Tödlicher ­Generalverdacht

Das europäische Visa-­Informationssystem von martin kröger

Die Vergabepraxis für Visa sei »zu scharf, zu rigide und wirtschaftsfeindlich«. Selten werden die Widersprüche im europäischen Visa-System derart freimütig in der Öffentlichkeit angesprochen. Hinter diesen Aussagen steht nun nicht, wie man vermuten könnte, ein zurecht besorgter Menschenrechtler oder ein Wirtschaftsliberaler, dem die Abschottung der Europäischen Union gegenüber den Menschen, die einreisen möchten, zu weit geht, weil damit billige Arbeitskräfte abgehalten werden. Nein, der hier spricht, ist der »Osteuropa-Experte« der deutschen Regierungspartei CDU im Bundestag, Georg Schirm­beck. Nun ist die CDU bisher noch nie mit Kritik an der europäischen Abschottung in Erscheinung getreten. Im Gegenteil. Und im konkreten Fall geht es lediglich um die strenge Vergabepraxis der deutschen Botschaft in Kiew. Wohlgemerkt, dieselbe Botschaft stand vor drei Jahren im Fokus der bürgerlichen Presse, weil dort angeblich eine zu großzügige Vergabe von Visa, bekannt unter dem Namen »Vollmer-Erlass«, praktiziert wurde.

Schirmbecks Analyse geht sogar noch um einiges darüber hinaus: »Ukrainische Studentinnen, Topmanager und Facharbeiter werden wie potenzielle Prostituierte und Kriminelle behandelt, selbst wenn sie Einladungen von namhaften deutschen Firmen vorweisen«, sagte Schirmbeck im Gespräch mit der Neuen Osnabrücker Zeitung. Also doch nur ein Konservativer, der nicht das ganze Visa-System in Frage stellt, sondern dem lediglich die Behandlung der ukrainischen Fachkräfte aufstößt und der sich Sorgen um »das Ansehen Deutsch­lands« macht. Dabei spricht Schirmbeck einen Punkt an, der dennoch bemerkenswert ist und der sich durchaus für die gesamte europäische Praxis der Vergabe von Visa verallgemeinern lässt: Wer hierherkommen will, wird zunächst als potenzieller Krimineller und Verbrecher angesehen – und dementsprechend behandelt.

Dass dem so ist, belegen nicht nur die tagtäglichen, oftmals tödlich verlaufenden Flücht­lingsdramen an der Süd- und Ostgrenze der Europäischen Union, denen nach Angaben von Menschenrechtsgruppen alleine im Mai 131 Menschen zum Opfer fielen. Wie stark der Generalverdacht gegenüber allen einreisewilligen Nichteuropäern die Politiker in der EU umtreibt, belegt ebenso der neueste Ratsbeschluss der europäischen Justiz- und Innenminister, der vorletzte Woche unter dem Vorsitz von Schirmbecks Parteifreund Wolfgang Schäuble in Luxemburg getroffen wurde.

Mit einigen neuen Gesetzen zum so genannten Visa-Informationssystem wird vom ersten Halbjahr 2009 an allen 27 EU-Mitgliedsstaaten und ihren Strafverfolgungs­behörden mög­lich sein, Informationen aus den Visa-Datenbanken abzufragen. Dabei wird es sich jedoch nicht um irgendwelche Datenbanken handeln, denn im »Schengen-Informationssystem II (SIS II)« sollen die Lichtbilder und Fingerabdrücke von 70 Millionen Antragstellern, die in den Schengen-Raum einreisen möchten, gespeichert werden. Wobei unter »Fingerabdrücke« zu verstehen ist, dass die Abdrücke aller zehn Finger abgenommen werden. Außerdem sollen biometrische Daten die Abdrücke ergänzen. Auch von Erbguterfassung, also DNA-Abnahme, ist die Rede. »Ziel ist es, einen modernen polizeilichen Informationsverbund aufzubauen, um europaweit wirksam gegen Verbrecher vorzugehen«, erläuterte Schäuble. Und gegen Terroristen.

70 Millionen Verbrecher und Terroristen? Der italienische EU-Justizkommissar Franco Frattini sagte da schon deutlicher, wer damit gemeint ist: Er sehe »ein neues praktisches Instrument für Konsulate und Grenzkontrollstellen, die die wichtigsten täglichen Nutzer sein werden«.