Wählen mit UN-Logistik

In Osttimor fanden Ende Juni die ersten Par­lamentswahlen seit der Unabhängigkeit 2002 statt. Beobachtungen aus den Wahllokalen und den Straßen des jüngsten und ärms­ten Landes Südostasiens von gilles bouché

»Wieso ausgerechnet nach Viqueque?« fragt mich Gaspar, ein junger Student der Nationalen Universität in der Hauptstadt Dili. Er selbst besucht seine Familie und hat gehofft, bei den Wahlen als Übersetzer zu arbeiten. »Aber die sagen mir, sie haben genug«, klagt er in seinem etwas holprigen Englisch. Alle 50 Meter bremst unser Kleinbus scharf ab, um Schlaglöchern auszuweichen. Wir halten uns aneinander fest. Ohne Scheu vor Berührungen, aber zugleich sanft und respektvoll.

Spätestens seit den tödlichen Schießereien Anfang Juni gilt der Distrikt von Viqueque als problematisch. Während einer Wahlkundgebung erschoss ein Anhänger der Regierungspartei Frente Revolucionária do Timor-Leste (Fretilin) mit drei Kugeln Alfonso Guterres, ein Mitglied des Nationalen Kongresses zum Wiederaufbau Osttimors (CNRT). Bei seiner Beerdigung am folgenden Tag wurde ein weiterer Anhänger des CNRT getötet. Das australische Fernsehen zeigte Bilder, die Erinnerungen an die Ausschreitungen im vergangenen Jahr weckten (Jungle World 23/06). Damals bekämpften sich Einheiten der Polizei und der Armee, rund 30 Menschen wurden dabei getötet. Auch wenn die befürchtete Eskala­tion diesmal ausblieb, gilt die Sicherheitslage weiterhin als ungewiss. »Hier in Osttimor weiß man nie. Wenn am Samstag irgendwo die Häuser brennen, dann in Viqueque«, meint Miad, ein langjähriger Expat, der mich in Dili vor den Verhältnissen in der Stadt gewarnt hat. Wegen seiner Aura der Gefahr ist der südöstliche Distrikt unter sensationslustigen malais, wie man hier ein wenig spöttisch die Ausländer nennt, längst bekannt. Meinem einheimischen Mitfahrer verschweige ich lieber, dass ich mich nach Viqueque begebe, sechs anstrengende Busstunden von Dili entfernt, um die Parlamentswahlen zu beobachten.

Bereits zum dritten Mal in diesem Jahr gingen Ende Juni die Timoresen zur Wahl. Im April hatten sie in zwei Wahlgängen José Ramos-Horta als Nachfolger von Xanana Gusmão zum Staatspräsidenten gewählt (Jungle World 16/07).

Als Portugal sich 1975 aus seinen Kolonien zurückzog, war Osttimor für kurze Zeit unabhängig, bevor die indonesische Armee das Land besetzte. Es folgte eine Zeit brutaler Unterdrückung, an deren Folgen schätzungsweise 200 000 Menschen starben, die meisten an Hunger, nachdem sie von ihren Feldern vertrieben worden waren. Die 1974 als marxistische Partei gegründete Fretilin, die inzwischen längst sozialdemokratisch geworden ist, war die führende Kraft in einem Guerillakrieg, der 1999 zum Abzug der indonesischen Truppen führte. Bei den anschließenden Wahlen, die noch unter der Übergangsregierung der UN stattfanden, gewann die Fretilin eine deut­liche Mehrheit und stellt seitdem die Regierung des jüngsten und ärmsten Landes Südostasiens. Inzwischen hat sich die politische Landschaft verändert.

Der Wahlerfolg der ehemaligen Befreiungs­bewegung konnte diesmal nicht wiederholt werden, ihre Regierungsbilanz nach fünf Jahren ist ziemlich ernüchternd. Trotz vierjähriger Uno-Präsenz herrscht im Land politisches Chaos. Seit den Unruhen vom Mai vergangenen Jahres leben mehr als 100 000 Menschen, aus Angst vor Über­griffen oder weil ihre Häuser zerstört wurden, in Flüchtlingslagern.

Die Krise im vergangenen Jahr schwächte die Fretilin-Regierung und zwang Premierminister Mari Alkatiri zum Rücktritt, mehrere Opposi­tions­parteien gewannen an Einfluss, insbesondere der wenige Monate vor der Wahl neu gegründete CNRT unter dem charismatischen, als Nationalheld geltenden Xanana Gusmão, der nach dem Ende der indonesischen Besatzung zum ersten Präsidenten Osttimors gewählt wurde und sich als Alternative zur Fretilin-Partei präsentierte.

Nachdem die Auszählung der Stimmen in der vergangenen Woche beendet worden ist, steht nun fest, dass keine Partei ein Ergebnis erzielte, das sie zur Regierungsbildung prädestinieren würde. Die Fretilin konnte sich mit 29 Pro­zent zwar als stärkste Kraft behaupten, allerdings verlor sie 25 Prozent und damit die absolute Mehrheit, mit der sie das Land seit 2002 regiert hatte.

Der Distrikt Viqueque, in dessen Zentrum die gleichnamige Stadt liegt, befindet sich auf der Südseite einer Gebirgskette, die Osttimor durchzieht und an der sich die feuchte Meeresluft abregnet. Während im staubigen Dili die Trockenzeit bereits begonnen hat, findet sich im Süden noch immer das satte Grün von Regenwald und Reisfeldern. Starke Regenfälle haben Brücken und Straßen überschwemmt. Manche abgelegenen Dörfer können nur noch mit Hubschraubern erreicht werden. Selbst die relativ gut instandgehal­tene Straße, auf der wir uns der Stadt nähern, ist an einzelnen Stellen abgerutscht. Zum Glück für die Logistiker der Regierung und der UN hat der Regen tags zuvor aufgehört. So konnten etwa 400 000 der 522 000 Wahlberechtigten die rund 700 Wahllokale erreichen, die sich in schwer zugänglichen Gebieten der Insel befinden. Nach Angaben der Wahlkommission betrug die Beteiligung 80,5 Pro­zent.

In Viqueque ist es meinem Kollegen Ron gelungen, zwei Zimmer zu organisieren. »Zuerst wollten sie, dass wir uns ein Zimmer teilen – mit nur einem Moskitonetz. Aber für fünf Dollar wäre das doch etwas dürftig.« Während der Wahlen fehlt es in ganz Osttimor an Unterkünften. Zu viele malais. »Wahlen sind gut fürs Geschäft. Schade, dass es nur alle fünf Jahre welche gibt«, lacht der Besitzer von unserem Guesthouse, ein älterer Mann mit leicht bitterem Humor. Wie viele Timoresen arrangierte er sich mit den indonesischen Besatzern und musste nach der Befreiung dafür bezahlen. »Ich bin nach Kupang geflohen, doch nach einem Monat bin ich zurückgekehrt«, erzählt er. »Macht mit mir, was ihr wollt, habe ich gesagt. Ich gehe nicht weg.«

Vor dem Wahllokal in Caraubalu, einem Stadtteil im Norden von Viqueque, hat sich bereits am frühen Morgen des Wahltags eine längere Schlan­ge gebildet. Rund 50 Menschen warten geduldig im matschigen Hof des halb verfallenen Schulgebäudes. Bis auf ein paar Bänke sind die kahlen Räume leer. Im Wahllokal trifft das fünfköpfige Team des Technischen Sekretariats (Stae) die letz­ten Vorbereitungen. »Könnt ihr alle sehen? Leer, nichts drin.« Der Vorsitzende schließt die Wahlurne und verliest die Zifferncodes der Siegel. Um punkt Sieben werden die Türen geöffnet.

Der Wahlvorgang selbst ist ein fein abgestim­m­ter Prozess. Ein Türsteher kontrolliert die Warteschlange und lässt schwangere Frauen und Eltern mit kleinen Kindern vor. Auch ältere Menschen, die in Osttimor großen Respekt genießen, werden bevorzugt behandelt. Nach der Ausweiskon­trolle wird den Wählern ein meterlanger Wahlzettel ausgehändigt, auf dem die Namen und die farbigen Symbole der Parteien eingetragen sind. Die Wahlkabinen bestehen lediglich aus Wandschirmen aus Pappkarton. Nachdem der mehrfach gefaltete Zettel in der Urne verschwunden ist, wird der Zeigefinger der rechten Hand in einen Becher mit wasserresistenter Tinte getunkt. Wer nicht warten will, bis die Farbe ganz trocken ist, streift einen Teil davon an der Wand ab. Allmählich entsteht an ihr ein komplexes Graffito.

Unter den Wahlbeobachtern befinden sich auch zwei Studentinnen der Nationalen Universität in Dili, ein sehr ernster Vertreter der Komeg, einer Vereinigung lokaler NGO, sowie mehrere Partei­agenten, so genannte fiscais. Man beobachtet sich zunächst gegenseitig: Die Ausweise werden gründ­lich begutachtet. Später wird versucht, bei Be­obachtungen »erster Stufe« zu bleiben und sich auf die Interaktion zwischen den Wählern und den Mitarbeiter des Stae zu konzentrieren.

»Müssen die Wahlen annulliert werden?« Ron sieht amüsiert auf die detaillierte Checkliste, die abzuarbeiten ist. Bis auf ein paar Kleinigkeiten, wie falsch eingefärbte Finger und übermotivierte fiscais, die die Vorgänge ein wenig zu laut kommentieren, gibt es nichts zu beanstanden. Als neugierige Kinder durch die Fenster hinter den Wahlkabinen lugen, vermuten die Anwesenden einen schwerwiegenden Vorfall. Die Kinder werden von einem Kollegen der Komeg weggescheucht, der damit allerdings eindeutig die Befugnisse des passiven Beobachters überschreitet. Ich notiere das und lasse die Studentinnen bei mir abschreiben. Langsam wird es Zeit, den Ort zu wechseln.

In Bahalarauain, einem Dorf mit ein paar hundert Einwohnern, ist das Wahllokal in einer nach den Seiten hin offenen Kirche untergebracht. Nur die Wahlkabinen sind mit einem Sichtschutz aus Palmblättern abgeschirmt. Rund um die Kirche stehen Einwohner, vor allem Kinder, um sich die Wahlen und die malais anzusehen. Ältere Männer und Frauen in traditioneller Kleidung, bunten rockartigen Tais, bewegen sich langsam und etwas unsicher im Raum, auf der immergleichen Linie zwischen Eingang, Wahlkabine und Urne. Die Beobachtung gerät zur Meditation.

In Luca, Uma Tolu und Uma Uain Craic bietet sich ein ähnliches Bild. Die Wahlen verlaufen friedlich und nach Plan. Nur in Uma Tolu muss das Wahlbüro kurzfristig geschlossen werden, als die Stimmzettel ausgehen. Ein UN-Jeep bringt rasch Nachschub.

Bereits am frühen Nachmittag erscheinen nur noch einzelne Wähler in den Wahllokalen. Im südlichen Viertel von Viqueque ist in den letzten zwei Stunden des Wahltags alle Anspannung längst einer ansteckenden Müdigkeit gewichen. Die fiscais rivalisierender Parteien scherzen untereinander. Die Beobachter gähnen einander an. Ein Mitarbeiter der Stae hat seinen Kopf auf die Bank gelegt und döst. Da einige Urnen aus schwer zugänglichen Dörfern auf sich warten lassen, wird die Auszählung erst am nächsten Morgen beginnen. Die verbleibende Zeit verbringen wir mit unserem Team, das aus Wahlbeobachtern und Übersetzern besteht.

Helena, eine junge Übersetzerin, lädt uns zu ihrer Familie ein. »Habt ihr gar keine Fotos von euren Familien dabei?« wundert sie sich, als sie zwei schwere Fotoalben anschleppt. Auf einigen Fotos sind Männer in der Uniform der Befreiungs­armee Falintil zu sehen. »Der hier ist mein Onkel. Die Indonesier haben ihn getötet. Nicht weit weg von hier, bei einem Schusswechsel in den Bergen.« Wer hier aufgewachsen ist wie Helena, hat Mühe zu verstehen, warum Ausländer hierherkommen. »Wieso bleibt ihr nicht in Australien? Es ist nicht gut hier. La diak. Zu viel Gewalt. Abends trinken die Männer, und dann gehen sie aufeinander los.«

Zärtlichkeit und Gewalt stehen in der timoresischen Gesellschaft in einem sehr eigenartigen Spannungsverhältnis. Timoresen haben eine sehr sanfte Art, einem die Hand zu reichen. Ganz ohne Druck legt man die Hände ineinander und spielt ein wenig mit den Fingern, während man miteinander spricht. Erst beim Abschied lässt man die Hände langsam auseinandergleiten. Es fällt schwer zu glauben, dass einige der Jugend­lichen in Dili, die einen lächelnd grüßen, sich nachts mit Steinen und rama ambongs – kurzen Pfeilen aus Stahl – bekämpfen.

Ihren bisherigen Höhepunkt erreichte die Gewalt in den Straßen der Hauptstadt im April vergangenen Jahres, nachdem die Regierung beschlossen hatte, rund 600 Soldaten, ein Drittel des gesamten Heeres, zu entlassen. Am Rande einer Demonstration gegen diese Maßnahme in Dili zogen damals mit Macheten und Steinen bewaffnete jugendliche Banden randalierend durch die Straßen, demolierten Autos und Gebäude und setzten zahlreiche Märkte in Brand.

Dass timoresische Jugendlichen mittels Gewalt ihrem Frust über Arbeitslosigkeit und fehlende Perspektiven freien Lauf lassen, ist ein Phänomen, dass seit der Unabhängigkeit immer stärker geworden ist. In der Hauptstadt sammeln sich in so genannten martial arts gangs – Kampfsportbanden – arbeitslose Jugendliche, ehemalige Unabhängigkeitskämpfer sowie enttäuschte Bauern. Die Rivalität zwischen den Gruppierungen wird nicht selten politisch gesteuert, da zahlreiche dieser Gangs sich inoffi­ziell einigen Parteien angeschlossen haben und von diesen zum Teil als Schlägertrupps benutzt werden, um politische Gegner einzuschüch­tern. Die unter anderem auch politisch begründete Rivalität zwischen den Gruppen eskaliert immer wieder zu Straßenkämpfen, hauptsächlich in Dili, aber auch in anderen Städten und Dörfern sind einige Gebiete nach Einbruch der Dunkelheit zu No-Go-Areas geworden.

Bei den Präsidentschaftswahlen im April war von der Gewalt des vergangenen Jahres nichts zu spüren.

Am Tag nach der Parlamentswahl begann die Auszählung, die mehrere Tage dauerte. Im Wahl­lokal in Caraubalu sind die Wahlbeobachter bereits an der Arbeit. Vor den Fenstern des geschlossenen Wahllokals stehen die fiscais Schulter an Schulter und notieren jede Stimme, die innen ausgerufen wird. Journalisten beobachten die Beobachter. UN-Polizisten beobachten Journalisten.

Die Auszählung ist noch nicht abgeschlossen, doch bereits einen Tag nach der Wahl ist der Trend in Viqueque klar. Fretilin steuert in der Stadt auf 60 Prozent zu, der CNRT folgt abgeschlagen mit 13 Prozent. Dass das Endergebnis ganz anders aussehen würde, war angesichts der Stimmenverteilung in Viqueque zunächst kaum vorstellbar. Dennoch fällt es auf, dass am Tag nach der Wahl niemand in der Stadt feiert. Nur eine Hand voll Fretilin-Anhänger kurven mit einem Lastwagen durch Viqueques Straßen. »Lu-Olo! Lu-Olo!« skandieren sie den Namen ihres Spitzenkandidaten. Auch fünf Tage später, als das nationale Wahlergebnis verkündet wird, reagieren die Anhänger der Parteien verhalten. Nichts ist entschieden, niemand hat gewonnen, etliche Koalitionen sind möglich.

Fest steht aber, dass die Verluste bei der Par­lamentswahl für die Fretilin die zweite große Niederlage innerhalb weniger Monate darstellen. Wie die weiterhin mitgliederstärkste und am besten organisierte Partei im Lande auf diesen Rückschlag reagieren wird, ist noch unklar. Die meisten Timoresen scheinen angesichts der anhaltenden wirtschaftlichen Misere, der Korruption und Misswirtschaft, die im Land herrschen, das Vertrauen in die »Partei des Unabhängigkeitskampfes« verloren zu haben. Aber auch für den CNRT war das Wahlergebnis enttäuschend, was als Zeichen dafür zu deuten ist, dass der ehe­malige Nationalheld und Staatspräsident Gusmão an Ausstrahlungskraft verloren hat. Eine wichtige Rolle bei der bevorstehenden Koalitionsbildung werden nun die kleineren Parteien spielen, die mehr als drei Prozent der Stimmen bekamen. Ob sich eine starke Opposition positiv auf die Regierungsarbeit auswirken wird, bleibt zunächst offen.