Der Kampf um die Rote Straße

Das Studentenwerk will den letzten selbstverwalteten linken Wohnheimen in Göttingen die Verträge kündigen. Die Bewohner wollen sich dagegen wehren. von jan langehein

Das Haus Rote Straße 1 bis 5 stammt aus dem 18. Jahrhundert und liegt mitten in der Göttinger Altstadt. Es ist nicht einmal eine Minute von der Alten Aula, dem historischen Zen­trum der Universität, entfernt, aber zur Fachwerk­idylle seiner Umgebung mag es nicht recht passen: Hauseingänge und das Tor sind mit Plakaten zugepflastert, aus den Fenstern hängen Transparente mit Antifasymbolen und Politparolen, und wer durch die Einfahrt auf den Hinterhof geht, entdeckt dort ein Graffito, das einen grimmigen Autonomen vor brennendem Hintergrund zeigt.

Das Haus, in der linken Szene nur »Die Rote« genannt, ist das größte der selbstverwalteten Wohnheime, die es in Göttingen noch gibt; in sechs großen Wohngemeinschaften leben jeweils acht bis zehn Bewohner. Das Gebäude gehört dem Studentenwerk, aber auf dessen Homepage ist nicht die übliche Kontaktadresse für Einzugswillige zu finden, sondern nur eine lapidare Anmerkung: »Wer Interesse am Wohnen in diesen Häusern hat, muss sich direkt an einen der jetzigen Bewohner wenden.«

Tatsächlich hat das Studentenwerk derzeit kaum Einfluss auf die Belegung des Wohnheims; ein Kollektivmietvertrag sorgt dafür, dass die WGs über Ein- und Auszug selbst entscheiden, und so teilt die linke Szene die Rote Straße mehr oder weniger unter sich auf. Frei werdende Zimmer werden traditionell mit Linken besetzt. Neben den sechs WGs in der »Roten« gibt es in der Stadt verteilt noch einige weitere Wohnheime, für die ähnliche Regelungen gelten; insgesamt sind es über 100 Leute, die in den selbstverwalteten Häusern leben.

Die Kollektivmietverträge gelten teilweise seit über 30 Jahren und sorgen dafür, dass sich die Wohnheime zu Dreh- und Angelpunkten der Göttinger Linken entwickelt haben. Jetzt allerdings droht dieser Struktur das Aus. Das Studentenwerk hat angekündigt, die bisherigen Verträge zu kündigen und wieder Einzelmietverträge und Wohnzeitbegrenzungen einzuführen. Die sich sonst keineswegs immer einige linke Szene reagiert erstaunlich einträchtig auf diese Ankündigung: Auf einer Solidaritätsparty im »JuzI«, dem autonomen Zentrum Göttingens, waren mehrere hundert Gäste anwesend; auf den Gängen diskutierten sie leicht selbstironisch über eine Rückkehr des Häuserkampfes.

Dieser war es, der Göttingen Anfang der achtziger Jahre den Ruf einbrachte, eine Hochburg der Autonomen zu sein; neben Hamburg und Berlin galt die Stadt als eines der Zentren der Hausbeset­zerbewegung. Heute steht das Problem Wohnungs­not auf einmal erneut auf der Tagesordnung – wenn auch diesmal unter umgekehrten Vorzeichen. Es geht der Szene nicht mehr darum, Wohnraum zu erkämpfen, sondern darum, ihn zu behalten.

Die Bewohner der selbstverwalteten Häuser haben eine Kampagne ins Leben gerufen, mit der sie den Widerstand gegen das Ende der Selbstverwaltung organisieren wollen. Unter dem Motto »Here to stay – selbstverwaltete Strukturen verteidigen« fordern sie, bereits ergangene Kündigungen zweier Häuser im Universitätsviertel rückgängig zu machen und ansonsten den Status quo beizubehalten. Die Pläne des Studentenwerks bezeichnet Hannah Ehlers, Sprecherin der Kampagne, als »Angriff auf jahrelang gewachsene Strukturen und Versuch, die soziale Kontrolle zu forcieren«.

Tatsächlich würde das Studentenwerk mit den Kündigungen die Ergebnisse einer Auseinandersetzung revidieren, die den Häuserkampf der Autonomen damals ausgelöst hatte: Im Laufe der siebziger Jahre opferte die Stadtverwaltung eine ganze Reihe älterer Gebäude, die dem damaligen Städtebau-Ideal im Wege standen. Unter anderem sollte eine Kette von Gründerzeithäusern am Rande des Universitätsviertels dem vierspurigen Ausbau einer Durch­fahrts­straße weichen, und die Rote Straße 1 bis 5 mit ihren sechs Wohngemeinschaften sollte durch einen Neubau ersetzt werden. In beiden Fällen weigerten sich damals die Be­woh­ner, den Abriss zuzulassen; sie erreichten nach langen Verhandlungen den Erhalt der Häuser und setzten die Kollektivmietverträge durch, die das Studentenwerk nun kündigen will.

In der derzeitigen Auseinandersetzung geht es den Bewohnern nicht mehr um den Erhalt der Gebäude, den heute niemand mehr in Frage stellt. Es geht ihnen um ihren Lebensstil, der Wohnen und Politik miteinander verbinden soll. In ihrem Blog schreiben die Bewohner, durch Einzelmietverträge und Wohnzeitbegrenzung entstünden anonyme Wohnheime, die ihre Funktion als Treffpunkte zum Diskutieren und als Infrastruktur für die linke Szene verlören. Ohne die Häuser bestehe die Gefahr, »dass auch Göttingen zu einem studentisch geprägten Provinzkaff mit öde konformistischem Klima wird, wie dies in manch anderer einstmals ›linken Unistadt‹ schon längst geschehen ist.« Tatsächlich haben schon vorangegangene Kündigungen Lücken gerissen: Mit dem Kreuzbergring-Festival wurde eines der größten Göttinger Straßen- und Kulturfeste abgeschafft, nachdem das Studentenwerk dort mehrere selbstverwaltete Häuser aufgelöst hatte.

Bei deren Kündigung hatte es keinerlei Proteste gegeben, und vieles spricht dafür, dass das Studentenwerk auch diesmal nur mit einem einfachen Verwaltungsakt gerechnet hat. Die Überraschung muss deshalb groß gewesen sein, als sich die Kampagne »Here to stay« Ende Mai auf einer Antifa­demons­tration der Öffentlichkeit vorstellte und die Monopolzeitung Göttinger Tageblatt in ihrem Bericht darüber titelte: »Gegen Kapital und Studentenwerk«. Die Bewohner haben die Auseinandersetzung zum Politikum erklärt. »Jeden Eingriff in den Status quo betrachten wir als eine Verschlechterung unserer Wohn­situation, eine Verschlechterung, die wir nicht einfach hinnehmen werden«, heißt es im Rote-Straße-Blog.

Göttingen hat also wieder einen Häuserkampf, allerdings einen, der bislang nur mit Briefen, Verhandlungen und Flugblättern ausgetragen wird. Ob das so bleibt, hängt davon ab, was die Bewohner der selbstverwalteten Häuser mit ihrer Warnung meinen, die Kündigungen »nicht einfach hinzunehmen«.

Mit einem Häuserkampf im Sinne der Achtziger ist wohl kaum zu rechnen. In der Roten Straße sieht es derzeit auch noch nicht so aus, als wolle sich jemand verbarrikadieren; vielmehr laufen dort Vorbereitungen für ein Jubiläumsfest. Im August wollen die Bewohner die Rettung des Gebäudes vor 35 Jahren feiern – und damit auch 35 Jahre Selbstverwaltung. Klar ist, dass sie auch darauf anstoßen, im nächsten Jahr den 36sten begehen zu können. Und es ist eher unwahrscheinlich, dass das Studentenwerk zu der Party eingeladen ist.

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