Das große Multikulti-Chaos

Wie weiter mit der Integration? Mehrere türkische Verbände boykottierten den ­»Integrationsgipfel«, türkische Zeitungen werfen den Deutschen Rassismus vor. Von Burkhard Schröder

Der »Integrationsgipfel« am 12. Juli sei »ein Meilenstein in der Geschichte der Integrationspolitik« gewesen, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Treffen. Wolfgang Schäuble meinte: »Es gibt aber unterschiedliche Stufen der Integrationsbereitschaft.« Auf den unteren Stufen dieser Bereitschaft stehen offenbar die Türkische Gemeinde, die Föderation türkischer Elternvereine, die Türkisch-Deutsche Gesundheitsstiftung und die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Ditib), letztgenannte eine Art Tarnfirma des türkischen Religionsamtes. Sie haben den Gipfel in der vorigen Woche boykottiert und die gut deutsche Attitüde der beleidigten Leberwurst kultiviert. Sie verlangten, dass das neue Zuwanderungsgesetz, das in Kürze in Kraft treten soll und den EU-Richtlinien entspricht, geändert werden soll.

Unter anderen Vorzeichen war das alles schon mal da. Um 1890 war Wiarus Polski die größte polnische Zeitung im Ruhrgebiet, ein Blatt für praktische Lebenshilfe und ideologisch weitaus harmloser als Hürriyet heute. Nachdem fast 1 000 polnische Vereine von den deutschen Behörden drangsaliert und sogar verboten worden waren, wurde Wiarus Polski radikal nationalistisch und witterte überall die Germanisierung. Die Klientel empfand das so und wollte es auch so hören. Heute zeiht Hürriyet Merkel des »glatten Rassismus«, und die türkische Zeitung Sabah höhnt, es handele sich um »Integration mit zwölf Leuten statt 2,5 Millionen«.

Ist das wirklich so? Und was ist eigentlich Integration und zu welchem Ende wird sie betrieben? Ulrich Herbert hat das in seinem klugen Buch über die »Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland« knapp formuliert: »Tatsächlich aber wird die Debatte um den Zuzug von Ausländern in Deutschland seit etwa 120 Jahren unter den im wesentlich gleichen Fragestellungen und mit den gleichen Frontlinien geführt.« Wo also geht’s zur Front?

Integration bedeutet: Die Ware Arbeitskraft soll dem Markt potenziell uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Die große Illusion ist: Einwanderung, also die Mobilität von Menschen, sei politisch, ökonomisch und juristisch steuerbar. Dieser Fiktion unterliegen beide »Parteien«: Nationalistische Lobbyisten wie Wolfgang Schäuble denken irrig, man könne durch Vorschriften das eherne Gesetz des Kapitalimus außer Kraft setzten: dass die Ware Arbeitskraft dorthin geht, wo es Arbeit gibt. Wer hingegen die Grenzen in Europa niederreißen will, argumentiert moralisch hochwertig, löst aber kein Problem und keinen Konflikt.

Merkel betreibt ausschließlich Innenpolitik. Es gilt, die eigene Klientel bei der Stange zu halten in Fragen der Weltanschauung. Ein Beispiel: Ehegatten können künftig erst im Alter von 18 Jahren nach Deutschland nachziehen. Sie müssen Deutschkenntnisse nachweisen. Merkel und die Integrationsanhänger argumentieren: Minderjährige und zwangsverheiratete Bräute, die kein Wort Deutsch sprechen, müssen jetzt draußen bleiben.

Kenan Kolat, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, klagt, dass man die Verbände der türkischen Einwanderer gar nicht gefragt habe. Das Zuwanderungsgesetz unterscheide »Menschen nach der Staatsangehörigkeit«.

Beide Standpunkte sind richtig. Die Industrie sucht keine unqualifizierten Arbeitskräfte. Sie kann und wird die Politik Merkels unterstützen, also Zwangsbildung, Zwangssprachkurse, Deutsch­tests, Kulturtests, Demokratietests. Die neuen Deutschen, türkische und andere Einwanderer, haben primär andere Interessen: Die oft nur eingebildete »Identität« des Herkunftslandes, Religion, Folklore, eine oft eher archaisch an­mutende Haltung zur Geschlechterfrage bilden die »Heimat in der Fremde«, wie Ethnologen das nennen. Türkische Einwanderer sind in Deutschland oft strenger muslimisch als in der Türkei.

Eins ist unstrittig und gut: Diese gut gemeinten inhaltslosen »Gipfel« halten das Thema Einwanderung im öffentlichen Diskurs. Die Lebenslüge der Deutschen, vor allem aber der Christdemokraten in der Ära Helmut Kohls, war die Behauptung, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Die Lebenslüge der paternalistisch gesinnten Pro-Ausländer-Fraktion, man müsse den hilflosen Flüchtlingen helfen, hingegen war eine Art kollektives Krankenschwester-Syndrom nach Art der höheren Töchter, die früher Heime für gefallene Mädchen gründeten. Der Boykott der türkischen Verbände ist gut, weil er eindeutig demonstriert, was falsch läuft: Die Betroffenen wurden bei der Ausarbeitung der Zuwanderungsgesetze nicht gefragt.

Der Boykott ist schlecht, weil er suggeriert, dass die Boykottierenden die authentischen Verfechter der Interessen der türkischen Einwanderer seien. Die eigentlich interessanten Fragen müssen sich sowohl Deutsche als auch Immigranten stellen, tun das aber noch nicht kontrovers und vehement: Wer ist deutsch? Was bedeutet in der Praxis, dass Staat und Kirche sowohl in der Türkei als auch in Deutschland laut Gesetz getrennt sind? Darf es Religionsunterricht in der Schule geben? Kann man die Nation wechseln wie die Staatsbürgerschaft? Fragen, die im innenpolitischen Streit in der Türkei so aktuell sind wie hierzulande.

Die grüne Fraktionsvorsitzende Renate Künast bemängelt, dass der »nationale Integrationsplan« vage und unverbindlich sei, die schärferen Einwanderungsgesetze jedoch ganz real. Das Argument trifft nicht ganz das Thema: Integration bedeutet in Zeiten der Großen Koalition eine Art Selbstethnisierung der Gesellschaft. Die deutsche Industrie bekennt sich »zur ethnischen Vielfalt« als Einstellungskriterium. Der Bund wird vermehrt Zuwanderer in seiner Verwaltung beschäftigen. Gibt es also demnächst eine Quotenregelung für Südländer beim Einwohnermeldeamt? Mindestens zehn Prozent Afrodeutsche als Nachrichtensprecher im Fernsehen? Und wem wäre damit geholfen?

Integration frei nach Merkel hat etwas sehr Strenges und Protestantisches. Der kollektive Schwur von Berlin lautet: Wir verpflichten uns, lieb zu den Immigranten zu sein. Nie wieder Diskriminierung, nie wieder Rassismus. Konventionalstrafen sind nicht vorgesehen. Jeder Bürger in Deutschland solle die gleichen Chancen auf Bildung, Entwicklung und damit auch auf Wohlstand haben, sagt Merkel. Auch das ist eine große Illusion und eine Lüge ohnehin: Bildung garantiert heute keinen Arbeitsplatz mehr. Und Entwicklungshilfe nützt bekanntlich dem Entwickler immer mehr als dem zu Entwickelnden und ist purer Egoismus. Das gilt auch für Entwicklungshilfe im Innern, Integration genannt. Das gute Gewissen, etwas getan zu haben, wird gratis mitgeliefert.

Die türkischen Verbände, die sich diesem schönen Traum verweigern, schenken ihrer Klientel damit unfreiwillig reinen Wein ein. Wer glaubt, die Zukunft werde schön und gut, weil er oder sie Deutsch spricht, die Genderfrage korrekt behandelt und die Sharia abscheulich findet, der irrt und hat Flausen im Kopf.

Die Borg aus der Serie »Star Trek« wurden übrigens zum Integrationsgipfel nicht eingeladen. Sie hätten das Motto zweifellos so formuliert: »Sie werden assimiliert. Widerstand ist zwecklos.«