Ich will 40 Stunden!

Heutige Arbeitsverhältnisse sind so ungeregelt wie nie zuvor. Doch statt der Befreiung von den Zwängen der Lohnarbeit brachte das die Prekarisierung mit sich. von christoph villinger

Als das Schlimmste überhaupt galt die Aussicht auf eine geregelte Berufstätigkeit für die nächsten 45 Jahre, jeden Tag von 9 bis 17 Uhr. Immer das Gleiche, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Zwar konnte man auf eine passable Rente hoffen. Doch wartete am Ende nicht auf alle der Tod, egal ob man sich anpasste oder sein Leben genoss?

Deshalb rebellierten seit Mitte der siebziger Jahre Millionen von Menschen in diesem Land gegen das fordistische Lebensmodell, brachen Schule und Ausbildung ab und experimentierten mit neuen Le­bensformen jenseits von geregelter Lohnarbeit, Leistung und Kleinfamilie. Rund 20 Prozent der jungen Erwachsenen rechnete die berühmte Shell-Jugendstudie von 1980 diesem alternativen Milieu zu, man befürchtete fast schon den Zusammenbruch des Kapitalismus. Wer Geld brauchte, ging »jobben«, mit dem Einkommen von drei Monaten Arbeit in der Fabrik kam man halbwegs übers Jahr.

In jener Zeit bekam man problemlos unbefristete Arbeitsverträge, die man, für die Chefs völlig unverständlich, nach wenigen Monaten wieder kündigte. Noch vor zehn Jahren konnte man sich mit selbst erfundenen »BSHG 19-Stellen« oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zumindest den Grundstock für ein dauerhaftes Auskommen organisieren.

Heutzutage haben nur noch 44 Prozent des »Erwerbskräftepotenzials«, also aller, die arbeiten oder arbeiten würden, wenn sie könnten, nach einer Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung einen festen, unbefristeten und sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz, der sie zudem noch gut ernährt. Haben also die »Alternativen« gewonnen? Verweigern sich 56 Pro­zent der »Erwerbskräfte« einer lebenslangen kapitalistischen Ausbeutung? Oder ist ihnen das, was damals als Verweigerung und Befreiung galt, im weiter entwickelten Kapitalismus in Form von »flexibilisierten Arbeitsverhältnissen«, von denen man kaum mehr leben kann, auf die Füße gefallen?

Ohne Zweifel gelang es den verschiedenen sozialen Bewegungen seit Mitte der siebziger Jahre, das »Modell Deutschland« aufzubrechen. Man benutz­te staatliche Sozialleistungen und die für männliche Familienoberhäupter vorgesehenen Löhne, um sich arbeitsfreie Zeit zu erkämpfen. Doch bereits zu Beginn der achtziger Jahre begann die Kohl-Regierung, die Möglichkeit, Sozialgeld zu beziehen Schritt für Schritt zu erschweren. Gleichzeitig fand mit dem Einsatz von Computertechnologie die dritte industrielle Revolution statt, die einige Berufe, von der Sparkassenangestellten bis zum Setzer einer Zeitung, schlichtweg überflüssig machte.

Noch Mitte der achtziger Jahre wurden alle bürgerlichen Zeitungen in Berlin per Bleisatz gesetzt. Ausnahmen waren linke Zeitungen wie die taz, die sich undogmatisch und ohne Widerstand der Gewerkschaften mit den neuen technischen Hilfsmitteln anfreunden konnten. Gerade im alternativen Milieu entwickelten sich viele Träger und Trägerinnen der neuen »flexibilisierten« Arbeitswelt. Das Bedürfnis nach »Eigenverantwortung« kehrte kapitalistisch ver­fasst zurück als »Ich-AG« und neue Selbständigkeit.

In den Fabriken standen die Arbeiter und Arbeiterinnen auf einmal wegen der »Globalisierung« genannten weltweiten Entwicklung mit ihren für ein Zehntel des Lohnes arbeitenden Kolleginnen und Kollegen in Brasilien in Konkurrenz. Da heutzutage etwa der Transport einer Flasche Wein von Argentinien nach Deutschland nur acht Cent kostet, spielt es nahezu keine Rolle mehr, wo etwas pro­­duziert wird. So verlagerte das Kapi­tal eine Produktionsstätte nach der ande­ren in die so genannten Billiglohnländer.

Und auf dem Bau tauchten spätestens seit dem Fall der Mauer zahlreiche Konkurrenten von östlich der Elbe auf. Ähnlich wie früher deutsche Jugendliche bei der Weinernte in Südfrankreich, ackerten sie zeitlich befristet zwölf Stunden am Tag, um sich mit dem verdienten Geld zu Hause eine Existenz aufzubauen. Als Folge näherten sich die Löhne auf dem Bau in Deutschland denen in Polen an. Statt gemeinsam mit den Arbeitsmigranten Mindestlöhne und -standards wie in den meisten anderen europäischen Ländern durchzusetzen, wollten die meisten Lohnabhängigen hierzulande die Konkurrenten lieber ausgrenzen.

Diese Entwicklungen, die lebenskultu­rellen Angriffe von »unten« und die klassenkämpferischen Angriffe von »oben«, führten dazu, dass die klassischen Organisationen der lohnabhängig Beschäftigten wie die Gewerkschaften heute beinahe ohnmächtig sind. Jüngstes Beispiel ist das Outsourcing von 50 000 Arbeitsplätzen bei der Telekom.

Im Ergebnis jobbt man heutzutage nicht mehr drei Monate, sondern zwölf Monate im Jahr – ohne Urlaub. Es ist nicht mehr die eigene Entscheidung, ob man diesen oder jenen Job machen möchte, vielmehr zwingen die ökonomischen Verhältnisse einen dazu, fast alle Angebote anzunehmen. So layoutet man tagsüber auf Honorarbasis Werbebroschüren, um abends in einer Kneipe zu bedienen. Das Phänomen der working poor, das man zuvor nur aus den USA oder aus süd­europäischen Ländern kannte, ist auch in Berlin angekommen.

Sogar die sozialdemokratische Friedrich-Ebert-Stiftung entdeckte im vorigen Jahr die »Neue Unterschicht« und das »Prekariat«. Dazu gehören zum einen jene etwa acht Prozent der Bevölkerung, die wegen geringer Bildung keinen Job mehr finden. Zum anderen zählen aber auch viele akademisch Ausgebildete dazu, die weniger als 938 Euro monatlich netto verdienen und damit unter der so genannten Armutsgrenze liegen. Voller Hoffnung auf einen Job, den hin und wieder einer von ihnen ergattert, streiten sie sich um schlecht oder gar nicht bezahlte Praktikumsplätze. Von gewöhnlichen Sekretärinnen oder Sekretären verlangen die Unternehmer mittlerweile häufig ein abgeschlossenes Studium und bieten dafür allenfalls einen auf zwölf Monate befristeten Vertrag. Die Verunsicherung hat längst auch die Mittelschichten erreicht.

Von Dieter Althaus (CDU), dem thüringischen Ministerpräsidenten, über Götz Werner, den Chef der Drogeriekette DM, bis zu Katja Kipping von der Linkspartei finden sich Befürworter des seit über 25 Jahren von undogmatischen Linken geforderten Grundeinkommens. Sie sind der Meinung, dass das gesellschaftliche Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich auf andere Weise nicht mehr aufzuhalten sei. Kritiker vermuten, ein solches Grundeinkommen würde vielmehr zum vollständigen Abbau der letzten Reste des Sozialstaats benutzt werden.

Einer der wenigen zaghaften Versuche, sich der aktuellen Situation entsprechend zu organisieren, sind die inzwischen in vielen Ländern stattfindenden jährlichen Euromayday-Paraden. Hier soll »den verschiedenartigsten Formen von Prekarisierung in Arbeit und Leben, die durch die klassischen Institutionen der Arbeiterbewegung und der Linken nicht (mehr) organisiert werden können, ein Ausdruck gegeben werden«. In Anlehnung an Edward P. Thompsons »Entstehung der englischen Arbeiterklasse« geht es erst einmal darum, sich der Zugehörigkeit zum akademischen Proletariat bewusst zu werden und dann gemeinsam als soziales Subjekt zu handeln. Und von anderen Dingen zu träumen als von gut bezahlten, festen Jobs.