Das Erbe von Rot-Grün

Die Große Koalition, das Prekariat, die allerneueste Linke und was sie mit der früheren rot-grünen Koalition zu tun haben. von richard gebhardt

Wir dürfen nicht zulassen, dass die geistige Achse dieser Republik nach links verschoben wird«, rief Guido Westerwelle kürzlich auf dem Parteitag der FDP in die Fernseh­kameras. Der Generalsekretär der Partei, Dirk Niebel, entdeckte den agitatorischen Gebrauchswert einer alten Kampfparole der Konservativen und präsentierte den ideolo­gischen Ladenhüter »Freiheit statt Sozialismus« mit solch heiligem Ernst, als sei das Privatvermögen sämtlicher Herrenboutiquen­besitzer der Republik konfisziert worden.

Zur gleichen Zeit zelebrierten die Linkspartei und die Wasg ihre Vereinigung zur Partei »Die Linke« – ein Ereignis, das für allerlei Aufregung sorgte. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung erkannte in Oskar Lafontaine den »Vormann der neuen kommunistischen Partei«, eine von Bild am Sonntag in Auftrag gegebene Forsa-Studie bezifferte das Wählerpotenzial der Partei von Lafontaine, Bisky und Gysi auf satte 24 Prozent. Nicht nur die taz bemerkte eine Verschiebung im politischen Gefüge der Bundesrepublik und konstatierte: »Seit 1998 wählt die Mehrheit links der Mitte.« Zuvor hatte die Finanical Times Deutschland bereits über die »strukturelle Mehrheit links« räsoniert, ein Trugbild, das bereits in den Kommentaren nach der Bundestagswahl im Jahr 2005 Konjunktur hatte.

Wenig erfuhr man in diesen Tagen dagegen über die entscheidende Voraussetzung für den Aufstieg der Partei von Lafontaine, Bisky und Gysi: Der derzeitige Boom der Linken ist die Konsequenz des drastischen Rechtsrucks, den die »deutsche Linksregierung unterm Neo­liberalismus«, wie der Philosoph Wolfgang Fritz Haug die frühere rot-grüne Koalition umschreibt, in zentralen politischen und ökonomischen Bereichen durchsetzte. Die »neue« Linke rekrutiert sich aus West-Gewerkschaftern und Ost-Kümmerern aus der abgestoßenen Erbmasse des »rot-grünen Projekts«. Die Rede von einer »strukturellen linken Mehrheit« zeugt jedoch von der fehlenden Aufarbeitung des Scheiterns dieses Projekts, seiner Widersprüche und Defizite. Der Begriff unterstellt das Vorhandensein eines politischen Blocks, der tatsächlich nicht mehr ist als eine auf wahlstatistische Größen beschränkte Schimäre. Die Rede von der »linken Mehrheit« ist Ausdruck eines Unbehagens an der Politik der Zumutungen, die von der Großen Koalition fortgeführt wird.

Die Linke existiert ohnehin nicht. Was existiert, ist eine fortbestehende Anbindung an die Vorstellung eines »rheinischen Kapitalismus«, die sich politisch etwa in der Wahl von Jürgen Rüttgers (CDU) zum Ministerpräsidentenn von Nordrhein-Westfalen oder von Oskar Lafontaine zeigt. Die mit dem Aufbruch der »neuen« Linken verbundene Veränderung des deutschen Parteiensystems ist Konsequenz einer Umgruppierung, die durch den rot-grünen Absturz und die auf die Erosion des Sozialen folgende Krise der SPD als Volkspartei ermöglicht wurde. Die Entstehung einer neuen parlamentarischen Kraft links von der SPD ist ein Zeichen für die europäische »Normalität« der »Berliner Republik«.

Das sozialdemokratische Zeitalter

Für nicht wenige schien es eine Verheißung, das neue sozialdemokratische Zeitalter, jene Wiederkehr einer vom Soziologen Ralf Dahrendorf bereits Ende der siebziger Jahre für beendet erklärten Epoche. Es waren die Jahre ab 1997, als die SPD in Deutschland und »New Labour« in England ihre Wahlerfolge feierten, die »Neue Mitte« beschworen, der Boom der »New Economy« gefeiert und mit pathetischer Geste der »Dritte Weg« zur Erneuerung der sozialen Demokratie ausgerufen wurde.

In elf von damals 15 Mitgliedsstaaten der EU regierten Sozialdemokraten, in Deutschland stellten sie den Kanzler, den Bundespräsidenten und die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Strategiepapiere und Programmschriften versprachen den ökologisch-sozialen »Umbau« der Industriegesellschaft. Nur eine Minderheit verweigerte sich damals der rot-grünen Besoffenheit. »Helmut Schmidt ist zurück«, spottete anlässlich des Wahlsiegs von Schröder, Lafontaine und Fischer Jutta Ditfurth in einem Gastkommentar für diese Zeitung (Jungle World 40/98). In derselben Ausgabe hieß es über die zu erwartende Politik nach der Abwahl Helmut Kohls: »Flüchtlinge abschieben, Blauhelme entsenden, Sozialstaat verschlanken, Spitzensteuer senken – das ist der Abschluss einer Phase, die niemand so schön hätte beschreiben können wie ein taz-Journalist am vergangenen Montag: ›Unspektakulär geht eine Ära zu Ende, deren Zähigkeit Sozialdemokraten wie Intellektuelle, Autoren wie Journalisten zum Verzweifeln brachte.‹«

Doch die in diesen Kommentaren zum Ausdruck kommende Distanz kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht wenige Kritiker der rot-grünen Koalition auch Hoffnungen auf Fortschritte in ökologischen Fragen oder bei Änderungen des deutschen Staatsbürgerrechts hegten. Die Enttäuschung dieser Erwartungen – nach einer kurzen Phase, in der das Kindergeld erhöht wurde und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wieder hergestellt wurde –, fiel umso heftiger aus. Eine Regierung, deren Personal sich aus nicht wenigen einst linksradikalen Kadern rekrutierte, legitimierte, kaum im Amt, die Bombardierung von Belgrad. Lafontaines Rücktritt vom Amt des Finanzministers und Vorsitzenden der SPD im Jahr 1999 markierte für viele symbolisch den Bruch in der rot-grünen Koalition, ebenso wie sein Auftritt auf dem Vereinigungsparteitag von Linkspartei und Wasg von voriger Woche für den Neuanfang einer parlamentarischen Linken steht. »Hel­mut Schmidt ist zurück« – in Gestalt der zu seinen Zeiten sozialisierten Funktionäre und Wähler.

Die rot-grüne Koalition gehört längst der Vergangenheit an; ein großer Teil des einstigen Wählermilieus wurde durch die Krise der SPD politisch neu verteilt. Auffällig ist, dass eine ernsthafte Aufarbeitung der Bedingungen, unter denen Rot-Grün regierte, bislang ausblieb. Nicht nur die durch Anstrengungen des Layouters auf 500 Seiten aufgepumpten Memoiren Gerhard Schröders (»Entscheidungen – Mein Leben in der Politik«) dokumentieren die Gedankenarmut der damaligen Regierungsspitze. Das Programm des »rot-grünen Projekts« ging selten über längst fällige Vorhaben eines aufgeklärten Liberalismus hinaus, der dem verklärten Selbstbild und common sense der Bundesrepublik bereits unter Kohl entsprach. Statt der Durchsetzung dieser Vorhaben bot Rot-Grün programmatische Pendelschläge und Patchwork-Politik mit der Halbwertszeit der Telekom-Aktie. Auf die Aufhebung des Hedgefonds-Verbots und das Finanzmarktförderungsgesetz folgte später Münteferings »Heuschrecken«-Kampagne.

Erst schrittweise, dann immer brachialer vollzog die rot-grüne Regierung Brüche mit dem Wahlprogramm von 1998 und brüskierte barsch ihre Unterstützer im Lager der Gewerkschaften und abhängig Beschäftigten. Die Sozial­staatsrhetorik im Wahlkampf 2005 wirkte, als sei Bundeskanzler Schröder der Führer der Opposition gegen das eigene Kabinett geworden. Heute wirft der SPD-Vorsitzende Kurt Beck, der während der rot-grünen Koalition die Lohnarbeit zum Zeitpunkt ihrer Dezimierung durch die hochtechnologische Produktionsweise fetischisierte (»Arbeit! Arbeit! Arbeit!«), der Union »Neo­libera­lismus« vor. Der jetzige Bundes­umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) erteilt den Unterschichten Ernährungstipps – und keiner lacht.

Theorie- und Begriffslosigkeit kennzeichnen das rot-grüne Milieu. Auch Oskar Negt, Ulrich Beck, Jürgen Haber­mas und andere Stichwortgeber für die mediale Unterstützung der »Reformpolitik« ersparen dem Publikum die Aufarbeitung ihrer intellektuellen Mitregentschaft, etwa bei der ideologischen Aufladung der »humanitären Intervention« im Kosovo im Jahr 1999. Einen Nachhall findet das einstige rot-grüne Pathos nur dann, wenn die Diskrepanz zwischen menschenrechtlicher Rhetorik und staatstragender Realpolitik thematisiert wird. »Meisterdenker« wie der Soziologe Ulrich Beck träumen stattdessen in der Zeit schon wieder von einem neuen sozialdemokratischen Zeitalter.

Worüber geschwiegen wird, ist, wie klein die Basis für Rot-Grün bereits ein Jahr nach Amtsantritt war und wie die Regierung Schröder primär durch äußere Faktoren wie die Spendenaffäre der Union (»Kohl saniert Schröder« titelte der Spiegel 1999) gerettet werden konnte. Als Schröder das Wasser bis zum Hals stand, rettete ihn die Oderflut, die Ausrufung eines »deutschen Weges« vor dem Irak-Krieg war sein vielleicht geschicktester wahlstrategischer Coup.

Fördern, fordern, überwachen und strafen

Ulrich Becks jüngstes Plädoyer für eine »weltbürgerliche Linke« beinhaltet ein schönfärberisches Bild von den »Agenda«-Reformen, gegen deren Zumutungen Lafontaines Linke als Repräsentantin einer gesellschaftlichen Sperrminorität auftritt. Sie ist eine in diesem Punkte wichtige Partei, in der vom herrschenden Diskurs abgehängte Gruppen ihr Sprachrohr finden. Und diese Gruppen sind für Wahlerfolge entscheidend. Bereits in der Spätphase des Wahlkampfs 2005 war die Zeit vorbei, in der die öffentliche Meinung jedes Mantra nachbetete, das Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut vorgab.

Doch die der Wirtschaft nahe stehenden Zitierkartelle wirken weiter in den Medien. Die Linken in den Gewerkschaften gelten nach wie vor als anachronistische »Besitzstandswahrer«; eine Verkehrung der Verhältnisse, sind doch die Vorstellungen, die der als »Innovationsschub« gefeierten »Agenda 2010« zu Grunde liegen, weit über 100 Jahre alt. Eine penetrante Vulgär-Neoklassik durchzieht weiterhin die Leitartikel in Zeit, Handelsblatt oder im Wirtschaftsteil der FAZ – fast so, als wären in alten Ausgaben aus dem Zeitungsmuseum nur die Daten vertauscht worden.

Der vom rot-grünen Milieu inszenierte freiheit­liche Diskurs der Zivilgesellschaft enthüllte seinen zentralen Inhalt in den harten und unsozialen »Agenda«-Reformen. An die Stelle des sozialen Netzes trat ein Fakirbrett, das Erwerbslose mit mannigfachen Repressalien kujoniert: durch die Aufhebung des Bankgeheimnisses, die Androhung von Arbeitszwang und Verfügbarkeitsregelungen, die Residenz- und Mitwirkungspflicht, durch Kontrollbesuche und -anrufe, die programmierten Privatinsolvenzen nach Verbrauch des verbliebenen »Schonvermögens« und einen immensen Papier- und Kontrollaufwand, der von den »Agenda«-Befürwortern, die vorgaben, Gegner der Bürokratie zu sein, aufgeblasen wurde.

Noch in den letzten Monaten von Rot-Grün griffen die Mitarbeiter von »Superminister« Wolfgang Clement für die Erstellung einer Broschüre zum Thema »Sozialmissbrauch« zum Wörterbuch des Unmenschen und bezeichneten ungerechtfertigte Leistungsbezieher als »Parasiten«. Hartz IV ist nicht nur Armut per Gesetz, sondern die faktische Aufhebung der beschworenen Freiheits- und Bürgerrechte durch die Kontrollgesellschaft. Das Resultat ist die Schaffung neuer Parias und ein desavouierter Freiheitsbegriff.

Prekariat und »Neue Mitte«

Die sozialstrukturelle Hinterlassenschaft von Rot-Grün ist das »abgehängte Prekariat«, welches medial wirksam zu Beginn der Großen Koalition entdeckt wurde. Jene Sammelbezeichnung für eine diffuse Masse, die durch die Angebotspolitik produziert wurde, ist eine wesentliche Bezugsgröße der Linken. Nach dem Absturz der New Economy wurde auch manchem in der SPD klar, dass die »Neue Mitte« eher eine nebulöse Konstruktion denn eine eindeutig bestimmbare sozialstrukturelle Größe war. Spätestens seit dem Sieg von Rüttgers im nordrhein-westfälischen Wahlkampf im Mai 2005 zeigte sich, welche Größe entscheidend sein wird: die abhängig Beschäftigten und vom Sozialstaat alimentierten Rentner und Arbeitslosen.

Wer um diese Klientel konkurriert, muss erkennen, dass dort materielle Interessen verhandelt wer­den und linke Essentials nicht im Mittelpunkt stehen. Das Prekariat eignet sich nicht für projektive Aufladungen. Zu unklar bleibt, wie dieses heterogene Spektrum politisiert werden kann. Prekär ist nicht nur der Klassenstatus jenseits von Sozialversicherung und Krankenkasse, brüchig ist auch die Zusammensetzung dieses Scheinsubjekts, bestehend aus der »digitalen Boheme«, proletarisierten Auftragskünstlern, Handyverkäufern und Malochern, die im Baumarkt an der Säge stehen. Was diese abstiegsgefährdeten Lohn­abhängigen, die schwankende Mittelschicht oder prekarisierten Rentner und Arbeitslosen politisch kennzeichnet, ist eine diffuse, auch aus den USA bekannte Ungreifbarkeit. Den konservativen Strategen steht dieses Konglomerat, deren parlamentarischer Repräsentant zum Teil die Linke ist, im Weg. Rüttgers aber gelang es erstmals, es einzubinden.

Die rechte Contra

Zu den Phantasmen des bürgerlichen Lagers zählt der gegen Lafontaine & Co. gerichtete Vorwurf, sie stellten ernsthaft die Systemfrage. Ein bizarrer Anwurf angesichts einer Linken, die von Morales & Chávez schwärmt, doch programmatisch etwa beim Spitzensteuersatz unter das Niveau von Helmut Kohl fällt. Tatsächlich forderte die größten gesellschaftlichen Veränderungen hingegen die rechte Contra, das Netzwerk von Spiegel, Springer, FAZ, Bertelsmann-Stiftung und Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.

Eine Sperrklinke gegen das angekündigte »Durchregieren« war bislang der deutsche Strukturkonservatismus, der radikalere Brüche wie in England zur Zeit von Margaret Thatcher erschwert: die Sozialpartnerschaft der streikfaulen deutschen Gewerkschaften mit dem Kapital; der deutsche Korporatismus mit den vielfältigen Verflechtungen, der Föderalismus mit dem Vetorecht des Bundesrats. Der daraus resultierende »Reformstau« sollte aufgelöst werden, aber das Gegenteil war der Fall. Bald bildete sich unter Rot-Grün jenes informelle Dispositiv aus Politikern und Experten heraus, das in den zahllosen Konsensgesprächen der Entscheidungsträger, in der Hartz-Kommission zur Arbeitsmarktreform, der Rürup-Kommission zur Sicherung der Sozialsysteme, der Süssmuth-Kommis­sion zur Zuwanderung oder als »Bündnis für Arbeit« Kompromisse aushandelte. Die Große Koalition tagte schon zu Zeiten, als noch rot-grüne Hoffnungen herumgeisterten.

Dieser Korporatismus, von dem auch die neue parlamentarische Linke nur ver­schluckt oder ausgestoßen werden kann, ermöglichte neue Ämterkarrieren, die eindrucksvoll belegen, wie vulgärmarxistisch die Wirklichkeit sein kann: Der »Superminister« Wolfgang Clement, im Amte mit der Ausweitung der Zeitarbeit befasst, wurde Direktor des Think-Tanks Adeco-Institut, der zu einem führenden Zeit­arbeitskonzern gehört. Bodo Hombach, einst Bundesminister für besondere Aufgaben, wurde Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe, Wirtschaftsminister Werner Müller Manager und Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG, der RAG Aktiengesellschaft und der Degussa. Der ehemalige Kanzler Schröder ging zu Gazprom. Es gibt kaum einen prominenten »Reformer«, der durch seine Politik der Zumutungen nicht auf Gold gestoßen wäre.

Die rot-grüne Koalition war die Voraussetzung für die Paralysierung des temporär aufflammenden Widerstands gegen Kriegseinsätze und Sozial­abbau. Durch die »Agenda«-Politik wurde die »neue« Linke nur gegen das einst mit »links« identifizierte »rot-grüne Projekt« möglich. Zurück blieb neben dem stabilen grünen Bürgertum eine frei zirkulierende, schwankende politische Größe. Dass Linke und Rechtspopulisten ein identisches, vor allem von der »Agenda«-SPD freigesetztes Wählerpotenzial umwerben, erklärt zum Teil die reaktionären Tendenzen, die die Neuformierung der parlamentarischen Linken begleiten und auch in den ihr vorausgehenden sozialen Bewegungen anzutreffen waren. Mal sehen, wie die neue Linke diese Klientel umwirbt. Lafontaine hat bereits mehrfach einen Vorgeschmack darauf gegeben, wie die Linke, deren Parteineugründung Gy­si zufolge der letzte Akt im Vollzug der deutschen Einheit sei, agieren kann. Es war in den bekannten Fällen ein höchst entbehrliches Erbstück, das Rot-Grün der Linken hinterlassen hat.