenheiten beim Gipfel zu bekommen. Für die Jungle World gibt es keine Karte, aber zumindest kann ich die Action auf großen Fernsehbildschirmen verfolgen, während ich kostenlos esse und trinke, kostenlos telefoniere und kostenlos im Internet surfe.

Laufe rüber zum Restaurant und nehme Rührei und jede Menge Orangensaft für meine Erkältung. Lasse die Gesprächsrunde »Deutschland, Land der Ideen«/»Ein globaler Marshall-Plan« aus (# 2), gehe hinaus, um einen Blick auf den Pressebereich (# 3) zu werfen und wandere hinunter zum Pressestrand (# 4).

So schön der Pressebereich auch ist, ich will raus und mich umschauen. Aber Demonstranten haben ein paar der Hauptstraßen blockiert, und so gibt es keine Presse­shuttles zwischen Bad Doberan und Kühlungsborn. Der Pressebeauftragte teilt mir mit, die Fahrt sei zu gefährlich, und so stecke ich wohl in Kühlungsborn fest.

Rufe Air France an. Mein Rucksack ist in Berlin aufgetaucht, aber sie wollen, dass ich ihn selbst am Flughafen abhole. Ich erkläre, dass ein paar hundert Kilometer dazwischen liegen, und irgendwie willigen sie ein, ihn mir zu schicken.

17 Uhr

Wenn ich schon keine Fahrt im ­Shuttle bekommen kann, so sollte ich zumindest rausgehen und ein Fahrrad mieten. Stelle sicher, dass ich das Pressezentrum mit vollem Magen verlasse; lächle zum ersten Mal seit langem aus Freude (Notiz für mich: öfter Fahrradfahren!), als ich auf einem stattlichen Holland-Damenrad aus der Stadt und in unverzeichnetes Territorium fahre.

Treffe auf einen Polizeikontrollpunkt. Ich fahre etwas wacklig den Hügel hinauf, und der Polizist bittet mich abzusteigen, bevor er sich nach dem Zweck meiner Fahrt erkundigt. Für normale Menschen, die sich bloß mal umschauen wollen, ist die Straße gesperrt, aber Journalisten – zumindest solche mit einer G8-Akkreditierung, einem amerikanischen Pass und einem Presseausweis aus Baltimore – sind willkommene Gäste.

Fahre an Reihen von Mannschaftswagen der Polizei vorbei; erreiche schließlich eine Straße, an der Polizisten stehen und einen sehr schönen Blick auf De­mon­­stranten genießen, die im Abendlicht ein Feld überqueren.

Ein Demonstrant debattiert die Lage mit einem Polizisten und es könnte ein gutes Bild abgeben, aber als ich meine Kamera auf sie richte, wird der Demonstrant plötzlich sehr bedrohlich und verlangt, dass ich die Kamera herunternehme. Ich weiß nicht, was er mir in Gegenwart des Polizisten wohl tun will, aber ich gebe nach und gehe weiter. Ein Typ, der aussieht wie Jesus, geht vorüber. Oder zumindest sieht er so aus, wie ich mir vorstelle, dass Jesus aussehen sollte. Nach dem Problem mit dem fotoscheuen Demonstranten bin ich etwas unsicher, also beschließe ich, Jesus zu fragen, ob ich ihn fotografieren darf. Er reagiert mit einer Mischung aus Verwirrung und Misstrauen. Die anderen um ihn herum sind eindeutig misstrauisch, und ich gehe weiter, bevor ich den Unmut einer wütenden Menge auf mich ziehe.

Stoße auf Karsten, der auch bei Michael untergekommen ist. Er sagt, ich hätte so ziemlich alles verpasst, und fährt zurück nach Bad Doberan, während ich mich damit zufrieden gebe, Müll (# 5) zu sammeln und herumstehende Polizisten zu fotografieren.

Fahre zurück zum Pressezentrum, tröste mich mit einem guten warmen Abendessen.

22 Uhr

Ich soll mich bei Herrn Schaeper wegen der Poolpässe für morgen melden, aber er verschwindet ständig in irgendwelche Meetings. Hole meinen Beutel mit Präsenten ab (Handtuch, Frisbeescheibe (# 6), Nivea-Creme, Gummibärchen usw.); nehme das letzte Shuttle zurück nach Bad Doberan (entweder hat sie jemand angewiesen, alle Vorsicht fahren zu lassen, oder sie haben schließlich eine sichere Route nach Hause ausgearbeitet).

7. Juni, 9.45 Uhr, Kühlungsborn

Die Dame im Pressezentrum will wissen, wo ich den ganzen Morgen gewesen bin. Sie haben einen »Familienfoto«-Pass für mich reserviert, den ich im Zelt für den Pool-Check-in vielleicht noch bekommen kann, wenn ich mich beeile. Ich beeile mich. Kurze Zeit später bin ich stolzer Besitzer eines Nummer-9-Passes. Besteige die historische »Molli«-Bahn (# 7); fahre damit zum inneren Pressezentrum in Heiligendamm. Laufe eine halbe Stunde herum und warte darauf, zur Pool-Posi­tion gebracht zu werden. Merke mir die Schuhe der Poolleiterinnen (# 8); bereite mich darauf vor, ihnen zu folgen.

Seltsamerweise scheint niemand die Poolpässe zu überprüfen – all dieser Aufwand, und ich hätte wahrscheinlich einfach so reingehen können. Aber jetzt kann ich immerhin ein rechteckiges, nummeriertes Artefakt aus hochwertigem Plastik (# 9) mein eigen nennen.

Wandere mit den Poolkollegen durch den Wald zur Poolposition. Fotografiere Kollegen des Presse­pools (# 10); laufe und stehe herum, so dass meine Nachbarn besorgt sind, ich könnte ihr Bild verderben, wenn der große Moment kommt. Der große Moment kommt: Acht Führer der Welt stehen ein paar Schritte vor uns, geordnet nach den kleinen Flaggen auf dem Rasen. Sie schauen freund­lich, posieren lässig, als wenn sie dort während eines Spaziergangs gerade vorbeigekommen wären, gehen dann wieder.

Wir werden zur »Molli« zurückgeleitet, aber Demonstranten blockieren irgendwo die Gleise; also sitzen wir im Bahnhof fest. Zumindest werden wir gut versorgt, mit Gulaschsuppe und dem Großen Duden. So geht die Zeit schnell vorbei, und schließlich erfahren wir, dass wir per Boot nach Kühlungsborn zurückgefahren werden. Theoretisch könnte ich bleiben und versuchen, mich in einen anderen Pool zu schleichen, aber ich möchte wirklich eine Demonstration in vollem Gange sehen, also schließe ich mich der Führung zum Pier an und warte.

Die Boote sind klein, und ich stehe ungünstig in der Schlange. So dauert es eine gute Stunde, bis ich schließlich an Bord komme (# 11, # 12). Der Wellengang ist ziemlich stark, aber die deutsche Regierung hat – wie überall hier – jede Eventualität wohl bedacht und stellt uns einen reichlichen Vorrat an Kotztüten (# 13) zur Verfügung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich wirklich eine brauchen werde, aber nach einer halben Stunde bin ich doch froh, von Bord zu kommen.

Gehe zum Pressezentrum und meinem Fahrrad zurück. Rufe wegen meines Gepäcks an. Zuerst wollen sie wissen, warum ich es noch nicht abgeholt habe, aber dann sagt man mir, mein Rucksack sei auf dem Weg und am Ende des Tages bei mir.

Fahre auf einem Feldweg zum Sicherheitszaun, der den Bereich des Gipfeltreffens absichert; zeige neugierigen, aber freundlichen Polizisten meine verschiedenen Ausweise. Fahre ein paar Kilometer am Zaun entlang, bis ich auf eine Demonstration stoße. Es ist viel früher als gestern, trotzdem informiert mich Kiki, den ich dort treffe, dass ich die Action wieder verpasst habe.

Immerhin, einige Demonstranten sind noch da. Aber das Picknick scheint definitiv vorbei zu sein (# 14). Immer wieder höre ich Leute sagen, dies hier werde als das »Woodstock« dieser Generation im Gedächtnis bleiben, und heute sogar, wie sich zwei Polizisten, die ein Pärchen beobachten, das sich demonstrativ vor ihnen küsst (# 15) (der Kuss scheint ihre Demonstration zu sein), eine zukünftige Unterhaltung zwischen den Küssenden und ihren Kindern vorstellen: »Ja, Mami und Papi waren dabei, als … «

Fahre zurück nach Kühlungsborn. Herr Schaeper gibt mir zwei Pässe für morgen; erst später sehe ich, dass ich um 5.30 und 8.30 Uhr einchecken muss. Finde eine Fahrgelegenheit nach Bad Doberan. Nicht dass ich es anders erwartet hätte, aber mein Rucksack ist noch nicht da.

Sehe in den Spiegel. Trotz 20er-Sonnenschutz habe ich einen irrsinnig starken Sonnenbrand. Ich nehme den Beipackzettel meiner Antibiotika, die ich gerade nehme, und lese: »Langer oder exzessiver Aufenthalt in direktem oder künstlichem Sonnenlicht sollte während der Einnahme dieses Medikaments vermieden werden.« Hmmm. Notiz an mich: Hinweiszettel vorher lesen.

8. Juni, 10 Uhr, Bad Doberan

Ich habe beschlossen zu verschlafen, was sich als gute Entscheidung herausstellt: Michael saust mit dem Fahrrad vorbei, als ich auf dem Weg zum Bahnhof bin, und bremst lange genug ab, um mir atemlos zuzurufen, dass in einem Park in der Nähe etwas los ist. Endlich bin ich einmal nicht zu spät!

Vielleicht 1 000 Leute laufen herum, und eine Frauenstimme schallt über die Menge. Ich höre, wie sie die Teilnehmer beglückwünscht: »Wir haben die G8 blockiert.« Jubel brandet auf. » … ein Super-Erfolg.« Mehr Jubel. Ich behalte es für mich, aber ich bin mir nicht sicher, was sie blockiert haben, und dann das mit dem Erfolg, ich weiß nicht. Zählt mein Sonnenbrand auch dazu? Fotografiere Mitarbeiter des Hotels, die ’rausgekommen sind, die Demo zu beobachten (# 16).

Mann, sind viele schnippisch, wenn es darum geht, fotografiert zu werden. Ein verärgerter Typ belehrt mich, man habe zu fragen, bevor man jemanden fotografiert. Ich versuche, ihm zu erklären, dass er, wenn er durch seine Teilnahme an einem öffentlichen Ereignis öffentlich Stellung nimmt, da­rauf vorbereitet sein sollte, dass die Möglichkeit besteht, eventuell fotografiert zu werden. Er ist nicht überzeugt, aber ich versichere ihm, dass ich ihn nicht fotografieren werde.

Wer weiß, was heute mit den Bussen los ist, also suche ich etwas Schatten auf der Straße nach Kühlungsborn und halte zum ersten Mal seit Jahren den Daumen raus, in der Hoffnung, mitgenommen zu werden. Nur ein paar Minuten später nimmt mich ein holländischer Journalist mit und bringt mich zum »Camp Reddelich«, einem der drei Hauptcamps der Demonstranten.

Ich beschließe, wenn ich schon mal hier bin, ein wenig herumzulaufen und mir anzusehen, wie Woodstock à la 2007 aussieht. Aber nach ein paar Minuten werde ich von einem aufmerksamen jungen Mann mit Walkie-Talkie erwischt (vielleicht hat mich die Kamera über der Schulter verraten?) und gefragt, ob ich Journalist bin. Ich kann nicht lügen, und er bekommt einen Vorgesetzten ans Funkgerät: »Ich habe einen Journalisten gefunden, der hier herumläuft … Was soll ich mit ihm machen?«

Er eskortiert mich zum Pressezelt und erklärt mir, wie schlimm es war, ohne Erlaubnis ins Camp zu laufen. Ich weise ihn darauf hin, dass ich kein Schild gesehen habe, das Journalisten den Zutritt verboten hätte, dass ich aber eines gesehen habe, wonach Fotografieren verboten sei, was ich aufmerksam befolgt hätte. Er sieht mich schockiert an, als ob ich von Mord gesprochen hätte, bevor er mich in der prallen Sonne vor dem Pressezelt stehen lässt. Besteht ihr geheimer Plan darin, Journalisten sonnenverbrannt nach Hause zu schicken?

Ich ducke mich ins Pressezelt und warte eine Weile, obwohl mir nicht ganz klar ist, worauf. Ich frage mich, wie wohl mein Bild von Woodstock wäre, wenn man damals niemandem erlaubt hätte, Fotos zu machen. Trotz solcher kurzweiliger Gedanken ist es viel zu heiß im Zelt, also gehe ich zurück zur Straße und versuche mein Glück als Anhalter nach Kühlungsborn.

Eine Reporterin von AP, die normalerweise, wie sie sagt, keine Anhalter mitnimmt, macht in diesem Fall freundlicherweise eine Ausnahme und bringt mich bis zum Haupteingang des Pressezentrums. Bringe das Fahrrad zurück, rufe Air France an. Sie wissen nichts von einer Auslieferung und fragen mich, warum ich meine Tasche immer noch nicht am Flughafen abgeholt habe.

9. Juni, Berlin

G8 war heftig, und gestern kamen dann noch die heftigen Magenprobleme dazu. Ich schaffe es nach einem Besuch bei Thomas und seiner Familie (sorry, Thomas, dass ich dein Haus vollgekotzt habe) zum Zug nach Berlin. Dort angekommen fahre ich zu Russell, auf dessen Bett ich kollabiere. Bei meinem täglichen Anruf bei der Air France überschreite ich die Höflichkeitsgrenze, als sie mir sagen, dass ich mein Gepäck sofort haben kann, wenn ich zum Flughafen komme.

Schließlich geht der Delta-Mitarbeiter den Flur hinunter und überzeugt Air France, mein Gepäck zu Russell zu liefern. Delta versichert mir, dass es eine Beschwerde geben wird.

aus dem amerikanischen von martin schuster